eJournals lendemains 34/134-135

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Narr Verlag Tübingen
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2009
34134-135

B. Hurch (ed.): Leo Spitzers Briefe an Hugo Schuchardt

2009
Johannes Klare
ldm34134-1350301
301 BERNHARD HURCH (ED.): LEO SPITZERS BRIEFE AN HUGO SCHUCHARDT. HE- RAUSGEGEBEN UND EINGELEITET VON BERNHARD HURCH. UNTER EDITORI- SCHER MITARBEIT VON NIKLAS BENDER UND ANNEMARIE MÜLLNER. BER- LIN/ NEW YORK: WALTER DE GRUYTER, 2006. LI + 432 S. Der hier anzuzeigende Band der Korrespondenz zwischen Leo Spitzer und Hugo Schuchardt wurde herausgegeben von Bernhard Hurch, seit 1994 Professor für Allgemeine und Angewandte Sprachwissenschaft und zugleich ausgewiesener Romanist, Baskologe und Wilhelm von Humboldt-Spezialist an der Universität Graz, der einstigen langjährigen Wirkungsstätte Schuchardts. Der Briefedition vorangestellt ist eine gewichtige Einleitung (S. VII bis L) des Herausgebers, die ganz am Rande auch eine Kontroverse berührt, die Hurch im Jahre 2006 mit Hans-Ulrich Gumbrecht (Stanford) in den Romanischen Forschungen anlässlich des 2001 bei Narr in Tübingen erschienenen Buches von Gumbrecht „Leo Spitzers Stil“ mit einem Besprechungsartikel begonnen hatte.1 Leo Spitzer ist eine der Koryphäen der romanistischen Sprach- und Literaturwissenschaft des 20. Jahrhunderts. Einer begüterten Wiener jüdischen Familie entstammend - sein Geburtsdatum ist der 7. November 1887 -, studierte Spitzer nach dem Abitur Romanistik an der Wiener Universität bei dem Schweizer Wilhelm Meyer-Lübke (1861-1936). Dieser war von 1890 bis 1915 Ordinarius in Wien und dann, bis zu seiner Emeritierung, in Bonn; er gilt als der letzte große Vertreter der junggrammatischen Schule innerhalb der Romanistik. Der junge, sein wissenschaftliches Profil suchende Privatdozent Spitzer wandte sich 1912 erstmals, anlässlich des 70. Geburtstages von Hugo Schuchardt (1842-1927), brieflich an diesen bedeutenden Fachvertreter der allgemeinen, der romanistischen, der baskologischen und der kreolistischen Sprachwissenschaft in Graz. In Gotha, seiner Heimatstadt, hatte Schuchardt das Abitur abgelegt und in Jena das Studium der Rechte und dann der Philologie begonnen und in Bonn fortgesetzt; 1864 erfolgte die Promotion bei Friedrich Diez (1794-1876), dem Begründer der Romanischen Philologie. Sechs Jahre später habilitierte sich Schuchardt in Leipzig und lehrte dann ab 1873 nur drei Jahre als o. Professor in Halle/ Saale; 1876 folgte er dem Ruf nach Graz auf eine o. Professur für Romanische Philologie. Dort wirkte Schuchardt bis zu seinem Lebensende. Schon im Jahre 1900 war er mit 58 Jahren krankheitshalber in den Ruhestand getreten. Nahezu 800 wissenschaftliche Veröffentlichungen Schuchardts liegen vor. Der Briefwechsel zwischen dem jungen Spitzer und dem schon betagten Schuchardt währte kaum 15 Jahre, von 1912 bis 1927, dem Todesjahr Hugo Schuchardts. Spitzers Briefe geben deshalb nur einen relativ kleinen Ausschnitt aus dem bewegten privaten und wissenschaftlichen Leben, das nach der Privatdozentur in Wien ab 1918 nach Bonn, ab 1925 auf die erste Professur nach Marburg und ab 1930 nach Köln führte. Für drei Jahre lehrte der zur Emigration Gezwungene ab 1933 an der Universität in Istanbul. Im Jahre 1936 übernahm Spitzer schließlich bis zu seiner Emeritierung (1956) eine o. Professur an der Johns Hopkins University in Baltimore. Spitzers umfangreiches romanistisches Lebenswerk, das Sprach- und Literaturwissenschaft gleichermaßen umfasst, wurde mit nahezu eintausend Einträgen erst 1991 von Kristina E. Baer und Daisy E. Shenholm - wenn auch nicht vollständig - bibliographisch erfasst.2 302 Die übergroße Mehrzahl der von Bernhard Hurch edierten 440 Schriftstücke stammt von Leo Spitzer; nur ganz wenige Fragmente der Briefe von Schuchardt an Spitzer sind erhalten und hier publiziert. Dennoch ist Schuchardt - der „Verehrte Herr Hofrat“ - in nahezu allen Briefen Spitzers indirekt voll präsent. Der Beginn des 20. Jahrhunderts ist in Bezug auf die allgemeine wie für die romanistische Sprachwissenschaft eine Periode des massiven theoretischen, methodologischen und methodischen Umbruchs, der schon Ende des 19. Jahrhunderts eingeleitet worden war. Der Briefwechsel Spitzer/ Schuchardt vermittelt einen Einblick in die Art und Weise, wie beide Forscherpersönlichkeiten von diesem wissenschaftlichen Paradigmenwechsel betroffen worden sind. Und dies nicht allein im nur-wissenschaftlichen Raum, sondern im Kontext der historischen, politischen und soziokulturellen Ereignisse dieser Umbruchzeit, die durch Militarismus und Pazifismus, durch Imperialismus und Ersten Weltkrieg, durch wachsenden Nationalismus und Chauvinismus, durch Antisemitismus und Rassismus, durch aufkommenden Faschismus und Nationalsozialismus bestimmt sind. Dies alles schlägt sich nicht zuletzt nieder auf das private und wissenschaftliche Leben, auf die Atmosphäre, auf die Personalaffairen, auf Gunst und Missgunst, ja Feindschaften und „schäbigen Ellbogen-Egoismus“ (Brief vom 1.12.1916) auch an den österreichischen, deutschen und französischen Universitäten, die für Spitzer zudem alle dringend der „Demokratisierung“ (ebenda) und Reformierung bedürfen. Leo Spitzer ist in Wien bei Meyer-Lübke vorwiegend im junggrammatischen Geiste ausgebildet, promoviert und habilitiert worden; dies hat seine „wissenschaftl. Kinderjahre“ (27.9.1923) bestimmt; und bei Schuchardt hat er sich sogar eingeführt als „Schüler M-L’s“ (14.1.1918), obwohl er die Reserven des Grazer Altmeisters gegenüber dem Wiener und dann Bonner Ordinarius kannte. Aber unter dem starken Eindruck von Schuchardts Schriften hat sich Spitzer dann immer mehr von „M-L“ abgewandt; hinzu kam der wachsende Einfluss der Münchener Schule Karl Vosslers (1872-1949) und damit der „Idealistischen“ Sprachwissenschaft auf das sprachwissenschaftliche und ästhetische Denken Leo Spitzers, wenn auch Spitzer gegen die Vereinnahmung durch jedwede Schule stets immun gewesen ist. Auch deshalb blieb seine Haltung zu Vossler und dessen Schüler, vor allem zu Eugen Lerch (1888-1952) und Helmut Hatzfeld (1892-1949), immer zwiespältig, wie viele Briefe ausweisen, trotz der Hochachtung, die er gegenüber Vossler selbst immer wieder geäußert hat, bei allen Vorurteilen gegenüber Eugen Lerch und anderen der „Vossler-Clique“ (1922, 238 f). Grundlegend für Spitzers eigene Sprachauffassung wurde Schuchardts kaum 38 Seiten umfassende Schrift „Über die Lautgesetze: Gegen die Junggrammatiker“, die schon 1885 in Berlin erschienen war. Schuchardt hatte einen zentralen Begriff der Junggrammatiker frontal angegriffen und die Sprachwissenschaft in einer Grundfrage aus der Umklammerung durch die Naturwissenschaften befreit. In der Sprache wirken eben nicht mechanisch ausnahmslose Lautgesetze hinter dem Rücken der sprechenden Menschen, die unter gesellschaftlich-sozialen Bedingungen ihr Leben gestalten müssen. Schuchardt hatte in einem seiner Brieffragmente an Spitzer vom 5.5.1924 klipp und klar formuliert: „Die Lautgesetze und der soziale Charakter der Sprache lassen sich nicht mit einander vereinigen“. Spitzers kritischer Blick erkennt letztlich die positive Rolle, die die aufkommende Sprachgeographie mit den Sprachatlanten als Forschungsinstrument auch in den Auseinandersetzungen mit dem Positivismus und den 303 Junggrammatikern zu spielen vermochte. Die Leistungen von Jules Gilliéron (1854- 1926), von Karl Jaberg (1877-1958) und Jakob Jud (1882-1952) werden reflektiert. Im engen Zusammenhang mit der Entwicklung der Sprachgeographie und der Wortgeschichtsforschung stand zudem die Herausarbeitung einer neuen Forschungsmethode, die mit Hugo Schuchardt und dem seit 1899 ebenfalls in Graz wirkenden Indogermanisten Rudolf Meringer (1859-1931) eng verbunden war. Es handelt sich um die Methode „Sachen und Wörter“ - so benannte sie Schuchardt - bzw. „Wörter und Sachen“, die beide Linguisten letztlich initiiert haben, trotz lebenslanger scharfer Kontroversen zwischen den beiden streitbaren Grazer Ordinarien. Auch Spitzer gilt bei Kollegen als „streitsüchtig“ (23.8.1919); diese „Streitsüchtigkeit“ hat er nicht nur in der etymologischen Forschung, sondern auch auf dem Gebiet der Grammatik und Syntax der romanischen Sprachen in seinen Briefen ebenfalls unter Beweis gestellt. Weitgehend negativ beurteilt der junge Spitzer den Beitrag der Berliner „Tobler-Schule“ (17.9.1917). Negativ fällt auch das Urteil gegen seinen Wiener Kollegen Karl v. Ettmayer (1876-1938) aus (7.3.1920). Manches erscheint dabei ungerecht, so die Kritik an Eugen Lerchs Arbeiten zu den französischen Modi; zu Recht wird dagegen Lerchs Monographie von 1919 über das romanische imperativische Futurum (Heischefuturum), deren zweiter Teil bösartige gegen Frankreich gerichtete völkerpsychologische Rückschlüsse zieht, auch von Spitzer scharf angegriffen. Die Spannungen zwischen Lerch und Spitzer sind nie ganz abgebaut worden. Ein für die onomasiologische Betrachtung der Syntax zentrales Grundlagenwerk, nämlich Ferdinand Brunots (1860-1938) „La Pensée et la Langue“ (Paris 1922), hat der junge Spitzer mit dem abwertenden Urteil „Ein Riesenrahmen ohne Inhalt“ (20.9.1922) ganz sicher falsch eingeschätzt. Ein anderer Linguist, der die Sprachwissenschaft des gesamten 20. Jahrhunderts revolutioniert hat, wird von dem jungen Spitzer erstaunlicherweise nur am Rande erwähnt. Saussures (1857-1913) epochale Bedeutung ist ihm 1917 noch nicht einsichtig. Zu dessen „Cours de linguistique générale“ von 1916 notiert er lediglich.“ „Ein Saussure mag fehlerhaft gedacht sein - er ist eben da, um von Schuchardt verbessert zu werden“ (10.3.1917). Längere Zeit wird der Inhalt von Briefen Spitzers an Schuchardt durch seine Vorbereitung der Herausgabe des „Hugo Schuchardt-Brevier. Ein Vademecum der allgemeinen Sprachwissenschaft“ bestimmt, das zu Ehren des 80. Geburtstages des Meisters dann 1922 in Halle in erster Auflage erschien. Auffällig ist auch, dass die Problematik der (literarischen) Stilistik im Briefwechsel nur am Rande aufgeworfen worden ist. Spitzer hat wesentliche Anregungen zur Entwicklung und Etablierung seiner eigenen Stilauffassung zweifellos von Karl Vossler, aber auch von Benedetto Croces (1866-1952) Ästhetik erhalten. Diese Ansätze hat er systematisch in stilistischen Analysen literarischer Texte in seinen meisterhaften Stilstudien, die alle erst nach Schuchardts Tod publiziert worden sind, ausgebaut. * Mit vollem Recht überschreibt Bernhard Hurch ein Hauptstück seiner Einführung mit „Der politische Spitzer“ (XXII-XXIX). Leo Spitzer war von seiner Jugend an ein politisch denkender und handelnder Mensch. Der gesamte Briefwechsel Spitzer/ Schuchardt, der die Jahre vor, während und nach dem Ersten Weltkrieg zeitlich umspannt, ist in der Tat „ein nachdrücklicher Beweis für Spitzers politisches Denken“ (Hurch, 304 XXIV). Und dieses Denken ist eindeutig links orientiert: Spitzer war von Anfang an ein scharfer Gegner dieses Krieges. Er kämpfte an gegen kriegslüsterne rechtsextreme Ideologen wie den deutschen rassistischen Literaten englischer Herkunft Houston Stewart Chamberlain (1855-1927), dessen Kriegsaufsätze Spitzer in seinem „Anti-Chamberlain“ (Leipzig 1918) massiv angegriffen hat. Ab Ende des Jahres 1915 hatte Spitzer den Weltkrieg nicht an der Front, sondern eher in der Etappe in Wien als Zensor der Briefe italienischer Kriegsgefangener erlebt. Aus dieser Tätigkeit sind bekanntlich zwischen 1921 und 1922 bedeutende Monographien hervorgegangen, die die Untersuchung der italienischen Umgangssprache ungemein befruchtet, ja initiiert haben, was wissenschaftsgeschichtlich bis heute noch nicht genügend gewürdigt worden ist. Die Briefe reflektieren deutlich das Entstehen und Werden dieser Monographien. Wenig Verständnis hat Spitzer bezeichnenderweise für den um 1919 in Deutschland immer stärker werdenden „Kulturrummel“ (26.6.1919) im Rahmen der sogenannten kulturkundlichen Bewegung, die sich bald als ein Irrweg deutscher Philologen erwiesen hat und in die chauvinistische nationalsozialistische ‘Wesenskunde’ eingemündet ist. * Nach 1945 erfolgte von deutscher Seite keine echte Wiedergutmachung des von Spitzer erfahrenen schweren Unrechts. Auch eine „deutsche Spitzer-Rezeption im engeren Sinne hat es nach dem Krieg nicht gegeben“, stellt Hurch Seite XXXVII fest, und sie steht bis heute noch immer weitgehend aus. Nicht Deutschland, sondern Italien wurde zu Spitzers bevorzugter Heimstatt, hier verbrachte er einen größeren Teil seiner letzten Lebensjahre und hier, in Forte dei Marmi, ist er auch am 16. September 1960 gestorben. Er, der wie kein anderer Romanist nach Hugo Schuchardt und Max Leopold Wagner (1880-1962) so erstaunlich viele Sprachen beherrschte und forschend durchdrungen hat. Mit der außerordentlich verdienstvollen Herausgabe der Briefe Leo Spitzers an Hugo Schuchardt und seinen vor allem dem Menschen und der komplexen Forscherpersönlichkeit Spitzers in hohem Maße gerecht werdenden Einführung hat Bernhard Hurch der weiteren kritischen Aufarbeitung der Vita eines großen Romanisten und zugleich der Geschichte der romanistischen Sprach- und Literaturwissenschaft und benachbarter Fachgebiete in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wertvolle Impulse vermittelt. Johannes Klare (Berlin) Corrigenda: S. X: im Italienischen; S. XXII: revolutionär; S. 19: beachtlich; S. 124: Frage; S. 126: ou (statt on); S. 208: Petrarca; S. 211: Ausschluß; S. 225 n. 447: Philologie; S. 256: Delvau; veine ...ou; S. 257: Gilliéron; S. 274 n. 515: Adolf (statt Alfred); S. 276 n. 517: Language; S. 392: amertume; S. 410: Etymologisches; S. 412: Cornu (statt Corun); S. 414: de Machaut. 1 RF 118, 3, 2006, 341-355; daselbst 356-358 die Entgegnung Gumbrechts „Inkommensurabel. Ein Brief an Bernhard Hurch.“ 2 Kristina E. Baer/ Daisy E. Shenholm (eds.): Leo Spitzer on Language and Literature. New York: Modern Language Association of America, 1991.