eJournals lendemains 34/134-135

lendemains
0170-3803
2941-0843
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/
2009
34134-135

C. Daudin: Dieu a-t-il besoin de l’écrivain? Péguy, Bernanos, Mauriac

2009
Brigitte Sändig
ldm34134-1350295
295 Den Band beschließt ein höchst informativer Anhang mit einem von Michèle Touret zusammengestellten Pressedossier zu Moravagine sowie fünf bislang unveröffentlichter Fragmente des gleichen Romans. Die vorliegenden, im ‘Zeichen Moravagines’ stehenden Untersuchungen erwiesen sich als interessant und lehrreich zugleich, wobei die im Rahmen von Sammelbänden nicht immer erzielte relative Ausgeglichenheit der drei thematischen Teilbereiche positiv zu werten ist. Für Cendrarsspezialisten ein must, vermag der Band auch jedem anderen Leser erkenntnisreiche und grundlegende Darstellungen zu Cendrars’ nach wie vor enigmaschem Hybridroman Moravagine zu liefern. Und so versichern die Herausgeber zu Recht: „Quatre-vingts ans après sa parution, lire Moravagine reste une aventure dont - heureusement - aucun lecteur n’est assuré de sortir indemne.“ (11) Beate Ochsner (Konstanz) CLAIRE DAUDIN: DIEU A-T-IL BESOIN DE L’ECRIVAIN? PEGUY, BERNANOS, MAURIAC, PARIS, EDITIONS DU CERF, 2006. 225 S. Den Titel des Buches bildet die Frage (die übrigens von Mauriac formuliert wurde) nach der Notwendigkeit des Schriftstellers für Gott. Hans Jonas stellt in Das Prinzip Verantwortung die Frage anders herum, d.h. nicht vom Transzendentalen, sondern vom Realen ausgehend: „Es ist die Frage, ob wir ohne die Wiederherstellung der Kategorie des Heiligen [...] eine Ethik haben können, die die extremen Kräfte zügeln kann, die wir heute besitzen [...]“.1 Offenkundig haben diese beiden Fragen etwas miteinander zu tun. Die Notwendigkeit einer ethischen Verfassung und Ausrichtung unseres Lebens wird von den wachen Geistern allenthalben verspürt, doch die Orientierungspunkte dafür sind zunehmend abhanden gekommen - den vorerst letzten starken Schub bildete in diesem Verlust-Verlauf die Postmoderne. Wenngleich die drei genannten Autoren im wesentlichen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gelebt und geschrieben haben, so war das Problem des Sinnverlusts in der Moderne doch schon ganz und gar das ihre. Sie alle drei haben die „Kategorie des Heiligen“ aus freiem Entschluss, auf der Höhe intellektueller Erfassung der Lage, als Orientierungslinie angenommen. So ist ihnen gemeinsam, dass sie Gott nötig hatten - und dass sie damit wiederum auch das Sinnhafte ihrer intellektuellen und schriftstellerischen Arbeit erkennen und unter Beweis stellen konnten. Claire Daudin, Verfn. der vorliegenden Studie, die bereits bemerkenswerte Arbeiten zu Péguy und Bernanos vorgelegt hat,2 schließt Péguy, Bernanos und Mauriac also zu Recht als Autoren christlichen Bekenntnisses - und daraus folgender Übereinstim- 1 Hans Jonas: Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Frankfurt, Suhrkamp, 1984, 57. 2 S. Claire Daudin: De la situation faite à l’écrivain dans le monde moderne. Charles Péguy, Georges Bernanos, Thèse, Université de Paris X, Nanterre, 1995; dies.: Georges Bernanos: Une parole libre, Paris, Desclée de Brouwer, 1998. 296 mungen - zusammen; gemeinsam sei den drei Autoren auch ihr unorthodoxes Christentum, d.h., dass sie an Gott glauben und diesen Glauben bekennen, der Institution Kirche aber kritisch gegenüberstehen (und dies ebenfalls deutlich zum Ausdruck bringen); insofern seien sie nicht dem Renouveau catholique zuzurechnen. Eine wesentliche gemeinsame Eigenheit Péguys, Bernanos’ und Mauriacs sei auch folgende: Die Literatur, das Schreiben sei für sie kein vom Leben abgetrennter oder ihm gar übergeordneter Bereich des Ästhetischen, sondern eine Äußerungsform des Lebens wie jede andere; da ihre Existenz von Aufrichtigkeit und Ernst geprägt sei, stünden sie auch für das Geschriebene restlos mit ihrer Person ein. Entsprechend wählten sie, ohne Rücksicht auf Genregrenzen, die Ausdrucksform, die ihrem Ausdrucksdrang oder -zwang entgegenkommt; die Verfn. spricht von dieser gemeinsamen Qualität der drei Autoren sehr plastisch so: „Aucun de ces trois auteurs ne se retranche derrière les mots; ils revendiquent leurs propos en prenant tous les risques; la fiction ne leur sert jamais de paravent; [...] Tous trois expérimentent en marge des genres consacrés un mode d’écriture en quête de transparence et de sincérité […]“ (70). In den drei Teilen der Studie mit den Überschriften „L’idole rachetée“, „Dans le monde“ und „La littérature, voie de sainteté? “ behandelt die Verfn., obwohl eine Trennung dieser Bereiche bei der kohärenten Persönlichkeitsverfassung der Autoren fast unmöglich ist, erstens die Wahl ihrer im Schreiben anvisierten Ideale (Christentum, Sozialismus, Kunst), zweitens ihren politisch-ideologischen Weg und drittens die Frage der literarischen Darstellbarkeit ihres menschlichen Ideals, des Heiligen; damit zeichnet sie auch einen chronologischen Verlauf im Denken und Schreiben der Autoren nach. Péguy und Bernanos sind, wie in manch anderer Hinsicht auch, im Gehalt ihrer Ideale nicht weit voneinander entfernt: Für Péguy bildeten anfangs Schreiben und politische Aktion eine Einheit, während Bernanos auf den ethisch-sinnstiftenden Gehalt des Schreibens insistierte; auf jeden Fall sind beide weit davon entfernt, literarische Tätigkeit als Selbstzweck zu setzen. Mauriac, als von Anfang an stark und erfolgreich integrierter Autor, betrachtet die literarische Karriere allerdings als einen Wert an sich; dabei quält ihn die Frage, ob seine Familiengeschichten voll Sünde und Perversion mit dem christlichen Bekenntnis vereinbar sind. Die drei Autoren, deren Geburtsdaten nur um fünfzehn Jahre differieren, die jedoch zu ganz unterschiedlichem Zeitpunkt den Tod fanden (Péguy im 1. Weltkrieg, Bernanos 1948, Mauriac 1970) waren sämtlich Zeitgenossen schwerwiegender politischer Ereignisse, in denen sie Partei bezogen; dabei zögerten sie notfalls nicht, aus Treue zu ihren politisch-moralischen Idealen ihre jeweilige Anhängerschaft zu verprellen. Die Verfn. zeichnet diesen Weg nach und widmet sich dabei besonders dem Verhältnis der Autoren zum Anderen, zum Mitmenschen. Péguy boten die Cahiers de la quinzaine die Chance, ihm wichtige politische Themen (Schulunterricht; Kinderarbeit; Kolonialismus; Schicksal der Juden; die emanzipatorische Rolle Frankreichs) auf seine Weise zu behandeln, nämlich in Entgegensetzung zur politischen Praxis, ausgerichtet an einer Utopie. Den Mitmenschen möchte Péguy dabei als Weggefährten, als Bruder im Geiste gewinnen. Bernanos sieht die Gründe für die konstatierte Selbstzerstörung der modernen Welt darin, dass der Mensch den Bezug zu Gott und zu seiner eigenen Geistigkeit verloren habe. Gegen diesen Verlust kämpft er an, bei schwinden- 297 der Hoffnung und in schließlicher Verzweiflung. In Hinblick auf den Mitmenschen, den Adressaten der Polemik, wird festgestellt, dass bei Bernanos zwar ein starkes Kontaktbedürfnis vorhanden sei, dieses sich aber an seiner polemisch-schroffen Diktion breche. Mauriac, der sich durch den 2. Weltkrieg vom Konservativen zum Widerständler gemausert hat, habe im Zuge dessen auch eine andere Auffassung vom „Bösen“ gewonnen: Nicht mehr private sexuelle Verfehlungen, sondern soziale Ungerechtigkeiten faszinierten ihn jetzt; besonders in seiner nunmehrigen journalistischen Praxis verteidigte er im Prozess der Dekolonisation den Anderen, d.h. den Kolonisierten. Der gemeinsame christliche Glaube lasse, so die Verfn. im dritten Teil der Arbeit, Péguy, Bernanos und auch Mauriac um die Gestalt und die Gestaltung des Heiligen oder des Gerechten ringen, da in diesen Figuren ja ein Heilsversprechen liege; gerade diese Eigenschaft aber mache die literarische Gestaltung schwer bis zur Unmöglichkeit. Péguy orientiere sich in einigen Texten an der Gestalt Jesus Christus’, finde dabei zur Einheit mit sich selbst und gelange bei der schriftstellerischen Suche nach Wahrheit und Sinn zu Erlebnissen der Offenbarung und Schöpfung durch das Wort. Bernanos habe aus einer traumgesättigten Vorstellungswelt heraus leibhaftige Heiligengestalten zu schaffen versucht, die als „les plus humains des humains“3 zwischen grâce und péché stehen, in die er also seine eigene Zerrissenheit eingeschrieben habe; während sich in der „rhétorique du désespoir“ seiner nicht-fiktionalen Texte zunehmende Verzweiflung an der Entmenschlichung des Menschen äußere, halte er mittels einer „poétique de la grâce“ seiner fiktiven Texte an einem Begriff von Heiligkeit fest, die nichts anderes als die Wahrheit des von seinen Dämonen befreiten Menschen sei. Mauriac sehe im Schreiben vorerst eine mit dem Göttlichen oder Heiligen unvereinbare Aktivität, nähere sich später in seinen Nouveaux Mémoires Intérieures jedoch den Vorstellungen Péguys und Bernanos’ an: In Gott verehre er den Menschen, der zur Vorstellung Gottes fähig ist, und das Schreiben wird zum Ausdruck dieser Verehrung. In der Conclusion spricht die Verfn. vorerst von der gegenseitigen Wahrnehmung der drei Autoren: Persönlich seien sie sich nicht oder kaum begegnet, und nur Bernanos und Mauriac hatten ihren Lebensdaten nach Gelegenheit, vom Schaffen des anderen Kenntnis zu nehmen. Bernanos habe sich über die Sittenromane Mauriacs mokiert, da sich ihm die Frage nach Sünde und Gnade viel umfassender stellte; Mauriac hingegen habe in Péguy und Bernanos Vorbildgestalten gesehen. „La démarche de ce livre n’a rien d’objectif et ne se targue d’aucune exhaustivité. On ne lira pas une étude de plus sur l’engagement des écrivains catholiques […]“ (12), hatte Claire Daudin eingangs erklärt und mithin zum Ausdruck gebracht, was diese Studie nicht sein will. Durch den ganzen Text hindurch wurde ihre unverhohlene subjektive Intention deutlich: eine Reflexion anzustellen über Vereinbarkeit oder Konkurrenz oder gegenseitige Steigerungsmöglichkeit von écriture und foi. Die Verfn. optiert für das Letztere und fasst dies in dem Schlusssatz zusammen: „A travers la littérature, ils [Péguy, Bernanos, Mauriac] confèrent à leur christianisme le principe d’ouverture qui gît en toute poésie.“ (206) Brigitte Sändig (Potsdam) 3 Georges Bernanos, „Nos amis les saints“, in: ders.: Ecrits de combat, Bd 2, 1382.