eJournals lendemains 34/134-135

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Narr Verlag Tübingen
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2009
34134-135

M. von Koppenfels: Immune Erzähler

2009
Jörg Dünne
ldm34134-1350289
289 FLAUBERT IM LAGER. REZENSION ZU MARTIN VON KOPPENFELS: IMMUNE ERZÄHLER. FLAUBERT UND DIE AFFEKTPOLITIK DES MODERNEN ROMANS, MÜNCHEN, FINK 2004. 395 S. Martin von Koppenfels’ Studie Immune Erzähler, die aus einer Habilitationsschrift an der FU Berlin hervorgegangen ist, ist eine der bedeutendsten Monographien der letzten Jahre mit romanistischem Gegenstand. Unter Konzentration auf eine literaturtheoretische Leitfrage entfaltet sie einen literatur- und kulturgeschichtlichen Horizont, der deutlich über ‚rein’ romanistische Themen hinausreicht.1 Zwar sind Aristoteles’ Poetik und Shakespeares Tragödien, die Koppenfels zur kontrastiven Absteckung seines Untersuchungsrahmen heranzieht, sehr wohl auch vielen Romanisten ein Begriff, aber der Fluchtpunkt, auf den die Studie zuläuft, ist mit Imre Kertesz’ Roman eines Schicksallosen durchaus ungewöhnlich. Flaubert und die Konzentrationslager - um diese provokative Zusammenstellung sinnvoll begründen zu können, braucht man einen starken theoretischen Ansatzpunkt, den Martin von Koppenfels in dem gefunden hat, was er „Affektpolitik“ nennt. Was er mit seiner Studie unternimmt, ist nichts weniger als der Versuch einer Affektgeschichte der Moderne im Spiegel des Romans. Ausgangspunkt ist dabei ein Verständnis von Affekt, das sich aus den aristotelischen Begriffen Mimesis und Diegesis herleitet (vgl. v.a. 20-27): Während die Mimesis für Koppenfels die Einheit von Affekt und Ereignis bezeichnet, wie sie sich vor allem in der antiken Tragödie und erneut bei Shakespeare manifestiert, ruft die spezifische narrative Zeitlichkeit der Diegesis die Trennung von (erinnertem) Ereignis und Affekt hervor. Dies hat zur Folge - so die grundlegende, auf Freud und die neuere Trauma-Forschung gestützte Hypothese der Studie (vgl. v.a. 13f) -, dass Affekte im Roman in spezifischer Weise von ihrem Ursprung gelöst werden und nie direkt Eingang in die erzählte Geschichte Eingang finden, sich aber um so nachhaltiger indirekt, v.a. durch Wiederholungsstrukturen, in narrativen Texten Ausdruck verschaffen. Der moderne Roman seit Flaubert ist für diese Form der indirekten Affektübertragung nach Koppenfels besonders wichtig, weil er eine Form von Affektkontrolle hervorbringt, die auf einem „Gefühl der Gefühllosigkeit“ (11) basiert und sich unter Rückgriff auf die Medizingeschichte in Verbindung mit der Entwicklung der Immunologie seit dem 19. Jahrhundert bringen lässt. Flauberts auf Affektkontrolle zielenden „Phantasien der Immunität“ (vgl. v.a. 205-209) entfalten sich nach Koppenfels vor allem auf zwei Schauplätzen, denen die beiden zentralen Analysekapitel der Studie gewidmet sind: In Teil II versteht Koppenfels die Education sentimentale nicht nur als ironisierten Bildungsroman, bei dem die affektive Erziehung des Helden scheitert. Er sieht in ihr noch eine weitere, gelingende Affekterziehung am Werk, nämlich die des Lesers (111) zur Einnahme des „immunisierten“, ärztlichen Blicks Flauberts. So muss der Leser auf Handlungsebene auf einen klaren, kathartischen Schluss zugunsten einer ständigen Wiederkehr verpasster Momente des Gefühlsausdrucks verzichten. Die berühmte unpersönliche Erzählinstanz sowie der Stil tun ein Übriges, um jegliche Form mimetischen 1 Diese komparatistische Perspektive auf romanistische Texte zeichnete bereits von Koppenfels’ erste Monographie zu Federico García Lorca aus: Einführung in den Tod. García Lorcas New Yorker Dichtung und die Trauer der modernen Lyrik, Würzburg: Königshausen & Neumann 1998. 290 Ausagierens von Affekten zu unterbinden. In Teil III wird die Korrespondenz Flauberts, vor allem diejenige mit Louise Colet, untersucht. Sie liefert nach Koppenfels die Poetik zum in der Education sentimentale praktizierten Exorzismus der Empfindsamkeit - eine Poetik, die wie in originellen Lektüren nachgewiesen wird, vor allem um die Hand als ambivalentes Organ der Ansteckung sowie der Selbstimmunisierung kreist. Die weitere Affektgeschichte des modernen Romans liest Koppenfels in heuristisch ergiebiger Zuspitzung als eine Auseinandersetzung mit Flauberts literarischer Immunisierungstechnik. So stellt er in Teil IV drei Erzählmodelle aus dem 20. Jahrhundert vor, die das Flaubertsche Verdikt des mimetischen Gefühlausdrucks teilweise revidieren, ihm aber dennoch verhaftet bleiben: Während in dieser Trias die Ausführungen zu Proust als „Patient, der sich selbst behandelt“ (228) recht skizzenhaft bleiben, zeigen die Analysen zu Marguerite Duras als „absolute Patientin“ (ebd.) und vor allem die fulminanten Céline-Lektüren als „Arzt, der sich selbst infiziert“ (ebd.), wie die Arbeit am Flaubertschen Modell der Affektkontrolle im 20. Jahrhundert immer stärker politisiert wird. So versteht sich etwa Céline in wildem Protest gegen die Flaubertsche impassibilité als ein, allerdings immer noch medizinisch ermächtigtes, Sprachrohr einer biopolitischen Affektentladung, die Antisemitismus und die Poetik eines atemlosen Stils unlösbar miteinander verkoppelt. In Teil V unternimmt Koppenfels schließlich die hoch riskante, aber durchaus überzeugende Extrapolation seines an Flaubert entwickelten Modells der romanhaften Affektübertragung auf die Berichte ehemaliger KZ-Insassen, indem er Imre Kertesz’ Roman eines Schicksallosen als ein Beispiel von Zeugnisliteratur heranzieht, das durch die affektive Schule Flauberts hindurchgegangen ist: Die „Schicksallosigkeit“ wird dabei zur Chiffre der unmöglichen mimetischen Bewältigbarkeit der Lagererfahrung, der Entzug eines tragisch ausagierbaren Schicksals wird jedoch narrativ sichtbar gemacht (vgl. 360). Der Entzug des Tragischen zeigt sich nicht nur auf der Opfer-, sondern auch auf der Täterseite, wenn etwa Hannah Arendt den Glaskasten, in dem im Eichmann-Prozess der Angeklagte sitzt, als Metapher von dessen absoluter Immunität erkennbar macht, die sich mit einer Mauer aus Klischees umgibt und durch kein mimetisches Ausagieren von Häftlingsschicksalen erschüttert werden kann (vgl. 348). Besonders spannend sind Koppenfels’ Lektüren dadurch, dass sie sich den Affekten auf indirektem Weg, mittels einer Symptomatologie nähern, die die Psychoanalyse auf erzähltheoretischen Gebiet fortschreibt.2 Der Begründung dieser Neuperspektivierung dient Teil I von Koppenfels’ Studie, in dem er Sigmund Freuds verfehlte Begegnung mit den Affekten in aller Ausführlichkeit nachzeichnet und in dem er dafür plädiert, Freuds Interesse an Triebschicksalen auf „Affektschicksale“ (so auch die Überschrift dieses Teils) umzustellen. Durch diese Frageperspektive wird der Boden für die späteren Analyen bereitet, die den Gefühlsverweigerer Flaubert zum Begründer einer höchst folgenreichen Gefühllosigkeitskultur werden lassen, in der die Affektreserven der Moderne gerade im Roman sichtbar werden. So kühn und insgesamt überzeugend Koppenfels’ Fortschreibung der Psychoanalyse zu affekttheoretischen Zwecken auch ist, wirft sie dennoch einige Fragen auf: Wie 2 Der Begriff „Erzähltheorie“ (vgl. 25 u. passim), wie Koppenfels ihn verwendet, ist demnach nicht formalistisch an der Oberfläche der untersuchten Texte interessiert, sondern dezidiert hermeneutisch an ihrem affektiven Tiefendiskurs. 291 Freud, braucht auch Koppenfels seine Urszenen, in denen Affekte unverstellt beschrieben werden können - das ist seiner Meinung nach in der Tragödie der Antike sowie bei Shakespeare der Fall. Damit wird jedoch der Eindruck erweckt, als wäre die Tragödie der auratische Ort einer reinen Präsenz von Affekten, der, anders als der aufs Medium der Schrift angewiesene Roman, eigentlich nicht der Mittelbarkeit bedürfe. Als gattungstheoretische Kontrastfolie mag diese Annahme sinnvoll sein, für die Analyse der spezifischen Medialität des Theatralischen scheint sie nicht unproblematisch. Ein zweites Problem von Koppenfels’ psychoanalytischer Affekthermeneutik ergibt sich daraus, dass vor ihrem Hintergrund die wissensgeschichtliche Emergenz von Immunitätsphantasien, die einen der historisch spannendsten Befunde des Buches darstellt,3 letztlich wieder nivelliert wird: So plädiert Koppenfels wenig überzeugend dafür, die Immunitätsdiskurse im 19. Jahrhunderts auf eine „anthropologische Konstante“ (206) zurückzuführen. Es ist natürlich nicht von der Hand zu weisen, dass, wie von Koppenfels zeigt, auch vor dem 19. Jahrhundert medizinisch geprägte Rhetoriken des Selbstabschlusses gegenüber der Außenwelt am Werk sind, sie sind jedoch in einen sehr viel weiteren Horizont von Selbsttechniken einzubetten, der nicht zuletzt auch religiöser Diskurse und Praktiken umfasst.4 Bei all diesen möglichen kritischen Rückfragen dürfte klar geworden sein, dass Koppenfels mit seinen Immunen Erzählern in brillanter Manier der französischen Literatur etwas zurückgegeben hat, was man ihr in der Moderne auch von Seiten der Literaturwissenschaft nur selten zugestanden hat, nämlich ihre Affektschicksale. Damit hat er der Romanistik ein Feld eröffnet, das noch viele leidenschaftliche Debatten verdient. Jörg Dünne (München) FLÜCKIGER, JEAN-CARLO/ LEROY, CLAUDE (EDS.): SOUS LE SIGNE DE MORA- VAGINE, CAEN: MINARD (BLAISE CENDRARS, 6) 2006. 274 S. Als mittlerweile sechstes Buch in der Reihe Blaise Cendrars bei Minard erschienen, folgt der von Jean-Carlo Flückiger (Leiter des Centre d’études Blaise Cendrars, http: / / www.cebc-cendrars.ch) und Claude Leroy herausgegebene Sammelband Sous le signe de Moravagine den vorangegangenen Bänden Portraits de l’artiste (Blaise Cendrars 5, 2003), Cendrars, la Provence et la séduction du Sud (Blaise Cendrars 4, hrsg. von Monique Chefdor und Georgiana Colville, 1996), ‘Bourlinguer’ à Marseille (Blaise Cendrars 3, hrsg. von Claude Leroy, 1991), Cendrars et l’Amérique (Blaise Cendrars 2, hrsg. von Monique Chefdor, 1989) und Les ‘inclassables’ (1917-1926) (Blaise Cendrars 1, hrsg. von Claude Leroy, 1986). Neben Band 3, der sich primär auf den autobiographischen Roman Bourlinguer (1948) konzentriert, richtet auch der vorliegende Band sein Augenmerk nur auf einen Roman Cendrars, genauer auf den zum ersten Mal 1926 publizierten „roman corrosif“ (Jean Carlo Flückiger, Claude Leroy: „Le 3 Vgl. dazu auch die weiteren Teilprojekte der von Koppenfels geleiteten Nachwuchsforschergruppe „Rhetoriken der Immunität“ (http: / / www.immunitaet.complit.fu-berlin.de/ index.html). 4 Vgl. insbes. zur langen Askesetradition, die ebenfalls bis Flaubert fortwirkt und die Koppenfels komplett ausklammert, Verf., Asketisches Schreiben, Tübingen, Narr, 2003.