eJournals lendemains 34/134-135

lendemains
0170-3803
2941-0843
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/
2009
34134-135

„Penser la voix“

2009
Stephanie Bung
ldm34134-1350268
268 Stephanie Bung „Penser la voix“: Das Hörbuch in Frankreich „En 1980, j’ai eu envie de faire une ‘bibliothèque des voix’.“ 1 Mit diesem Vorhaben war Antoinette Fouque, die Gründerin der Editions Des Femmes, nicht nur in Frankreich ihrer Zeit weit voraus. 2 In den achtziger Jahren gab es zwar schon einen Markt für die deutsche Hörspielkassette oder den französischen livre cassette, aber dieses Medium wurde entweder vor allem zur Unterhaltung von Kindern genutzt oder man sah darin einen Lektüre-Ersatz für ein sehbehindertes Publikum. Seit Mitte der neunziger Jahre erfreut sich in Deutschland jedoch ein Verkaufsprodukt wachsender Beliebtheit, für das ein neuer Name gefunden wird: das Hörbuch. Die diesem Begriff zu Grunde liegende contradictio in adiecto - ein Buch ist schließlich ein visuelles, kein auditives Medium - begegnet bereits in Fouques „Bibliothek der Stimmen“. Doch bis heute gibt es im Französischen keine äquivalente Bezeichnung für dieses deutsche Kompositum, 3 das im Jahre 2007 in Langenscheidts Taschenwörterbuch immer noch mit livre cassette übersetzt wird. Auf einschlägigen Internetseiten und in den Verkaufskatalogen französischer Verlage gibt es zwar mittlerweile die Rubrik livre audio, 4 oft findet man auch die Bezeichnung livre sonore, und mitunter ist die Rede von einem livre lu. Aber weder sind diese Begriffe in Frankreich so gebräuchlich wie in Deutschland derjenige des Hörbuchs, noch wurde bislang einer dieser Ausdrücke durch die Académie française offiziell in die französische Sprache aufgenommen. 5 Dies mag in erster Linie dem Umstand geschuldet sein, dass wir es mit einem wirtschaftlichen Phänomen zu tun haben, das im Laufe der neunziger Jahre von den USA auf Europa übergegriffen hat. 6 Während sich die großen Pariser Verlage erst in den letzten Jahren allmählich gegenüber dem livre audio zu öffnen beginnen, 7 vermeldet die Frankfurter Buchmesse 2005 bereits zweistellige Zuwachsraten für den Absatz von Hörbüchern. 8 Die sprachlichen Verhältnisse in Deutschland und Frankreich spiegeln also die wirtschaftliche Entwicklung in beiden Ländern wider. Vor diesem Hintergrund muss man sich allerdings die Frage stellen, ob das Hörbuch tatsächlich mehr ist als ein rein kommerzielles Produkt oder ein „Bügelbegleiter“, wie es Tobias Lehmkuhl provokativ in einem der wenigen Aufsätze, die bislang zu diesem Thema erschienen sind, formuliert. 9 Der vorliegende Beitrag greift den Konturierungsbedarf des Hörbuchs aus einer literaturwissenschaftlichen Perspektive auf. In Deutschland haben die steigenden Verkaufszahlen zu unterschiedlichen Typologien geführt, die die Heterogenität des Gegenstandes widerspiegeln. Gleichwohl eignet ihnen ein heuristischer Wert, der in einem ersten Schritt anzuerkennen ist, mit dem Ziel, einen operativen Hörbuchbegriff zu entwickeln. Allerdings gilt es zu vermeiden, die Terminologie von einer Realität abzukoppeln, die nicht außerhalb eines konkreten literarischen Feldes 269 analysiert werden kann. Aus diesem Grund wird in einem zweiten Schritt der französische Umgang mit einem spezifischen patrimoine sonore näher betrachtet. Die daran anschließenden Ausführungen setzen sich erstmals anhand von Beispielen aus der französischen Literatur mit einem medialen Transfer auseinander, der geeignet scheint, die ‘Stimmen’ der Narratologie aus ihrem metaphorischen in einen performativen Kontext zu übersetzen: Anhand des Erfolgsromans Truismes von Marie Darrieussecq wird im dritten Teil dieses Verhältnis zwischen der metaphorisch-narratologischen Rede von der Stimme zur technisch reproduzierten Stimme des Hörbuchs untersucht. Ein vierter Teil beschäftigt sich abschließend mit dem Faszinationspotenzial der Autorenlesung und geht am Beispiel einer historischen Aufnahme der Stimme Apollinaires auf die Frage ein, ob die Literatur, deren Eintritt in das Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit schon lange zurückliegt, durch die technisch reproduzierte Stimme des Autors ihre Aura zurückgewinnt. „Je crois que par l’oreille on peut aller très loin… On n’a peut-être pas encore commencé à penser la voix [...]“, fährt Antoinette Fouque in der Präsentation ihrer bibliothèque des voix fort. Dieser Artikel möchte hierzu seinen Beitrag leisten. Was ist ein Hörbuch? In der deutschen Diskussion herrscht bislang keine Einigkeit über diese Frage, wie verschiedene Verlagssprecher und Journalisten immer wieder betonen. „Der Begriff Hörbuch ist gegenwärtig nicht eindeutig definiert. Mit ihm werden Hörspiele, Features, Dokumentationen, Lesungen und weitere Erscheinungsformen verbunden.“ 10 Selbst wenn man den Gegenstandsbereich auf den fiktionalen Sektor eingrenzt, bleibt der Hörbuchbegriff häufig konturlos. Wie aus einer Meinungsumfrage des Hessischen Rundfunks von 2002 hervorgeht, gehören Kriminalhörspiele zu den beliebtesten Genres. Ihnen folgen die Hörspielklassiker, deren Umfragewerte wiederum gleichauf liegen mit den so genannten „Hörbüchern literarischer Neuerscheinungen“. Den dritten Platz teilen sich die literarischen Hörspiele neueren Datums mit den „Romanklassikern als Hörbuch“. 11 Aus literaturwissenschaftlicher Perspektive fällt an diesem Ergebnis vor allem das symmetrische Interesse an Hörspielklassikern und literarischen Neuerscheinungen (58%), bzw. an literarischen Hörspielen und Romanklassikern (55%) auf. Hier wird deutlich, dass bezüglich der Vorlieben des Publikums kein signifikanter Unterschied zwischen dem vorgelesenen Text und dem Hörspiel besteht. Literarhistorisch betrachtet ist das Hörspiel jedoch ein original für den Hörfunk abgefasstes, in sich geschlossenes und in der einmaligen Sendung von in der Regel 30-90 Minuten Dauer aufgeführtes, überwiegend sprachl. Werk, das beim Publikum eine der Kunst spezifische Wirkung hervorzubringen versucht und das in keinem anderen Medium existieren kann […].12 Es handelt sich demnach um eine eigene literarische Gattung, wohingegen es für jene Worttonträger, auf denen ein nicht für das auditive Medium geschriebener 270 Text eingelesen wurde, keine eigene Gattungsbezeichnung gibt. Die Typologie, die dem Fragebogen der Medienforschung des Hessischen Rundfunks zu Grunde liegt, ist insofern nicht konsistent, als sie den Ausdruck ‘Hörbuch’ doppelt verwendet: zunächst als Oberbegriff im Sinne eines Worttonträgers allgemein, dann jedoch auch zur Kennzeichnung des Transfers eines literarischen Textes in den akustischen Bereich. 13 Folglich könnte man das Hörbuch in einem engeren Sinne als Worttonträger definieren, auf dem der literarische Text in Kombination mit der lesenden Stimme dominiert. Unterscheidet man also auf der Achse der Schrift zwischen dem Hörspiel, das für den Tonträger geschrieben wurde, und dem (literarischen) Hörbuch, so lassen sich für letzteres auf der Achse des Klangs weitere Differenzierungen vornehmen. Der Text kann zum Beispiel als klassische Lesung dargeboten werden. Sie entspricht am ehesten dem Vorlesen, da nur eine einzige Stimme beteiligt ist, wobei außerdem zwischen der Schauspielerlesung und der Autorenlesung unterschieden werden muss. 14 Der Ausdruck ‘Lesung’ ist dabei vor allem im Zusammenhang mit der Autorenlesung nicht unproblematisch, bezeichnet er hier doch gerade nicht das situative Zusammentreffen von einem Autor mit seinen Lesern an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit. Die technisch reproduzierte Lesung entbehrt jeglicher Unmittelbarkeit und doch ist es gerade der Akt des Vorlesens, der das Hörbuch auf der klanglichen Ebene am deutlichsten vom Hörspiel unterscheidet. Neben der klassischen existiert jedoch auch die inszenierte Lesung, die die Vorlage dramatisiert und von der verstellten Einzelstimme bis hin zu einem Lesen mit verteilten Rollen und Klangkulisse reichen kann. 15 In stark dramatisierten Fällen kann das Ohr allein nicht zwischen einer inszenierten Lesung und dem Hörspiel unterscheiden. Die Begriffe der klassischen und der inszenierten sowie der Autoren- und Schauspielerlesung werden im Folgenden synonym für einen intensiven Hörbuchbegriff verwendet, der im Unterschied zu einem extensiven Hörbuchbegriff, wie er beispielsweise in der hier vorgestellten Typologie zum Ausdruck kommt, weder Hörspiele noch Lesungen nicht-literarischer Texte umfasst. Der patrimoine sonore in Frankreich „Dire que le livre sonore est réservé aux mal-voyants serait comme affirmer que le livre papier est dédié exclusivement aux mal-entendants.“ 16 Mit dieser provokativen Einstellung kämpft Patrick Frémaux, der Gründer des bislang größten französischen Audio-Verlages Frémaux & Associés, 17 seit 1990 um die Anerkennung des Hörbuchs in Frankreich. Zehn Jahre nach den ersten Vorstößen von Antoinette Fouque und lange bevor die großen Literaturverlage in Paris den Hörbuchmarkt für sich entdeckt haben, eröffnen Frémaux & Associés ihre Librairie Sonore. Mit seiner Geschäftspartnerin Claude Colombini hat der Verleger es sich zum Ziel gesetzt, das „akustische Vermächtnis“ Frankreichs, seinen patrimoine sonore, lebendig werden zu lassen. 18 Sie arbeiten zu diesem Zweck eng mit dem Institut National de l’Audiovisuel (INA) zusammen, eine der größten Bild- und Tonträgerbanken Eu- 271 ropas, in der 1,77 Mio Stunden analog gespeicherten Hörmaterials aufbewahrt werden. 19 Emmanuel Hoog, Direktor des INA, hat zu Recht darauf hingewiesen, dass dieses Material - oder zumindest Teile davon - nur dann Eingang in das ‘Gedächtnis’ 20 einer Gesellschaft findet, wenn die zu erinnernden Klänge und Stimmen auch zugänglich gemacht werden: „Quelle que soit la forme, une mémoire s’avère morte si elle n’est pas cataloguée, disponible, transmise, éventuellement contestée et sans cesse réinterprétée. Nos archives doivent entrer dans l’âge de l’accès.“ 21 Sechzig Jahre Radio und fünfzig Jahre Fernsehen müssen zu diesem Zweck digitalisiert werden, will man verhindern, dass ihre Spuren mit dem materiellen Zerfall ihrer Tonträger aus den Archiven verschwinden. 22 Frémaux & Associés beteiligen sich an diesem Projekt und haben in den vergangenen zehn Jahren umfangreiches Tonmaterial geborgen bzw. publiziert, das der Herausgeber in folgender Typologie darstellt: - Grands entretiens historiques - Textes préexistants dans l’écrit et interprétés par des grands comédiens - Adaptations du grand patrimoine ou de textes historiques pour la jeunesse - Textes qui ont été écrits par des écrivains et lus par eux-mêmes - Improvisations plus ou moins préparées et interprétées dans des cours et des conférences - Grands enregistrements historiques 23 Diese Kategorien, die Frémaux unter das livre sonore subsumiert, sind weder mit dem extensiven noch mit dem intensiven Hörbuchbegriff, wie er hier aus deutscher Perspektive vorgeschlagen wurde, kongruent. In der Librairie Sonore entsprechen dem Kriterium der lesenden Stimme die Untergruppen zwei, drei und vier, wobei zwischen Schauspieler-, Autoren- und inszenierter Lesung (für Kinder und Jugendliche) unterschieden wird. Die Rubriken eins, fünf und sechs hingegen beruhen weder auf einem für das auditive, noch für das visuelle Medium geschriebenen Text. Sie umfassen Tonträger, auf denen die Stimme als solche im Vordergrund steht, insofern sie von Ereignissen Zeugnis ablegt, die als historisch relevant eingestuft werden. Im Vergleich mit der Typologie des Hessischen Rundfunks wird hier also der patrimoine sonore tatsächlich signifikant aufgewertet. Angesichts der Tatsache, dass Frémaux & Associés überwiegend mit Archivmaterial arbeiten, das ursprünglich für den Hörfunk aufgenommen wurde, ist allerdings das Fehlen der Gattung ‘Hörspiel’ in der Librairie Sonore bemerkenswert: Warum werden historische Gespräche, Zeugenberichte und wissenschaftliche Vorträge, die in den Rundfunkarchiven lagern, in eine Definition des livre sonore aufgenommen, Hörspiele, die einst ebenso für ein Publikum an den Radioapparaten eingespielt wurden, jedoch nicht? Zwar handelt es sich um eine Textsorte, die vor allem im Deutschland der fünfziger und sechziger Jahre sehr erfolgreich war, 24 doch hat sie auch in Frankreich (Ton-)Spuren hinterlassen. Das Hörspiel ist ein wesentlicher Bestandteil des patrimoine sonore, wie folgender medienhistorische Exkurs zeigen soll. 25 Sowohl diesseits als auch jenseits des Rheins wird das Radio schon in den zwanziger und dreißiger Jahren nicht nur zur Verbreitung von Information, sondern 272 auch als kulturelles Medium genutzt. Die erste Phase des Hörspiels zeichnet sich vor allem durch den Hang zur melodramatischen Geräuschkulisse aus, wenn zum Beispiel die Geschichte eines Lokomotivführers inszeniert wird, der seine Familie bei einem Verkehrsunglück verliert und durch die Stimmen der Toten dazu getrieben wird, seinen Zug entgleisen zu lassen: L’Express 175 von René Christauflour gewann als bestes Originalfunkspiel im Jahr 1928 sogar ein Preisausschreiben. 26 Um die gleiche Zeit beginnt man in Frankreich jedoch auch damit, Klassiker der französischen Literatur einzulesen, da man den Hörfunk als ein geeignetes Mittel betrachtet, sie einem breiten Publikum zugänglich zu machen. 27 Autoren, darunter Albert Camus, schicken Lesungen ihrer eigenen Romane über den Äther. Noch ersetzt die einmalige, flüchtige Sendung im Radio den besser zur Vermarktung und zum Transport geeigneten Tonträger, aber das Prinzip des Hörbuchs ist in diesen technisch reproduzierten Schauspieler- und Autorenlesungen bereits enthalten. Die Unterscheidung zwischen Hörspiel und Hörbuch ‘avant la lettre’ kündigt sich hier an, und Ende der sechziger Jahren thematisiert der französische Schriftsteller Jean Tardieu die zwiespältige Position des Mediums Radio zwischen kulturellem Mittler und eigenständigem Kunstwerk: Oui, la radio est un art original puisqu’elle possède un langage, une technique et des moyens qui lui sont propres. Non, la radio n’est pas un art original, puisqu’elle emprunte les principaux termes de son langage (les sons et les paroles) à des arts, comme la musique et la littérature, qui existaient avant elle et qui continuent à vivre en dehors d’elle. Oui, la radio est un art lorsqu’elle suscite des œuvres originales composées spécialement pour elle et réalisées avec ses moyens propres. Non, la radio n’est pas un art, en tout cas pas un art ‘majeur’; elle serait plutôt un art de ‘complément’, de ‘diffusion’, de ‘présentation’, bref, un art superposé aux autres, lorsqu’elle se borne à assimiler et à transmettre, même en les modifiant plus ou moins, l’immense répertoire des œuvres qui ont été ou sont créées en dehors d’elle, pour le livre, pour le concert ou le théâtre. Bref, elle est un peu tout à la fois: un art et un moyen de diffusion et bien autre chose encore […].28 Tardieu greift hier eine Debatte auf, die schon länger um die Frage nach dem Verhältnis von Literatur (und Musik) und Hörfunk kreist. 29 Er weist auf die Müßigkeit dieser Diskussion hin, indem er sich auf den Standpunkt stellt, dass das künstlerische Potential des Mediums an den Schaffensprozess gekoppelt ist: Solange das Radio nur dazu genutzt werde, bereits vorhandenes Material - ob kanonisierte Literatur oder tagespolitische Informationen - aufzuarbeiten und zu verbreiten, könne ihm nur ein bescheidenes Maß an künstlerischer Originalität zugesprochen werden. Erst im Fall von eigens für dieses Medium konzipierten Produktionen habe es der Hörer mit Kunst zu tun. Tardieu ist jedoch selbst ein Mann des Radios und weiß sich in der Praxis beider Funktionen des Mediums zu bedienen. 1946 übernimmt er in der Nachfolge Pierre Schaeffers die Leitung des Club d’Essai, ein, wie der Name bereits nahelegt, experimentierfreudiger Sender der Radiodiffusion Française. 30 Dessen Ziele beschreibt er in einem Beitrag für BBC Quarterly folgendermaßen: 273 explorer les vastes répertoires de la littérature et de la musique, et, en utilisant les méthodes techniques les plus modernes, donner au public une version radiophonique aussi fidèle que possible de quelques grandes œuvres. aider les directeurs de la Radiodiffusion Française, en s’assurant la coopération des plus grands artistes, auteurs, compositeurs, et interprètes vivants. encourager la création de nouvelles œuvres, écrites spécialement pour la radio. [...]31 Tardieu greift also durchaus auf die Mittlerfunktion des Radios zurück, wenn es zum Beispiel darum geht, das umfangreiche Repertoire literarischer und musikalischer Kunstwerke mit Hilfe der modernsten Technik für den Hörer aufzubereiten. Vor allem will er jedoch das innovative Potential dieses Mediums nutzen, indem er zeitgenössische Künstler für die sogenannte „achte Kunst“ gewinnen und ermutigen will, ihre Kreativität in den Dienst des Radios zu stellen. Das Ergebnis seiner Arbeit ist eine unglaubliche Vielfalt an sprachlichen und musikalischen Formen, häufig mit avantgardistischen Ansprüchen verbunden, von denen die musique concrète nur eines der bekannteren Beispiele ist. 32 Vor dem Hintergrund der Experimentierfreude des Club d’Essai muten die Auswahlkriterien, die Frémaux & Associés ihrem Hörbuchbegriff zu Grunde legen, konservativ an. Dennoch handelt es sich in einem gewissen Sinne um eine weniger restriktive Auswahl, als sie die Kategorisierungsversuche des deutschen Hörbuchmarktes charakterisieren. Das Angebot der Librairie Sonore besteht überwiegend aus Tondokumenten, die ihre Aufnahme einem schon früh entwickelten Bewusstsein für die fernmündlichen Möglichkeiten der Volksbildung verdanken. Neben historischen Schauspieler- und Autorenlesungen machen Frémaux & Associés einem heutigen Publikum auch Dokumentationen und Berichte von Zeitzeugen zugänglich, die für das Radio auf analoge Tonträger gespeichert wurden. 33 Der Hörfunk als Matrix des livre sonore? So gesehen ist die Typologie der Librairie Sonore konsistent, wenngleich ohne das Hörspiel nicht konsequent: Das livre sonore wäre medienhistorisch und unter vorwiegend materiellen Gesichtspunkten zu definieren als eine Emanzipation des gesprochenen Wortes von der ephemeren Radiosendung, bzw. als seine Fixierung auf einem tragbaren und vermarktbaren Tonträger. Es handelt sich hier also um einen extensiven Hörbuchbegriff, der jedoch - im Unterschied zu der Typologie des Hessischen Rundfunks - auf diachronen Kriterien beruht und der neben der lesenden und der Hörspiel-Stimme auch sprachliche Zeugnisse umfasst, die auf keine Textgrundlage zurückzuführen sind. Das französische Hörbuch erscheint vor diesem Hintergrund tatsächlich als ein in den Rundfunkarchiven ruhender Schatz, der patrimoine sonore, der darauf wartet, geborgen zu werden. Angesichts des eigenen Anspruchs von Frémaux & Associés, das französische Klang- und Stimmengedächtnis zu repräsentieren, liegt es nahe, dass die Herausgeber mit einem weit gefassten Hörbuchbegriff arbeiten. Und angesichts der Tatsache, dass es sich hier um einen der ersten französischen Verlage handelt, die sich des auditiven Mediums überhaupt angenommen haben, ist davon auszugehen, dass ihr Umgang mit dem patrimoine sonore den Hörbuchbegriff in Frankreich geprägt hat, zumal ihr Angebot den französischen Hörbuchmarkt maßgeblich mitge- 274 staltet. Gleichwohl gilt es zu berücksichtigen, dass dieser Markt in Frankreich noch im Entstehen begriffen ist. Sich an deutschen Verkaufserfolgen orientierend, die insbesondere auf neu eingelesene Hörbücher zurückzuführen sind, 34 entwickeln mittlerweile auch die großen französischen Verlage Hörbuchreihen, für die sie nicht auf Archivmaterial zurückgreifen. 35 Diesen Entwicklungen tragen die folgenden Überlegungen Rechnung. Ihnen wird der intensive Hörbuchbegriff zu Grunde gelegt, wodurch sich allerdings nun doch wieder die Frage nach dem künstlerischen Potential der Lesung stellt, die Tardieu angesichts des Mediums Hörfunk bereits beantwortet sah: Worin liegt die ästhetische Differenzerfahrung des Hörbuchs? Dieser Frage wird anhand von zwei Fallbeispielen nachzugehen sein, zunächst in Bezug auf die Lesung eines Romans, im Anschluss daran vor dem Hintergrund der spezifischen Faszination, die mit der Autorenlesung verbunden ist. Die Verdopplung der ‘Stimme’ (am Beispiel von Truismes von Marie Darrieussecq) Die deutsche Hörspielforschung, im Bestreben das Hörspiel als eine eigene literarische Gattung zu definieren, klammert die Lesung aus ihrem Gegenstandsbereich aus: „Für diese Bearbeitung epischer Werke [die Lesung, S.B.] gilt das gleiche wie für die getreue Bearbeitung von Bühnenstücken: Ihr künstlerischer Wert liegt ausschließlich im Original, und es besteht daher kein Grund, sie in eine Darstellung des Hörspiels aufzunehmen.“ 36 Wenn Hörspielforscher wie Armin P. Frank dazu tendieren, der technisch reproduzierten Lesung den „künstlerischen Wert“ abzusprechen, so gehen sie von produktionsästhetischen Gesichtspunkten aus, die letztlich einem starken Autorbegriff verpflichtet sind. Der mediale Transfer wird nur unter der Voraussetzung, dass er bereits im schriftlichen Medium angelegt und vom Autor intendiert ist, als ein ästhetisch relevanter Prozess betrachtet. Demgegenüber lässt sich argumentieren, dass sich auch im Falle von Lesungen, die dem intensiven Hörbuchbegriff zu Grunde liegen, die Frage stellt, was geschieht, wenn einem Roman, einer Erzählung oder auch einem Gedicht eine ‘Stimme’ gegeben wird. 37 Diese Stimme unterscheidet sich von der Stimme, wie sie während des Vorlesens in einer ganz bestimmten, einmaligen Situation erklingt, durch ihre Reproduzierbarkeit. 38 Wenn sie auch andere Sinne des Rezipienten beansprucht als die Buchstaben des Primärtextes, so gelangt sie durch den Tonträger doch gleichfalls in das kulturelle Gedächtnis einer Gesellschaft. Anders als die Stimmen, die im Theater zur Aufführung gebracht werden, ist sie durch die Technik vom menschlichen Körper entkoppelt. 39 Anders aber auch als bei den ‘Stimmen’ im literarischen Text, die nach Bachtin aus dem Roman ein polyphones, aus dem Gedicht ein monologisches Kunstwerk machen und die in der Narratologie von Gérard Genette zur Analyse des discours herangezogen werden, 40 handelt es sich nicht um eine Stimme im metaphorischen Sinne. 41 Gleichwohl setzt sie sich zu den textuellen Erzählstimmen in Beziehung, und es ist diese Beziehung - zwischen der technisch reproduzierten und der metaphorischen Stimme -, die den medialen Transfer ge- 275 rade auch im Falle jener Texte, die ursprünglich nicht dafür vorgesehen gewesen sein mögen, interessant macht. Anhand eines Beispiels wird nun danach zu fragen sein, wie sich diese ‘Stimmen’ zueinander verhalten können, wenn ein Roman in das auditive Medium übertragen werden soll, der sich durch eine ausgesprochen polyphone Struktur im Sinne Bachtins auszeichnet: Mit ihrem ersten Roman Truismes, 1996 bei P.O.L. erschienen und in 38 Sprachen übersetzt, gelang Marie Darrieussecq der Durchbruch als Schriftstellerin. Es ist bezeichnend für die unterschiedliche Geschwindigkeit, mit der sich der Hörbuchmarkt diesseits und jenseits des Rheins entwickelt, dass der Erfolgsroman Truismes einem deutschen Publikum unter dem Titel Schweinerei bereits 1997 als Hörspielkassette vorlag. 42 In französischer Sprache hingegen existiert bis heute kein Hörbuch zu diesem Text. Der Roman ist jedoch aus verschiedenen Gründen ein interessantes Fallbeispiel für diesen Transfer. Bereits in den sechziger Jahren hat der Hörspielforscher Heinz Schwitzke die These aufgestellt, ein narrativer Text eigne sich immer dann besonders gut für eine Bearbeitung für den Hörfunk, wenn die Geschichte aus der Perspektive einer der Figuren erzählt wird, wenn also eine ‘innere Stimme’ erklingt. 43 Im Falle von Truismes handelt es sich um eine solche homodiegetische Erzählstimme, die zudem eindeutig mit der Protagonistin des Romans identifiziert werden kann. Allerdings schildert diese Figur, die sich bekanntlich in ein Schwein verwandelt, aus der Retrospektive die Veränderung ihres Körpers. Angesichts dieser Verwandlung stellen sich bereits die ersten Fragen an die Qualitäten der Lesestimme: Soll sie eher mit dem Körper einer jungen Frau in Verbindung gebracht werden oder Neutralität ausstrahlen? Will man den Tierkörper stimmlich andeuten? Entscheidet man sich für eine klassische Lesung und damit für eine einzige Stimme oder eignet sich hier die inszenierte Lesung besser, in der verschiedene Stimmen sprechen? Oder nimmt man tiefgreifende Veränderungen am Text vor und inszeniert ein Hörspiel auf der Grundlage des Romans? Für welche dieser Lösungen man sich auch entscheiden mag, gegenüber dem Bildmedium hat das Hörbuch einen Vorteil: Der Körper, der mit einer Stimme evoziert wird, bleibt unsichtbar. 44 Der Roman scheint sich außerdem auch deshalb zu einem Transfer in das auditive Medium anzubieten, da die Autorin selbst auf die Bedeutung der Stimme hingewiesen hat: „Le livre, c’est l’aventure d’une voix.“ 45 Im Gespräch mit Jeannette Gaudet weist Marie Darrieussecq wiederholt darauf hin, dass sie den Roman in kürzester Zeit niederschrieb, sobald sie in der Lage war, die Figur zu ‘hören’: „C’est sorti direct une fois que j’avais la voix.“ 46 Als Schriftstellerin kann sie es sich erlauben, den Begriff der Stimme zwischen metaphorischem und physiologischem Sinngehalt oszillieren zu lassen: Mais j’aime bien le mot ‘voix’. Truismes, j’aurais été incapable de l’écrire si, à un moment, je n’avais pas entendu cette espèce de voix extrêmement naïve, complètement en dehors d’elle-même, une voix inconsciente. Pas une voix de l’inconscient, mais une voix qui n’a pas conscience de ce qu’elle est et, donc, qui est capable de dire des choses très lyriques ou alors des horreurs.47 276 Die hier beschriebene ‘Naivität’ der Stimme lässt sich literaturtheoretisch am ehesten mit dem Bachtinschen Konzept des „zweistimmigen Wortes“ fassen. 48 Denn während sich die Erzählerin um das Wohlwollen eines fiktiven, textinternen Lesers bemüht, den sie auf die monströsen Metamorphose vorbereitet, nimmt der Leser des Romans verschiedene ‘Stimmen’ wahr, die diese captatio benevolentiae unterwandern: jene der naiven Parfümverkäuferin, ihres skrupellosen Chefs, ihrer mehr oder weniger perversen Kunden, ihres brutalen Liebhabers. 49 In der Rede der Erzählerfigur wird der apostrophierte Leser zwar in der Tat dazu angehalten, eine menschliche Stimme in einem Schweinekörper zu imaginieren. Zugleich wird jedoch der textexterne Leser mit einer Redevielfalt konfrontiert, die ihn auf jene Gesellschaft zurückverweist, aus der der Tierkörper der Erzählerin ausgeschlossen wurde. Der Reiz des Romans liegt demnach nicht allein in der Geschichte einer bizarren Verwandlung. Die Doppelbödigkeit des Textes beruht fast durchgängig auf dem Prinzip „fremde Rede in fremder Sprache“, 50 die der Leser anhand von Kursivsetzungen und durch Wendungen wie les mots me reviennent auf einer ersten Ebene als ‘menschliche Sprache’, auf einer zweiten Ebene jedoch gerade als Ausdruck einer Gesellschaft identifizieren soll, die das Attribut ‘menschlich’ kaum noch verdient. So ist jedoch der Ort, von dem aus die Figur spricht, nicht leicht zu bestimmen. Denn die Stimme, „die dem gebrochenen Ausdruck der Autorenintention dient“, 51 lässt sich ebenso wenig in einem Tierkörper lokalisieren, 52 wie sie zu jener Parfümverkäuferin passt, die sich prostituiert, ohne es zu merken. Diese Stimme hat eigentlich keinen Ort, keinen ihr kompatiblen Körper jenseits der Schrift. Sie ist deckungsgleich mit jener metaphorischen Stimme, deren Ort des Sprechens ebenso metaphorisch als ‘Textkörper’ bezeichnet werden kann. 53 Dieser Befund scheint nun den medialen Transfer dieses Romans, bzw. die Übersetzung dieser Stimme aus einem metaphorischen in einen performativen Kontext nicht eben zu begünstigen. Jedenfalls dann nicht, wenn die Grenzen zwischen narratologischer Terminologie und physiologischer Begrifflichkeit verschwimmen und mit der stimmlichen ‘Verkörperung’ eine illustrative Erwartung verknüpft wird. Begreift man das Hörbuch jedoch weniger als eine akustische Form der Buchillustration als vielmehr in Analogie zur Literaturverfilmung, 54 so bietet Bachtins Konzept der Zweistimmigkeit die Möglichkeit, die Frage zu umgehen, ob eine menschliche Stimme glaubwürdig den Körper eines Schweines interpretieren kann, oder wie man eine körperliche Verwandlung stimmlich darstellt. Vielmehr müsste der oder die Lesende in der Lage sein, durch eine bestimmte Art der Ironie die Doppelbödigkeit des Textes zum Ausdruck zu bringen. Dass dies nicht jede Stimme leisten kann, zeigt die deutsche Adaptation des Romans als Hörbuch. Sieht man einmal von Reibungsverlusten durch die Übersetzung ab, macht die Interpretation der Erzählstimme durch die Schauspielerin Birgit Zamulo vor allem deutlich, wie problematisch die inszenierte Lesung in diesem Fall sein kann: Zwar gelingt Zamulo eine durchaus glaubwürdige Interpretation der Parfümverkäuferin. Aber während es dem Auge leicht fällt, die Arglosigkeit der Figur nachzuvollziehen, ist es für das Ohr anstrengend, der penetranten Naivität, die die Schauspielerin in 277 ihre Stimme legt, über einen längeren Zeitraum Aufmerksamkeit zu widmen. Hinzu kommt, dass der Roman mit Brüchen arbeitet, die Zamulo nicht überzeugend umsetzt. So nimmt man ihrer Figur die lakonisch-vulgären Ausdrücke nicht ab, die hin und wieder im Text aufblitzen und die nicht zu der kindlichen Fröhlichkeit passen, mit der sie sexuelle Übergriffe schildert, die an Vergewaltigungen grenzen. Hier wird für das Ohr kein humorvoller Kontrast geschaffen, der den Reiz der stillen Lektüre ausmacht. Dieser Verlust an Komplexität ist jedoch weder allein der Schauspielerleistung noch der Entscheidung für die inszenierte Lesung geschuldet, wenngleich zu fragen wäre, ob die Spannungen zwischen Text, Performanz und Technik in einer klassischen Lesung nicht deutlicher hätten herausgearbeitet werden können. Die Weichen für ein gutes Hörbuch werden schon früher gestellt, wenn nämlich die Textvorlage für die Aufnahme vorbereitet, und das heißt in den meisten Fällen gekürzt wird. 55 „Performance is not the only way in which audiobooks differ from their originals. Again, as in the case of films, the text is changed to suit the medium, and many hands - not just a single author - are at work to bring an audiobook to life.“ 56 James Shokoff weist hier auf die Analogie von Literaturverfilmung und Hörbuch hin sowie darauf, dass es sich bei der Herstellung von Hörbüchern im Unterschied zu der Tätigkeit von Schriftstellern um kollektive Produktionen handelt. Vor diesem Hintergrund plädiert er auch für einen differenzierten Umgang mit diesem Medium, für das eigene Maßstäbe der Beurteilung gefunden werden müssen. So wäre auch die Art und Weise, wie sich eine Stimme zu der narrativen Vielstimmigkeit eines Textes verhält, nicht unabhängig von anderen Produktionsschritten zu untersuchen, doch die Auseinandersetzung mit diesen verschiedenen ‘Stimmen’ bleibt ein grundlegendes Kriterium. Darf dieser Befund für alle Lesungen Geltung beanspruchen? Was für die Schauspielerlesung einleuchtet, scheint sich im Falle der Autorenlesung auf den ersten Blick anders zu verhalten. Handelt es sich hier doch um eine spezifische Form des Hörbuchs, für die man spontan geneigt sein könnte, eine Ausnahme zu machen bezüglich seiner kollektiven Herstellungsweise. Sollte man nicht annehmen, dass hier die metaphorische Stimme im Text und die konkrete Stimme auf dem Tonträger in einem spezifischen Verhältnis zueinander stehen, das automatisch einen semantischen Mehrwert erzeugt? Schließlich lassen sich beide ‘Stimmen’ auf den Autor oder die Autorin zurückführen. ‘Lu par l’auteur’: Die auratische Stimme der Autorenlesung In einem visuellen Zeitalter hat es die Stimme nicht leicht, sich gegenüber dem Bild zu behaupten. Doris Kolesch und Sybille Krämer weisen auf die Diskrepanz zwischen der kulturellen und medialen Bedeutung der Stimme und dem „Okularzentrismus“ der abendländischen Tradition hin: 278 Die Stimme bildet den Nukleus dessen, worum Geistes-, Human- und Kunstwissenschaften kreisen […]. Doch unsere Betrachtung von Geist und Kultur ist zuvörderst orientiert am ‘geronnenen’ Werk: Denn nur die Zeiten überdauernde Stabilität von Texten, Bildern, Bauten und Instrumenten hinterlässt Objekte, die wir als Verkörperungen von Kultur dann auch studieren und interpretieren können.57 Zwar rückte die Stimme im Rahmen der Mündlichkeits-/ Schriftlichkeitsdebatte der sechziger Jahre in den Fokus der Aufmerksamkeit, jedoch, wie Krämer darlegt, überwiegend unter negativen Vorzeichen. 58 Stimme und Schrift werden in einem dichotomen Wertesystem einander zugeordnet, in dem Oralität/ Literalität analog zu Körper/ Geist, Materie/ Idee, Sinnlichkeit/ Sinn begriffen wird. Diese binäre Logik führt meistens zu einer Privilegierung der Schrift, sie ermöglicht im Gegenzug jedoch auch eine Hypostasierung der Stimme, die dann als das Medium der Ursprünglichkeit, des Essenziellen gepriesen wird. 59 Lässt sich ein Zusammenhang herstellen zwischen diesem „Mythos der Oralität“ 60 und der Faszination, die von der Autorenlesung ausgeht? In dem Moment, in dem mit der Stimme der Anspruch auf Originalität verbunden wird, ist es nur noch ein kleiner Schritt zu der Annahme, durch seine stimmliche Interpretation ermögliche der Autor die maximale Annäherung an den wahren Sinngehalt eines Textes. Wie problematisch diese Herangehensweise an den Gegenstand ist, kann am besten anhand eines konkreten Beispiels aufgezeigt werden. Apollinaires Gedicht Le Pont Mirabeau gehört zu den ältesten französischen Autorenlesungen, die auf einen Tonträger gebannt wurden. Ihre Aufzeichnung aus dem Jahr 1913 wurde in digitalisierter Form in eine (auditive) Hörbuch-Anthologie aufgenommen, die der Journalist und Schriftsteller Olivier Germain-Thomas 1993 unter dem Titel Voix de poètes: des poètes disent leurs textes herausgegeben hat. 61 Germain-Thomas stellt seiner Anthologie einen Begleittext voran, in dem er die Faszination beschreibt, die die Verbindung von Lyrik und Stimme auf den Liebhaber von Gedichten ausübt. Er sagt es nicht ausdrücklich, aber seine bilderreiche Rede von der „ersten Inkarnation“ des Textes in der Autorstimme lässt vermuten, dass auch er dessen wahren Sinngehalt jenseits der Schrift ansiedelt: Si la poésie est devenue un écrit très écrit, trop écrit, à l’origine elle était du côté du chant. […] Les poètes ont suivi ce mouvement qui a éloigné la poésie de la lyre, mais tous, et encore aujourd’hui, ont entendu les mots avant même de les transcrire. […] Si nous écoutons un comédien, nous disons, bon, c’est son interprétation. Mais lorsqu’il s’agit de l’auteur lui-même… nous y sommes: C’est donc ainsi qu’Apollinaire a entendu Le Pont Mirabeau […]? Il peut y avoir pour certains comme une désappropriation. Mais c’est une incarnation. La première. […]62 Es herrscht Konsens darüber, und die Gattungsbezeichnung ‘Lyrik’ weist schließlich bereits darauf hin, dass Gedichte historisch betrachtet in einem spezifischen Verhältnis zum Gesang stehen. Auch die Aussage von Dichtern, dass sie ihre Texte zunächst hören, bevor sie sie schreiben, soll hier nicht in Zweifel gezogen werden. Der Annahme allerdings, dass wir durch eine technisch reproduzierte Stimme in die Lage versetzt werden, an dieser ersten, inneren Stimmgebung von 279 Le Pont Mirabeau teilzuhaben, muss widersprochen werden. Wie auch immer Apollinaires Verse in seinem inneren Ohr geklungen haben mögen, als er sie niederschrieb, es waren mit Sicherheit nicht die Klänge, die einem zeitgenössischen Publikum nun auf CD zugänglich sind. Nicht nur wissen wir aus Erfahrung, dass wir unsere Stimme selbst anders wahrnehmen als andere Menschen, in diesem Fall ist das Erstaunen des Schriftstellers, der seine eigene Stimme zum ersten Mal vermittels einer Maschine hört, sogar historisch belegt. Von Apollinaire berichtet sein Freund André Salmon wenige Tage nach der Aufzeichnung: „[…] il s’écoute, non sans stupeur. Ses amis le retrouvent, mais il ne se reconnaît pas! Il est en effet des organes profonds de perception auditive dont nous ne jouissons que grâce au phonographe […] lorsqu’il nous renvoie cette propre voix […].“ 63 Hinzu kommt, dass die Begegnung zwischen Mensch und Maschine, die Salmon hier beschreibt und die auf Initiative des Sprachhistorikers Ferdinand Brunot stattfand, 64 zu Beginn des letzten Jahrhunderts noch ein außergewöhnliches Ereignis ist. Im Gegensatz dazu sind körperlose Stimmen zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts eine alltägliche Erscheinung. Die akustische wie schriftliche Dokumentation der aufgezeichneten Stimme Apollinaires legt Zeugnis ab von einer spezifischen Differenzerfahrung, die wir heute so nicht mehr wahrnehmen. 65 Die Umstände, unter denen Apollinaire neben Le Pont Mirabeau seine Gedichte Marie und Le Voyageur für den Phonographen rezitiert, lassen also vermuten, dass das akustische Experiment - und nicht etwa die stimmliche Verkörperung einer Textgenese - für die Zeitgenossen im Vordergrund stand. ‘Echtheit’ und ‘Einmaligkeit’ kann die Autorstimme der Literatur nicht zurückgeben. Ihre ‘Aura’ erhält sie weniger durch den Text, den sie spricht, als vielmehr dadurch, dass sie einen historischen Moment fixiert. Der Aufnahme eignet mithin ein ‘Kultwert der Erinnerung’, der Benjamin zufolge das säkularisierte Kunstwerk auszeichnet. 66 Vor diesem Hintergrund kann die Autorenlesung also durchaus als auratisch bezeichnet werden, vorausgesetzt man verwechselt nicht den Kultwert der Erinnerung an den Autor mit einem auratischen Sinnpotenzial des Textes. 67 Zusammenhänge von Schrift und Stimme sind dabei allerdings nicht zu leugnen. So gäbe es keinen Kultwert ohne das literarische Œuvre. Es ist schließlich die Stimme des Dichters, die den Hörer interessiert. Die Autorenlesung von Le Pont Mirabeau hat Kultwert, weil Apollinaire dieses und andere Gedichte geschrieben hat. Er wird von einem Publikum verehrt, das seine Werke gelesen hat. Wer jedoch erwartet, dass sich die „wahre Fülle des Sinns“ eines Werkes durch die Autorstimme erschließt, läuft Gefahr, dem „Mythos der Oralität“ zu erliegen. 68 Fazit und Ausblick Wenngleich von der Forschung noch weitgehend ignoriert, kann das Hörbuch in Frankreich zumindest unter medienhistorischen Gesichtspunkten auf eine lange Tradition zurückblicken. Tonbänder von Schauspieler- und Autorenlesungen klassischer Literatur lagern in den Archiven der INA. Begreift man das Hörbuch als die 280 Fixierung der flüchtigen Radiosendung auf einem dem Verkauf förderlichen Tonträger, so steht angesichts der laufenden Digitalisierung dieses vom Zerfall bedrohten Materials dem Aufschwung des Hörbuchmarktes in Frankreich nichts mehr im Wege. Geht man allerdings mit James Shokoff davon aus, dass durch den medialen Transfer eines literarischen Textes ein eigenständiges Kunstwerk entsteht, so müssen differenziertere Kriterien der Beurteilung entwickelt werden. Dem Spannungsverhältnis zwischen der metaphorisch-narratologischen und der technisch reproduzierten Stimme als einem Charakteristikum der klassischen Lesung kann in diesem Zusammenhang eine besondere Bedeutung beigemessen werden. Dabei sollte jedoch die Qualität einer Übersetzung der textuellen Stimme in einen performativen Kontext nicht an illustrativen Maßstäben gemessen werden. Ein besonderes Faszinationspotenzial eignet außerdem der Autorenlesung. Der Reiz dieser Spielart des Hörbuchs liegt in einem spezifischen Rückkopplungseffekt zwischen Autorstimme und Werk. Dieser Effekt rechtfertigt die Rede von der ‘Aura’ der Lesung, obschon die Literatur dabei eher eine vermittelnde Rolle spielt. Denn der Stimme eignet per se ein auratisches Moment, das als „Denkfigur“ - wie Doris Kolesch schreibt - eine kulturelle Konstante darstellt. 69 Wenn sich die Maschine zwischen das Ohr des Hörers und den Körper des Sprechenden schiebt, ist die Stimme zwar kein Garant mehr für Identität und Authentizität, dem intuitiven Reflex ihrer Rückbindung an einen Körper kann sich der Hörer jedoch nur schwer entziehen. Das Hörbuch spielt mit dieser anwesenden Abwesenheit des Körpers, und sein Konsum ist so gesehen nicht frei von jenem „Stimmenfetischismus“, den Theodor W. Adorno im Zusammenhang mit seiner Theorie der musikalischen Reproduktion kritisiert hat. 70 „The voice [...] discloses not a metaphysics of presence but an erotics of presence“, wie John Durham Peters anmerkt. 71 Adornos rigidem Urteil kann Peters allerdings nur teilweise zustimmen und spricht sich stattdessen für eine ernsthafte und zugleich lustvolle Beschäftigung mit dem Gegenstand aus. In diesem Sinne lässt sich auch das Hörbuch als Element einer „Faszinationsgeschichte der Stimme“ 72 verstehen, die parallel zu einer traditionsreichen Kultur des Visuellen verläuft und aus der Perspektive unterschiedlicher Disziplinen zu schreiben sein wird. 1 Elaine Audet: „Antoinette Fouque, entre féminisme et libération des femmes“. 28 janvier 2006. http: / / sisyphe.org/ article.php3? id_article=2207 (eingesehen am 4.3.2007) 2 Mittlerweile umfasst die bibliothèque des voix mehr als 100 Titel, darunter Autorenlesungen von Nathalie Sarraute, Marguerite Duras, Françoise Sagan, oder Schauspielerlesungen mit Catherine Deneuve, Isabelle Adjani, Michel Piccoli, Fanny Ardent (http: / / www.desfemmes.fr/ histoire.htm; eingesehen am 17.3.2007). 3 Vgl. beispielsweise die Übersetzungshilfe auf www.woxikon.de/ wort/ Hörbuch.php (eingesehen am 5.3.2007). 4 Vgl. http: / / www.livreaudio.info/ (eingesehen am 5.3.2007). 5 Während im Duden von 2003 der Eintrag Hörbuch erscheint, findet sich im Petit Robert des Jahres 2007 lediglich ein Hinweis auf livre cassette. 281 6 Vgl. Ute Henning: Der Hörbuchmarkt in Deutschland. Münster, 2002, 19. 7 Vgl. Elisabeth Philippe: „Le livre audio sort de l’ombre.“ In: Le Monde, 21.5.2004; Jonathan Journiac: „Aux frontières de la lecture. Le livre audio.“ In: http: / / www.evene.fr, eingesehen am 15.3.2007. 8 Vgl. Buchkultur - Digitale Medien. Frankfurter Buchmesse 2005, 6. 9 Tobias Lehmkuhl: „Bloßer Bügelbegleiter? Über das Hörbuch“ In: Merkur: Deutsche Zeitschrift für Europäisches Denken, April 2005 (59), 362-366; weitere Beiträge zu diesem Thema sind: Rüdiger Zymner: „Lesen hören: Das Hörbuch.“ In: ders. (ed.): Allgemeine Literaturwissenschaft. Grundfragen einer besonderen Disziplin. Berlin, 2001, 208-215; Marie Steadman: „Audio Shakespeare”. In: Sh@kespeare in the Media: From the Globe Theatre to the World Wide Web. Frankfurt/ M., 2004, 121-134; James Shokoff: „What is an Audiobook? “ In: Journal of Popular Culture, spring 2001, 34 (4), 171-181. 10 „Das Hörbuch - Mehr als ein Lektüreersatz? “ In: Verlag und Studio für Hörbuchproduktionen. In: http: / / www.hoerbuch.de (eingesehen am 5.3.2007). 11 Antje Frey (hr-Medienforschung): „Das Buch fürs Ohr wird populär“. In: Media Perspektiven 5/ 2003, 233. (http: / / www.ard-werbung.de/ showfile.phtml/ fey.pdf? foid=7422; eingesehen am 12.3.2007). 12 Metzler Literatur Lexikon. Begriffe und Definitionen. Hg. von Günther und Irmgard Schweikle. Stuttgart, 1990, 207. 13 Wobei die literarischen Textsorten auch Lyrik, Kriminalliteratur und Kinderbücher umfassen. Sobald jedoch von „akustischen Reise- oder Stadtführern“, „gesprochenen Ratgebern“ oder „Dokumentationen auditiver Kunstwerke“ die Rede ist, entfällt auch das Attribut ‘Hörbuch’. 14 Zwischen Autoren- und Schauspielerlesung unterscheidet z.B. Barbara Schäfer: „Von Ohrenschmaus bis Ohrensausen. Neue Hörbücher im Herbst.“ In: Spiegel Special, 1996, Nr. 10, 100. 15 Zur Unterscheidung von inszenierter und klassischer Lesung vgl. www.wissen.de; eingesehen am 17.10.2005. 16 Patrick Frémaux, Claude Colombini: „Plaidoyer pour la librairie sonore.“ In: Mémoire mauve sur le patrimoine sonore. Frémaux & Associés 2004-2005. www.frémaux.com (siehe unter „Mémoires et études“), eingesehen am 26.2.2007. 17 Allerdings ist dies nicht der erste Audio-Verlag Frankreichs: Bereits seit 1987 existiert das kleine Unternehmen Mots et Merveilles im 13. Arrondissement von Paris, dessen Geschäftsführer Edgar Haddad schon lange an die Idee einer akustischen Bibliothek glaubt und auch unter schwierigen Bedingungen an ihr festhält: „Si nous tenons depuis 1986, c’est uniquement grâce au bouche-à-oreille et à une gestion ric et rac.“ (in: Philippe, Le livre audio sort de l’ombre). 18 „Notre mission est donc de remettre à la disposition du public l’ensemble du patrimoine collectif qui ne se voit pas mais qui s’entend - ou plutôt s’écoute.“ (Plaidoyer pour la Librairie Sonore et la voix. Discours de Patrick Frémaux à l’UNESCO, Entretiens Nathan, 12. mars 2005, 1, www.frémaux.com (siehe unter „Mémoires et études“), eingesehen am 26.2.2007). 19 Vgl. Emmanuel Hoog: „Tout garder? Les dilemmes de la mémoire à l’âge médiatique“. In: Mémoire mauve sur le patrimoine sonore. Frémaux & Associés 2004-2005, 1-3, www.frémaux.com (siehe unter „Mémoires et études“), eingesehen am 26.2.2007. 20 Im Folgenden wird der Begriff des kulturellen Gedächtnisses verwendet, das nach Jan Assmann durch „feste Objektivationen“ bzw. „spezialisierte Traditionsträger“ von identitätssicherndem Wissen gekennzeichnet ist und die Funktionen der Speicherung, Abru- 282 fung und Mitteilung zu erfüllen hat (vgl. Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München, 4 2002, 56). 21 Hoog, Tout garder? , 1. 22 Ebd. Im Jahre 1999 hat der INA mit der Digitalisierung dieser Materialien begonnen. Den von Emmanuel Hoog in diesem Artikel beschriebenen Schwierigkeiten einer legitimen Selektion begegnet das Nationalarchiv, indem eine vollständige Archivierung angestrebt wird. 23 Plaidoyer pour la Librairie Sonore et la voix, 1. 24 In der Nachkriegszeit erfährt das Hörspiel in Deutschland einen Aufschwung, wie er in keinem anderen europäischen Land zu verzeichnen ist. Der Hörspielpreis der Kriegsblinden, der 1951 ins Leben gerufen wird, gilt als ein besonderes Qualitätsmerkmal der literarischen Produktion und trägt bis heute dazu bei, dass das „symbolische Kapital“ von Hörspielautoren in Deutschland noch immer größer ist als in seinem Nachbarland (vgl. Thomas Bräutigam: Hörspiel-Lexikon. Konstanz, 2005, 7-10, sowie zur deutschen Hörspielforschung die Bibliographie, 527-540). 25 Zum sogenannten théâtre radiophonique siehe vor allem: Robin Wilkinson: „Spécificité du théâtre radiophonique“. In: Voix et création au XX e siècle. Actes du Colloque de Montpellier, 26, 27, 28 janvier 1995, textes réunis par Michel Collomb. Paris, 1997, 73-78; Geitner, Christa: „Hörspiel. Jeu acoustique“. In: Hermès sans fil. Ouvrage collectif sous la direction d’Alain Montandon, Clermont-Ferrand, 1995, 219-233. Armin P. Frank: Das Hörspiel. Vergleichende Beschreibung und Analyse einer neuen Kunstform durchgeführt an amerikanischen, deutschen, englischen und französischen Texten. Heidelberg, 1963; Jean Tardieu (et al.): Grandeurs et faiblesses de la radio. Essai sur l’évolution, le rôle créateur et la portée culturelle de l’art radiophonique dans la société contemporaine. Unesco, 1969. 26 Vgl. Frank, Das Hörspiel, 66. 27 Vgl. ebd., 24. 28 Tardieu, Grandeurs et faiblesses de la radio, 42. 29 „Je ne voudrais pas ranimer ici la vieille question de savoir si la radio est un art ou n’est pas un art.“ (ebd.). Mit dem Verhältnis zwischen Schriftsteller und Radio setzen sich in jüngerer Zeit folgende Publikationen des Centre d’Étude du XXe siècle Université Paul- Valéry in Montpellier auseinander: Les écrivains à la radio: Les Entretiens de Jean Amrouche. Études et documents écrits et sonores réunis par Pierre-Marie Héron. Montpellier 2000; Les écrivains hommes de radio (1940-1970). Communications et Documents écrits et sonores réunis et présentés par Pierre-Marie Héron. Montpellier 2001; Les écrivains et la radio. Actes du colloque international de Montpellier (23-25 mai 2002), réunis et présentés par Pierre-Marie Héron. Montpellier 2003. 30 Zum Club d’Essai siehe La Radio d’art et d’essai en France après 1945. Club d’Essai de Paris - Centre d’essai de Montpellier. Souvenir, communications, documents écrits et sonores réunis et présentés par Pierre-Marie Héron. Montpellier, Centre d’étude du XXe siècle Université Paul-Valéry 2006. 31 Jean Tardieu: „The Club d’Essai“. In: BBC Quarterly, col. 7, n°4, Winter 1952-53, 227-234 (translated by Miss K. Skusse). Zitiert nach La Radio d’art et d’essai en France après 1945. 311-320, 312-313 (Rückübersetzung ins Französische durch Christopher Todd). 32 Siehe hierzu die Dokumente im Anhang von La Radio d’art et d’essai en France après 1945. 279-323. 33 So findet man unter den Autorenlesungen Namen wie Albert Camus mit Caligula und L’Etranger oder Marcel Pagnol mit La Gloire de mon père, unter den Schauspielerlesungen Arletty und Michel Simon mit Voyage au bout de la nuit, unter den Zeitdokumenten 283 ein dreistündiges Gespräch zwischen Rony Brauman, dem ehemaligen Präsidenten der Médecins sans frontières, und dem damaligen französischen Außenminister Hubert Védrine, und unter den Zeitzeugnissen die Stimmen von Überlebenden historischer Katastrophen. 34 Man denke nur an den durchschlagenden Erfolg der Brigitte-Hörbuchreihe „Starke Stimmen“, für die jeweils eine aus Film oder Fernsehen bekannte Schauspielerin einen Erzähltext einlas: Bereits in der ersten Woche nach ihrem Erscheinen im Februar 2005 wurden 15.000 Gesamt-Editionen und 400.000 Einzelexemplare verkauft (vgl. buchreport, 10.3.2005, 13). 35 So wirbt z.B. Gallimard derzeit für seine Hörbuchreihe „Ecoutez lire“, für die Romanklassiker und Kinderbücher des Verlagsprogramms eingelesen werden (vgl. „Les coulisses de la collection ‘Ecoutez lire’“, http: / / www.livreaudio.info, eingesehen am 15.3.2007). 36 Frank, Das Hörspiel, 22. 37 Das Drama wird hier nicht berücksichtigt, da es analog zum Hörspiel für die Aufführung geschrieben wurde. Das Verhältnis von Hörbuch und Drama ist bislang jedoch auch noch nicht untersucht worden und stellt ein reizvolles Desiderat der Forschung dar. 38 Zur Geschichte des Lesens und insbesondere zum komplexen Verhältnis zwischen der gemeinschaftlichen und der stillen Lektüre vgl. Roger Chartier, Guglielmo Cavallo (Hg.): Die Welt des Lesens. Von der Schriftrolle zum Bildschirm. Frankfurt/ M. 1999; Alberto Manguel: Eine Geschichte des Lesens. Berlin 1998 (insbesondere die Kapitel „Die stillen Leser“, 55-104, „Vorlesen“, 133-150); Roger Chartier: „Loisir et sociabilité, lire à haute voix dans l’Europe moderne.“ In: Littératures classiques, n°12, janvier 1990, 127-147. 39 Zur Entkörperung der Stimme bzw. zum Verhältnis von Stimme und Reproduktionsmedien siehe: Doris Kolesch: „Natürlich künstlich. Über Stimmen im Medienzeitalter,“ in: Doris Kolesch, Jenny Schrödl (eds.): Kunst-Stimmen, Berlin, 2004, 19-39; John Durham Peters: „The Voice and Modern Media“, in: Kunst-Stimmen, 85-101; Karl-Heinz Göttert: Geschichte der Stimme, München, 1998, 399-423; Thomas Macho: „Stimmen ohne Körper. Anmerkungen zur Technikgeschichte der Stimme“, in: Doris Kolesch, Sybille Krämer (eds.): Stimme. Frankfurt/ M., 2006, 130-146. 40 Vgl. Michail Bachtin: „Das Wort im Roman“. In: ders.: Die Ästhetik des Wortes. Übersetzt von Rainer Grübel und Sabine Reese. Frankfurt/ M., 1979, 154-300; Gérard Genette: „Discours du récit. Essai de méthode“. In: ders.: Figures III. Paris, 1972, 65-273. 41 Zum Verhältnis von metaphorischer und nicht-metaphorischer ‚Stimme’ vgl. den Sammelband Voix et création au XX e siècle. Actes du Colloque de Montpellier, 26, 27, 28 janvier 1995, textes réunis par Michel Collomb. Paris, 1997 sowie Jean-Pierre Martin: La bande sonore. Beckett, Céline, Duras, Genet, Perec, Pinget, Queneau, Sarraute, Sartre. Paris, 1998. Martin kritisiert hier den unreflektierten Umgang mit der Metaphorik: „La voix dans le roman est un mentir, une imposture, une illusion, une mystification, un faux-semblant. Au mieux, une métaphore.“ (ebd., 32) Zugleich kreisen auch seine eigenen Ausführungen um den Begriff der Stimme, den er als Metapher explizit macht und so in den analytischen Gebrauch (zurück) überführt. In diesem Sinne behalten auch die folgenden Überlegungen den literarischen Stimmenbegriff bei. 42 Marie Darrieussecq: Schweinerei. Gesprochen von Birgit Zamulo. München, der HörVerlag, 1997. (1 MC, 90 Minuten). 43 Vgl. Heinz Schwitzke: Das Hörspiel. Dramaturgie und Geschichte. Köln, Berlin, 1963, 251: „Erzählt eine anonyme Stimme, so fehlt die Motivation, die Anschauung und darum das Vertrauen. Der Erzähler als handelnde Person aber bedeutet Vergegenwärtigung.“ Die These von der ‚inneren Stimme’ als Spezifikum des Hörspiels wird allerdings durch 284 die technischen Möglichkeiten, mit denen das sogenannte „Neue Hörspiel“ seit Ende der sechziger Jahren experimentiert, widerlegt (vgl. Geitner, Hörspiel, 223). 44 Diesen Sachverhalt macht sich das Hörspiel zunutze, beispielsweise ein Werk von Günter Eich aus dem Jahre 1952, Der Tiger Jussuf (2002 auf CD in der Noa Noa Hör-Buchedition erschienen. Vgl. auch Bräutigam, Hörspiel-Lexikon, 374). In diesem Hörspiel geht es um die ‘Seelenwanderung’ eines Tigers durch verschiedene Körper. Schwitzke hat u.a. dieses Werk vor Augen, wenn er von der Eignung der Ich-Perspektive für das Radio spricht. 45 Zitiert in: Jeannette Gaudet: „’Des livres sur la liberté’: conversation avec Marie Darrieussecq“. In: Dalhousie French Studies 59 (2002), 108-118, 109. 46 Ebd., 110. 47 Ebd., 109. 48 „Die Redevielfalt, die in den Roman eingeführt wird (welcher Art die Formen ihrer Einführung auch sein mögen) ist fremde Rede in fremder Sprache, die dem gebrochenen Ausdruck der Autorenintentionen dient. Das Wort einer solchen Rede ist ein zweistimmiges Wort. Es dient gleichzeitig zwei Sprechern und drückt gleichzeitig zwei verschiedene Intentionen aus: die direkte Intention der sprechenden Person und die gebrochene des Autors.“ (Bachtin, Das Wort im Roman, 213). 49 Der Text steht damit in der Tradition des sogenannten roman de voix, den Jean-Pierre Martin für die erste Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts definiert als „avatar de la forme romanesque au XX e siècle qui prend en compte ou anticipe, dans ses exigences esthétiques et ses effets de voix, les mutations dans l’imaginaire de la voix […]; où se racontent, de multiples façons, parfois antinomiques, l’entremêlement inextricable de ma voix, de la voix des autres, et de la Grande Voix multipliée de la logosphère […].“ (Martin, La bande sonore, 38). 50 Bachtin, Das Wort im Roman, 213. Dieses Prinzip deckt sich mit der Aussage der Autorin über die Bedeutung des Romantitels: „C’était l’idée de départ de Truismes, c’est-à-dire qu’au départ cette femme est engluée dans ce que j’appelle des ‘truismes’, les clichés, les on-dit des journaux, tout ce qu’elle entend autour d’elle, y compris les clichés racistes, sexistes. C’est un perroquet.“ (Gaudet, conversation avec Marie Darrieussecq, 108/ 109). 51 Bachtin, Das Wort im Roman, 213. 52 Und schon gar nicht in jenem Schwein, das oft genug instinktiv mit der Herde läuft: „C’était plus facile de se laisser aller, de manger, de dormir, ça ne demandait pas d’effort, juste de l’énergie vitale et il y en avait dans mes muscles de truie, dans ma vulve de truie, dans mon cerveau de truie, il y en avait suffisamment pour faire une vie de bauge.“ (Marie Darrieussecq: Truismes. P.O.L., 1996, 140). 53 Zur Entstehung dieser Metaphorik im Zusammenhang mit unterschiedlichen Verkörperungstechniken der Stimme siehe Macho, Stimmen ohne Körper, 133: „Jaynes vermutete, das Zeitalter der [altägyptischen] Stimmenhalluzinationen sei erst nach Erfindung und Verbreitung der Schrift zu Ende gegangen, genauer gesagt: nach der Durchsetzung von Vokalalphabeten, mit deren Hilfe die Stimmen aufgezeichnet und fixiert werden konnten. Nun mussten die Toten nicht mehr konserviert oder als Statuen verewigt werden; die Funktion der Verkörperung von Stimmen fiel den Schriften und Texten zu.“ 54 Vgl. hierzu Shokoff, What is an Audiobook? , 172-173. 55 So ist beispielsweise auffällig, dass für die deutsche Hörbuchfassung von Truismes die captatio benevolentiae zu Beginn des Romans stark gekürzt wurde, wodurch natürlich die Ironisierung des fiktiven Lesers, respektive Hörers in den Hintergrund tritt. 56 Shokoff, What is an Audiobook, 175. 285 57 Doris Kolesch, Sybille Krämer: „Stimmen im Konzert der Disziplinen. Zur Einführung in diesen Band“. In: Doris Kolesch, Sybille Krämer (eds.): Stimme. Frankfurt/ M., 2006, 7-15, 7. 58 Vgl. Sybille Krämer: „Die ‘Rehabilitierung der Stimme’. Über die Oralität hinaus“. In: Kolesch, Krämer (eds.), Stimme, 269-295, 271. 59 Vgl. Göttert, Geschichte der Stimme, 15-17 sowie Martin, La bande sonore, 35: „[…] une mythographie de la voix comme rédemption,ou comme revitalisation de l’écrit.“ Zur langen Tradition der „Mündlichkeitseuphorie“ siehe auch: Karl-Heinz Göttert: „Wider den toten Buchstaben. Zur Problemgeschichte eines Topos.“ In: Friedrich Kittler, Thomas Macho, Sigrid Weigel. (eds.): Zwischen Rauschen und Offenbarung. Zur Kultur- und Mediengeschichte der Stimme. Berlin, 2002, 93-113. 60 Göttert, Geschichte der Stimme, 15. 61 Olivier Germain-Thomas: Voix de poètes. 14 poètes disent leurs textes d’Apollinaire à Saint-John Perse. 2 Vol., France Culture (et al.), 1993. 62 Ebd. Vol I, track 1: Présentation par Olivier Germain-Thomas (Transkription S.B.). 63 www.larevuedesressources.org (eingesehen am 21.2.2007). 64 Ferdinand Brunot, der seit 1900 den Lehrstuhl für „Histoire de la langue française“ an der Sorbonne inne hatte, gründete am 3. Juni 1911 mit den Archives de la parole das erste an eine französische Universität angeschlossene Institut für phonetische Forschung. (vgl. www.larevuedesressources.org, eingesehen am 21.2.2007). 65 Zu dieser Differenzerfahrung siehe Kolesch, Natürlich künstlich, 30-35. 66 Zum Aura-Begriff nach Benjamin, auf den hier Bezug genommen wird, siehe: Walter Benjamin: „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit.“ In: ders.: Illuminationen. Ausgewählte Schriften I. Frankfurt/ M., 1977, 136-169. 67 Wobei mit dem Autornamen zugleich eine historische Situation aufgerufen wird, beispielsweise die zu Beginn des Jahrhunderts noch ungewöhnliche Begegnung zwischen Maschine und Mensch, auf die sich der ‘Kultwert der Erinnerung’ ebenso bezieht wie auf die Person des Autors. 68 Vgl. Göttert, Geschichte der Stimme, 15-16. 69 Kolesch, Natürlich künstlich, 20. 70 Vgl. Adorno, Theodor W.: Zu einer Theorie der musikalischen Reproduktion. Hg. von Henri Lonitz, Frankfurt/ M., 2001, 15. Zur Problematik der voix fétiche vgl. auch Martin, La bande sonore, 14-21. 71 Peters, The Voice and Modern Media, 100. 72 Kolesch, Natürlich künstlich, 19. Résumé: Stephanie Bung, „Penser la voix“: Le livre audio en France. Le livre audio constitue désormais un marché au fort potentiel de croissance en France. Cet article propose une première définition du livre audio en tant que phénomène littéraire dont la spécificité générique et esthétique n’a pas encore été analysée jusqu’ici. Il s’agit de le présenter à l’intérieur du champ littéraire français avant de forger des instruments d’analyse à partir de la notion de ‘voix’. Son transfert du domaine métaphorique de la littérature dans un contexte performatif est étudié à partir du roman Truismes de Marie Darrieussecq. La formule ‘lu par l’auteur’ suscite d’avantage l’intérêt du public. La fascination de la voix de l’auteur serait-elle en mesure de rendre au texte écrit son ‘aura’? Dans cet article, j’essayerai de répondre à cette question à partir du poème Le Pont Mirabeau lu par Apollinaire.