eJournals lendemains 34/134-135

lendemains
0170-3803
2941-0843
Narr Verlag Tübingen
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2009
34134-135

Interkulturelle Bachelor- und Master-Studiengänge in der Romanistik zwischen Praxisbezug und Wissenschaftlichkeit

2009
Hans-Jürgen Lüsebrink
Christoph Vatter
ldm34134-1350207
207 Hans-Jürgen Lüsebrink/ Christoph Vatter Interkulturelle Bachelor- und Master-Studiengänge in der Romanistik zwischen Praxisbezug und Wissenschaftlichkeit: Konzeptionelle Herausforderungen und Erfahrungen aus integrierten deutsch-französischen Studiengängen Neue Herausforderungen Die einschneidenden Veränderungen, mit denen die europäischen Universitäten im Zuge des Bologna-Prozesses konfrontiert sind, stellen insbesondere die Geistes- und Kulturwissenschaften vor Herausforderungen, die weit über die konzeptuellen Schwierigkeiten und bürokratischen Anstrengungen im Zuge der Neuorganisation und Umgestaltung von Curricula hinausgehen. Denn während es einerseits um die praktisch-strukturellen und rechnerischen Aspekte der Modularisierung geht, d.h. der Neuordnung von Studieninhalten und Lehrveranstaltungen in Module sowie der damit verbundenen Beschreibung von Lernzielen und der Bezifferung von Arbeitsbzw. Prüfungsaufwand für Studierende, stellt sich auf der anderen Seite für die Geistes- und Kulturwissenschaften das Problem des ebenfalls im Reformvorhaben omnipräsenten Rufs nach Berufsorientierung und Praxisbezug in besonderer Art und Weise. Viele Disziplinen stehen in diesem Bereich - von der Lehrerausbildung abgesehen - traditionell unter einem gewissen Legitimationsdruck, da klassische Berufsfelder wie in den Bereichen Journalismus oder Verlagswesen zwar immer noch in zahlreichen geisteswissenschaftlichen Studiengangsbeschreibungen an vorderer Stelle angeführt werden, in der Praxis allerdings nur eine äußerst geringe Anzahl an Absolventen aufnehmen können. Die aus dieser Situation heraus erforderlichen Neupositionierungen und -orientierungen vieler Disziplinen lassen sich an den Benennungen zahlreicher neuer Bachelor- und Master-Studiengänge ablesen, aus denen in vielen Fällen nur noch mit großer kreativer Anstrengung bzw. durch einen genauen Blick in die Details der Inhaltsbeschreibungen Rückschlüsse auf die ursprünglichen Disziplinen gezogen werden können, was - nicht nur - Studienanfängern und -interessierten die Orientierung häufig eher erschwert als erleichtert. Die Proliferation dieser neuen Bezeichnungen, hinter denen sich selbstverständlich auch eine Reihe produktiver Zusammenschlüsse aus verschiedenen Disziplinen und wirkliche Neuerungen verbergen, ist bezeichnend für Fächer, die auf der Suche nach einer Identität sind, die durch die Bologna-Reform in Frage gestellt wird oder zumindest neu ausgelotet werden muss. Die Romanistik mit der fachspezifischen Diskussion über Gegenstände und 208 Methoden scheint hiervon in besonderem Maße betroffen; zahlreiche neu geschaffene Studienangebote vollziehen beispielsweise eine Neupositionierung, die sich insbesondere in einem höheren Stellenwert kultur- und medienwissenschaftlicher Inhalte sowie der Landeskunde bzw. deren deutlicher curricularer Verankerung niederschlägt. Bezüglich verschiedener Ausrichtungen romanistischer Studiengänge unterscheidet Wolfgang Asholt in seinem 2005 veröffentlichten Versuch einer frühen, orientierenden Bilanz, die im Rahmen eines Schwerpunktes zur zukünftigen Entwicklung der Romanistik in der Zeitschrift Grenzgänge erschienen ist, 1 verschiedene Modelle von Curricula, mit denen die deutsche Romanistik die Herausforderung Bologna an verschiedenen Standorten angegangen ist. Zusammengefasst lassen sich die meisten neu entwickelten Studiengänge anhand einer Matrix auf zwei Achsen einordnen, die allerdings in der Praxis eng miteinander verknüpft sind: Die erste Achse unterscheidet demnach zwischen einem eher defensiven und einem eher offensiven Umgang mit der Reform, die zweite Achse betrifft vielmehr die inhaltlich-fachliche Ebene und beschreibt, inwiefern die Studienangebote traditionelle Romanistik-Studiengänge mit den Säulen der Sprach- und Literaturwissenschaft fortschreiben oder eher eine Modernisierung des Fachs widerspiegeln. Bei den Beispielen, die sich durch einen eher offensiven Umgang mit der Reform auszeichnen und in denen der Bologna-Prozess auch als Chance für eine Neuorientierung und Modernisierung des Fachs gesehen wurde, scheinen sich als Gemeinsamkeiten vor allem eine verstärkte interdisziplinäre Zusammenarbeit sowie eine stärkere Verankerung der Kultur- und Medienwissenschaft herauszukristallisieren. Außerdem stellt sich die Frage des Praxisbezugs, der aus strategischer Perspektive nicht allein fachübergreifenden Zusatzangeboten wie z.B. Workshops zur Vermittlung von sog. Schlüsselkompetenzen wie Kommunikations- und Präsentationsfertigkeiten und Praktika überlassen werden sollte. Im Folgenden sollen daher zunächst Überlegungen zu einer Praxisorientierung in interkulturell ausgerichteten romanistischen Studiengängen ausgeführt werden, die auf einer eng mit fachlichen Traditionen verknüpften Kompetenzausbildung beruhen. Im Anschluss sollen am Beispiel der integrierten deutsch-französischen Studiengänge der Universität des Saarlandes und der Université Paul Verlaine-Metz Ergebnisse und Erfahrungen dargestellt werden, da diese Studiengänge zwar einerseits modellhaft für eine Europäisierung und Internationalisierung des Studiums stehen, andererseits aber zeigen, wie die administrativen und prüfungsrechtlichen Anforderungen der Bologna-Reform, die in Deutschland und Frankreich mit jeweils spezifischen Zwängen und Vorgaben umgesetzt wird, grenzüberschreitende Hochschulkooperation gleichzeitig erschweren. 209 Praxisbezüge in der Wissenschaft - Herausforderungen und Neuorientierungen am Beispiel der Fremdsprachenphilologien 2 Die Problematik des Praxisbezugs von Wissenschaft stellt sich im Kontext der Geisteswissenschaften - und hier wiederum in den Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaften - in besonders ausgeprägter Weise, gelten sie doch tendenziell, zusammen mit Fächern wie Philosophie und Geschichtswissenschaft, häufig geradezu als Verkörperung des so genannten wissenschaftlichen ‘Elfenbeinturms’, d.h. der Abgehobenheit wissenschaftlicher Lehre und Forschung von unmittelbaren Anwendungsbezügen. Die Herstellung dieser Praxisbezüge und die Vermittlung hiermit verknüpfter Berufsqualifikationen entspricht einer generellen Tendenz der Öffnung auch der Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaften zu neuen Gegenstandsbereichen, die seit knapp zwei Jahrzehnten auch in Deutschland zu beobachten ist. 3 Sie hat sich seit der Einführung der BA-/ MA-Studiengänge in den Philologien deutlich verstärkt. Dies gilt sowohl für die Lehramtsstudiengänge als auch für die auf andere Berufsfelder wie Wirtschaftsunternehmen, Medien und internationale Organisationen abzielenden Studiengänge, zu denen beispielsweise die von der Universität des Saarlandes angebotenen Studiengänge „Historisch Orientierte Kulturwissenschaft“, „Grenzüberschreitende deutsch-französische Studien“ und „Französische Kulturwissenschaft und Interkulturelle Kommunikation“ 4 oder der 1989/ 90 eröffnete, auch bundesweit sehr erfolgreiche (und mittlerweile in BA/ MA-Studiengänge überführte) Diplomstudiengang „Sprachen, Wirtschafts- und Kulturraumstudien“ an der Universität Passau gehören. Diese Studiengänge zeichnen sich durch drei grundlegende Charakteristika aus: • erstens eine interdisziplinäre Ausrichtung, bei der neben dem traditionellen fachlichen Kernbereich der Sprach- und Literaturwissenschaften die Verknüpfung mit anderen Disziplinen - und damit auch Praxisbereichen - wie vor allem Soziologie, Psychologie und Wirtschaftswissenschaften eine zentrale Rolle spielt; • zweitens die Einbeziehung kulturwissenschaftlicher Fragestellungen, Methoden und Praxisbereiche, die sich großenteils erst in den letzten 20-25 Jahren entwickelt haben und das Profil vor allem der traditionellen Fremdsprachenphilologien seitdem geprägt und verändert haben; • drittens die Weiterentwicklung der Kernkompetenzen kulturwissenschaftlicher Disziplinen, die in den Bereichen Text- und Medienanalyse, Text- und Medienproduktion sowie - in den Fremdsprachenphilologien - in differenzierter Sprachhandlungskompetenz bestehen, d.h. der Fähigkeit, in der Fremdsprache in unterschiedlichsten Kommunikationssituationen kompetent zu handeln. Diese drei Grundcharakteristika kulturwissenschaftlicher Studiengänge im definierten Sinn stellen an den Theorie-Praxis-Bezug besondere Herausforderungen, die anders gelagert sind als beispielsweise in der Medizin, den Wirtschaftswissenschaften oder den Naturwissenschaften. Sie setzen voraus, dass im Studium differenziertes methodisches und theoretisches Wissen vermittelt wird, dessen direkter Anwendungsbezug sich häufig nicht unmittelbar erschließt, sondern die Fähigkeit 210 zum flexiblen Transfer methodischer Ansätze und Theoriemodelle impliziert. So kann beispielsweise die Analyse von Erzählstrukturen durchaus auch an auf den ersten Blick sehr ‘praxisfernen’ Untersuchungsgegenständen vermittelt und erprobt werden, wie etwa Erzähltexten des Mittelalters oder des 18. Jahrhunderts. Das erlernte methodische und theoretische Wissen lässt sich aber in vielfacher Weise bei entsprechender didaktischer Vermittlung nicht nur auf die Analyse, sondern auch auf die Produktion praxisnaher Texte und Medienformate - wie zum Beispiel von Fernsehspielen oder von Hörspielen im Radio - übertragen. Christian Salmon beispielsweise hat in seinem Werk Storytelling. La machine à fabriquer des histoires et à formater les esprits (2007) in inspirierender Weise Rolle und Funktion narrativer Strukturen in zahlreichen ‘literaturfernen’ Bereichen wie Politik, Wirtschaftsunternehmen und Massenmedien aufgezeigt. 5 Der praktisch nutzbare Stellenwert von Wissen, das auf den ersten Blick theoretisch und praxisfern anmutet, wie zum Beispiel die Methoden literaturwissenschaftlicher Textanalyse oder Analyseverfahren der linguistischen Pragmatik, wird häufig in der derzeitigen Diskussion um Praxisbezüge in der Wissenschaft völlig unterschätzt. Das hiermit verknüpfte Theorie-Praxis-Verhältnis trifft jedoch den Nerv des Selbstverständnisses und der Legitimation von universitärer Wissenschaft, auch in den Geisteswissenschaften, die anders als Betriebspraktika oder Trainee-Programme von Unternehmen oder Consulting-Firmen ihren Praxisbezug auf einer differenzierten methodischen und theoretischen Grundlagenforschung gründen. Praxisbezüge in einer Fremdsprachenphilologie wie der Romanistik müssen auch - den Fachtraditionen folgend - eine historische Dimension aufweisen, ohne die Gegenwartsbezüge - und damit auch gegenwärtige Praxiserfahrungen - nicht hinreichend verstanden werden können. Der Praxisbezug in den Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaften ist somit anders zu denken als in anderen Wissenschaften. Er stellt sich - notwendigerweise - vermittelter dar, ist häufig weniger rasch herzustellen und erfordert stärkere und gezieltere Transferleistungen. Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaften sind hermeneutische, verstehensorientierte Wissenschaften, deren Methoden und Erkenntnisse vergleichsweise unverhältnismäßig viel Zeit in Anspruch nehmen und deren unmittelbarer Anwendungsbezug, im Vergleich zu anderen Wissenschaften, häufig viel langsamer sichtbar wird. Es wäre zweifelsohne ökonomischer, an die Stelle der Lektüre eines umfangreichen literarischen Werkes - wie Emile Zolas sozialkritischem Roman Germinal (1885) - dessen Verfilmung zu sehen und zu analysieren, was etwa zehnmal weniger Zeit beansprucht und auch bei zahlreichen Studierenden auf deutliche Gegenliebe stoßen würde. Und selbst Schnellleser brauchen für den 230-Seiten-Roman Le thé au Harem d’Archi Ahmed (1983) des algerischen Schriftstellers Mehdi Charef zumindest doppelt, meistens jedoch dreimal soviel Zeit wie für die Filmfassung, wenn sie die Thematik des Buches und die dargestellte Wirklichkeit algerischer Immigranten im zeitgenössischen Frankreich auch nur halbwegs angemessen verstehen und nachvollziehen wollen. Das Lesen von Literatur, zumal in Fremdsprachen, steht bei genauerem Hinsehen vor allem deswegen quer zu (post)modernen kultu- 211 rellen und gesellschaftlichen Strömungen, weil es zum einen Zeit braucht, unvergleichlich mehr Zeit als jedes neue kulturelle (Massen-)Medium; und weil es zum anderen das Individuum tendenziell isoliert, sich nicht oder nur in sehr eingeschränkter Weise in der Gruppe, in der Familie, im Kollektiv vollziehen lässt. Harald Weinrich hat diese Zusammenhänge in seinem bemerkenswerten Vortrag beim Romanistentag 1997 in Jena umrissen: Wer Romanist sein oder werden will, muß für diese Disziplin - ja, Disziplin - zum Normalhaushalt seiner Arbeitszeit viel, sehr viel Zeit aus dem weiteren Budget seiner Lebenszeit - aus seiner Freizeit - hinzuzahlen. (...). Es ist daher für die Romanistik weiterhin ein hochachtbarer Platz in der Forschung und Lehre deutscher Universitäten zu reklamieren. Und wenn diese Disziplin dabei auf den ersten Blick nicht den Eindruck macht, zu den großen Rennern und Tempomachern der heutigen Universitätslandschaft zu gehören, so ist für sie eben die „sachliche Würde der Langsamkeit“ zu reklamieren, für die Thomas Mann bei seiner „Meerfahrt mit Don Quijote“ seine tiefe Sympathie erklärt hat. Denn zwischen Kultur und Langsamkeit besteht wohl ein Wesenszusammenhang. Vielleicht sind beide Wörter überhaupt Synonyme.6 Einem verkürzt ökonomischen Verständnis von Kultur, das das Lesen benachteiligt und audio-visuelle Kulturpraktiken, vom Fernsehen bis zum Internet, über Gebühr aufwertet, ist gerade auch im Kontext der neuen BA-/ MA-Studiengänge ein Verständnis von Kultur entgegenzusetzen, das man - der Terminologie Harald Weinrichs folgend - ökologisch nennen könnte. Weinrich hat in seinem Aufsatz den Zeitaufwand, den die Aneignung fremder Sprachen, Kulturen und Lebenswelten in Anspruch nimmt, mit dem Zeitaufwand verglichen, den jede intensivere zwischenmenschliche Kommunikation erfordere. Die Zuwendung zu anderen Kulturen und das interpersonale und interkulturelle Verstehen des Anderen sei, so Weinrich, zeitaufwändig und aus wirtschaftlicher Hinsicht, zumindest auf den ersten Blick und mit kurz- oder mittelfristigem Kalkül, völlig unökonomisch. Es vollziehe sich in wichtigen, aber verhältnismäßig langsamen Kulturtechniken und Kulturformen wie Höflichkeit, Aufmerksamkeit, Vertrauensaufbau, Zuhören, Lesen, Verstehen und intensivem Betrachten: So fällt zu einem Großteil auch die Literatur unter diese Begriffe, da sie, verglichen mit nichtliterarischen Formen des Redens und Schreibens, eine prinzipiell indirekte und insofern ‘sanfte’ Kommunikationsweise darstellt, durch die man probeweise lernen kann, schonend miteinander und mit der Welt umzugehen, vor allem dadurch, daß man sich für die Sprache ‘schön’ Zeit nimmt. Wieviel Zeit, genau? In dieser knappen Frage steckt wieder das Ökonomieproblem, das wir bereits von der Sprache her kennen und nun auch für die Literatur behandeln müssen, da das Lesen von Büchern, soviel Gewinn es auch abwirft, zweifellos ein höchst zeitverzehrendes Geschäft darstellt und insofern die knappe Ressource Lebenszeit erheblich belastet. Wenn das schon für die Literatur in der eigenen Sprache zutrifft, dann gilt es noch verstärkt für eine Lektüre in der Fremdsprache, bei der das Lesetempo ohnehin verlangsamt ist. Die Literatur scheint in ihrer Gesamtheit eine ziemlich unökonomische Angelegenheit zu sein, so daß es nicht weiter verwunderlich ist, wenn sich nicht wenige unserer Zeitgenossen von dieser zeitraubenden Beschäftigung abwenden und nur die anspruchslosesten Bücher an sich heranlassen.7 212 Das Verstehen des Anderen, vor allem anderer Sprachen, Literaturen und Kulturen, braucht Zeit und ist nicht in Schnell- und Kompaktseminaren zu bewältigen. Vor diesem Hintergrund ist das Theorie-Praxis-Verhältnis in den Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaften kritisch zu überdenken, angesichts der Notwendigkeit stärkerer Praxisbezüge, aber auch vor dem Hintergrund einer in den BA-/ MA- Studiengängen gelegentlich zu beobachtenden, vorschnellen ‘Fetischisierung der Praxis’. Es ist eine völlige Illusion zu glauben, Sprachen (und die hiermit untrennbar verknüpften Kulturen) könnten in zweibis vierwöchigen Schnellkursen ‘erlernt’ werden, ebenso wie die Konzeption - und die hiermit verbundene Zeitökonomie - vieler Kultur- und Trainingsseminare für Manager (etwa zur Vorbereitung auf einen längeren Auslandsaufenthalt) häufig äußerst problematisch ist. Die interkulturellen Konfliktpotentiale der Gegenwart haben sich nicht nur im Zuge der Globalisierung und der hierdurch hervorgerufenen kulturellen, sozialen und politischen Widerstände, beispielsweise im arabischen Raum, in den letzten beiden Jahrzehnten verstärkt; 8 sondern auch, weil zunehmend Medien und Kulturpraktiken zum Verständnis anderer Kulturen eingesetzt werden, die zum Teil extrem zeitökonomisch, aber zum Verstehen anderer Kulturen wenig geeignet oder gar völlig ungeeignet sind. 9 Die immense Mehrheit der Bevölkerung der Vereinigten Staaten, aber auch Westeuropas, nimmt die kulturellen Lebenswelten beispielsweise des subsaharischen Afrika oder des Vorderen Orients durch audio-visuelle Bilder wahr, deren Sichtweise, aber auch deren Rhythmus ein europäischer ist: etwa in Form von 10- Minuten-Reportagen des „Weltspiegels“ oder des ZDF-„Auslandsjournals“, die in den letzten Jahren, um den Durchschnittszuschauer nicht zu überfordern oder gar zu langweilen, einen dramatischeren und damit deutlich beschleunigten Stil angenommen haben; oder im noch ökonomischeren Nachrichtenrhythmus des US-amerikanischen Fernsehsenders CNN. Arabische und schwarzafrikanische Filme haben sich, aufgrund ihrer schlechteren Vertriebsnetze, aber auch aufgrund ihrer fremden, ungewohnten Ästhetik, ihres langsameren Zeitrhythmus und der fehlenden (inter)kulturellen Kompetenzen der meisten okzidentalen Zuschauer, in westlichen Medien nicht durchsetzen können, obwohl gerade sie einen ungleich direkteren und eingängigeren Zugang zu den kulturellen Codes ihrer Gesellschaften erlauben würden als kurzatmige Reportagen. Im Bereich beispielsweise der Literatur, dem sicherlich komplexesten Medium zum Verstehen fremder Lebens- und Erfahrungswirklichkeiten, welche für unsere Wahrnehmung und Aneignung anderer Kulturen jedoch aus Gründen der Zeitökonomie eine immer geringere Rolle spielt, besteht eine immense Diskrepanz zwischen dem Diskurs westlicher Journalisten und Literaten über fremde Kulturen auf der einen Seite und der grundsätzlichen Bereitschaft auf der anderen Seite, das zu lesen, zu hören und zu sehen - erst recht in der Originalsprache -, was beispielsweise arabische oder afrikanische Journalisten oder Filmemacher über ihre eigenen Kulturen und Lebenswelten gesagt, geschrieben und filmisch dargestellt haben. Ein Beispiel hierfür: Ein Bestseller wie Peter Scholl-Latours Buch Mord am großen Fluß. Ein Vierteljahrhundert afrikanische Unabhängigkeit (1986) über das 213 zeitgenössische subsaharische Afrika weist eine etwa 40-mal höhere Auflage auf als die erfolgreichsten Romane und Essays schwarzafrikanischer Schriftsteller und Journalisten in Deutschland seit dem Zweiten Weltkrieg und vermittelt zugleich ein Bild Afrikas, das von einer häufig recht oberflächlichen und klischeehaften Sicht des Kontinents geprägt ist. Einem einzigen Buch eines bekannten europäischen Journalisten wie Scholl-Latour, der zweifellos auch seine Meriten aufweist, vor allem im deutsch-französischen Kontext, aber nie längere Zeit in Afrika gelebt hat, auch keine afrikanische Sprache spricht und, wie zahlreiche kritische Rezensionen belegen, ein sehr problematisches und teilweise von Stereotypen geprägtes Bild Afrikas entwickelt, widmet somit die deutsche (Medien-)Öffentlichkeit ebensoviel Zeit und Aufmerksamkeit wie den erfolgreichsten Büchern afrikanischer Autoren und Journalisten der Gegenwart zusammen genommen. Dies ist ein äußerst problematischer Befund und ein frappierendes Armutszeugnis für die interkulturelle Sensibilität und Kompetenz der breiten deutschen Öffentlichkeit. Was ist aus den umrissenen Überlegungen für den Theorie-Praxis-Bezug der Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaften, beispielsweise für die Romanistik, abzuleiten? Vor dem Hintergrund der Überlegungen Weinrichs erscheint es erstens wichtig, sich auf die Kernkompetenzen der auf fremde Sprachen und Kulturen ausgerichteten Disziplinen dezidiert zurück zu besinnen, sie jedoch zugleich methodisch zu erweitern (etwa durch Ansätze aus der Interkulturellen Kommunikation und der Vergleichenden Literatur- und Kulturwissenschaft) und auf neue Gegenstandsbereiche zu übertragen. Zu diesen Kernkompetenzen, deren Aneignung allesamt - im Sinne von Harald Weinrich - notwendigerweise viel Zeit erfordert und erfordern muss, gehören in erster Linie: • die Sprachkompetenz, d.h. die aktive und passive Beherrschung von Fremdsprachen; • die Interkulturelle Kompetenz, d.h. das Verstehen fremder Kulturen, ihrer Codes und Kommunikationsformen; • die hermeneutische Kompetenz, d.h. das Verstehen und die Interpretation von Texten und Medien unter sprach-, literatur- und kulturwissenschaftlichen Gesichtspunkten; • die Text- und Sprachhandlungskompetenz, d.h. die Fähigkeit, Kommunikationsformen sowie Texte und Medien, die im Umgang mit fremden Kulturen eine Rolle spielen, zu produzieren, von der gesamten Bandbreite literarischer Gattungen über wissenschaftliche Textsorten (Artikel, Rezensionen etc.) bis zu Videofilmen, Stellenanzeigen, Werbespots, Interviews und Reportagen. In den traditionellen Fremdsprachenphilologien, die sich in den letzten beiden Jahrzehnten in unterschiedlicher Weise weiterentwickelt und neuen Herausforderungen der Praxis gegenüber geöffnet haben, spielt die Vermittlung dieser vier Kernkompetenzen seit jeher eine zentrale, wenn auch unterschiedlich ausgeprägte Rolle. Die hermeneutische Kompetenz beispielsweise setzt eine differenzierte Kenntnis von Theorien und Methoden der Textanalyse voraus, die aber erst in den letzten Jahrzehnten und häufig auch nur zaghaft und in Teilbereichen über das Gebiet 214 der (Höhenkamm-)Literatur und der Sprachnormen hinaus auf andere Gegenstandsbereiche wie Film, Fernsehen, Alltagskommunikation, politische Kommunikation und Unternehmenskommunikation ausgedehnt worden sind. Die Text- und Sprachhandlungskompetenz ist ihrerseits aufgrund fehlender Praxisbezüge und einer dominant analytischen Ausrichtung der universitären Studiengänge zweifellos vernachlässigt worden, obwohl ihr im Hinblick auf die berufliche Qualifizierung große Bedeutung zukommt. An US-amerikanischen und kanadischen Universitäten etwa wird diesem Bereich durch Kurse in Videoproduktion, Webdesign und „Creative Writing“ deutlich mehr Stellenwert beigemessen. Der Bereich der Vermittlung interkultureller Kompetenz schließlich, der an sich zum Kern der Fremdsprachenphilologien gehört bzw. gehören sollte, setzt die Vermittlung differenzierter landeskundlicher und kulturwissenschaftlicher Kenntnisse, eine systematische Einbeziehung komparatistischer Fragestellungen und eine interdisziplinäre Öffnung zu Nachbardisziplinen (wie Psychologie, Ethnologie/ Anthropologie, Geschichtswissenschaft) voraus und hat gleichfalls nur in sehr unterschiedlicher Weise Eingang in die universitären Curricula gefunden. Während die Medien- und Kulturwissenschaften auch aufgrund modischer Theorietrends in den letzten Jahren nach der Anglistik auch in der Romanistik eine stärkere, wenn auch immer noch im Vergleich zu den Sprach- und Literaturwissenschaften eher sekundäre Rolle spielen, wird der Bereich der ‘Landeskunde’ auch 30 Jahre nach der im Fach intensiv geführten ‘Landeskunde-Diskussion’ der 1970er und beginnenden 1980er Jahre weiterhin stiefmütterlich behandelt. 10 Für die Ausbildung und konzeptuelle Weiterentwicklung der genannten Kompetenzbereiche stellt der Bezug zur Praxis - die sich für die BA-/ MA-Studiengänge in der Romanistik auf keinen Fall auf den Kultur- und Medienbereich beschränken sollte - eine wichtige Grundlage und eine unabdingliche Voraussetzung dar. In der Konfrontation von universitärer Ausbildung und Praxiserfahrungen liegt die Chance, Fachtraditionen, die, wie umrissen, keineswegs ‘über Bord geworfen’ werden sollten, im Hinblick auf die neuen Herausforderungen der BA-/ MA-Studiengänge mit ihrem deutlich prononcierteren Praxisbezug weiter zu entwickeln. ‘Konfrontation’ impliziert hier den kritischen Dialog und die produktive Auseinandersetzung und nicht die Gegenüberstellung der Positionen, wie sie einerseits die ‘Fetischisierung des Praxisbezugs’ und andererseits das Verharren in fest gefügten, häufig sehr praxisfernen Fachtraditionen bedeuten würde. Praxisbezüge können, wie etwa die Saarbrücker Erfahrungen in den deutsch-französischen und interkulturellen Studiengängen innerhalb der Romanistik belegen, auf unterschiedliche Weise in das Studium integriert werden: über neue Themen und Gegenstandsbereiche in den Lehrveranstaltungen und ihrer Verbindung mit tradierten Methoden und Theorieansätzen des Fachs; über Lehrbeauftragte aus der Berufspraxis; über Workshops in und mit Institutionen wie Rundfunkanstalten und Industrie- und Handelskammern; sowie über die Konzeption eines ‘Praxistags’, bei dem - wie in Saarbrücken seit mehreren Jahren im Rahmen des ‘Interkulturellen Praxistags’ gehandhabt 11 - ehemalige Absolventen sprach- und kulturwissenschaftlicher Stu- 215 diengänge einbezogen werden. Die letztgenannten Veranstaltungstypen eröffnen die Möglichkeit, Theorieansätze, Methoden und Fachkenntnisse im Hinblick auf ihre praxisorientierte ‘Neuverwendung’ hin zu betrachten und den doppelten, universitären und berufspraktischen, Erfahrungshorizont auch der ehemaligen Absolventen/ -innen hierfür zu nutzen: das heißt, ganz konkret, beispielsweise zu überlegen, welchen Stellenwert historische und landeskundliche Kenntnisse bei interkulturellen Trainings einnehmen sollten; welche kulturwissenschaftlichen Methoden bei der Analyse von Kultursendungen herangezogen werden können; oder wie Methoden der literaturwissenschaftlichen und linguistischen Textanalyse sowie interkulturelle Ansätze für die Analyse, aber auch die Gestaltung etwa fremdsprachiger Webseiten eingesetzt werden könnten. Strukturelle und interkulturelle Herausforderungen integrierter deutschfranzösischer Studiengänge im Bologna-Prozess Die beschriebenen Mittel und Wege, Praxisbezüge aus dem Selbstverständnis einer interkulturell ausgerichteten Romanistik mit einer starken kultur- und medienwissenschaftlichen Komponente zu entwickeln und zu fördern, wurden in der Saarbrücker Romanistik einerseits in den interkulturellen Studiengängen, andererseits in den integrierten deutsch-französischen Studiengängen umzusetzen versucht. Während der so entstandene BA-Studiengang „Romanische Kulturwissenschaft und Interkulturelle Kommunikation mit Schwerpunkt Frankreich“ auf einem bisherigen Magister-Studiengang beruht, der von Studierenden in der Regel mit Betriebswirtschaftslehre kombiniert wird, stellen sich die Herausforderungen des Bologna- Prozesses für deutsch-französische Studiengänge in besonderer Weise, nämlich aufgrund der jeweiligen national-spezifischen Umsetzungsvorgaben der Reform sowie der aufwändigen Entwicklung der Studiengangkonzepte, die neben den jeweiligen Vorgaben der deutschen und französischen Partner zur Förderung durch die Deutsch-Französische Hochschule noch ein drittes Antragsverfahren durchlaufen müssen. Die folgenden Ausführungen beruhen auf Erfahrungen mit dem seit 1989 bestehenden Diplomteilstudiengang „Grenzüberschreitende Deutsch-Französische Studien“ der Universitäten Saarbrücken und Metz, der seit 2005 als binationaler, deutsch-französischer Bachelor-Studiengang (Metz/ Saarbrücken) sowie als trinationaler Master-Studiengang „Deutsch-Französische Studien: Grenzüberschreitende Kooperation und Kommunikation“ in Zusammenarbeit mit der Universität Luxemburg durchgeführt wird und damit 2009 bereits den dritten Jahrgang von AbsolventInnen hervorbringt. Nach einigen Bemerkungen zur Umsetzung der Reform in Deutschland und Frankreich und den daraus resultierenden Herausforderungen für die Konzeption und Durchführung integrierter Studiengänge sollen erste Erfahrungen aus vier Jahren deutsch-französischer Bologna-Kooperation aufgezeigt werden. 216 Die Bologna-Reform verfolgt zwar maßgeblich das Ziel, mehr Transparenz im europäischen Hochschulwesen zu schaffen und die internationale Vergleichbarkeit von Studiengängen wie auch Abschlüssen zu erleichtern; die von den Bildungsministern beschlossenen Zielvorgaben für einen gemeinsamen europäischen Hochschulraum und die damit angestoßenen nationalen Anstrengungen zu dessen Verwirklichung führten allerdings in weiten Teilen zu national spezifischen Ausprägungen, die häufig leider nicht unbedingt der im Bologna-Text erwähnten Bewahrung der jeweiligen kulturellen Identität des Hochschulsystems dienen, sondern als nationale Besonderheiten bürokratisch-administrativer Natur zwar in der Tat (zwangsläufig) zu einer engeren Abstimmung zwischen Kooperationspartnern beitragen, die Hochschulzusammenarbeit allerdings nicht immer auch erleichtern. 12 Im Gegensatz zu der in Deutschland noch nicht abgeschlossenen Reform gilt der Bologna-Prozess in Frankreich seit 2005 als weitgehend vollzogen. Eine genauere Analyse zeigt zwar, dass dies bei weitem noch nicht alle Vorgaben betrifft - insbesondere hinsichtlich der Berechnung des Arbeitsaufwands für Studierende wird angesichts der vorherrschenden Orientierung an Unterrichtsstunden noch Nachholbedarf gesehen -, aber so gut wie alle französischen Universitäten haben ihre Studienangebote inzwischen konsequent umgestellt. 13 Dies ist in erster Linie den strikten Richtlinien der Education nationale zu verdanken, die die Reform nach straffen zeitlichen Vorgaben in drei Phasen - von wenigen Pilotuniversitäten im Norden des Landes bis zur generalisierten Umstellung 2005 - in zentralistischer Tradition den Universitäten ohne weiteren Handlungsspielraum auferlegt hat. Für die deutsch-französische Kooperation in integrierten Studiengängen führte dies zu einem gewissen Reaktionsdruck auf deutscher Seite, da die Gestaltung der gemeinsamen Curricula zum festgelegten Zeitpunkt erfolgen musste, so dass beispielsweise in Saarbrücken der gemeinsame Studiengang vor der fakultätsweiten Einführung der Bachelor- und Master-Studiengänge umgestellt wurde. Diese deutsch-französischen Ungleichzeitigkeiten konnten einerseits dazu beitragen, schon vor einer allgemeinen Umstellung erste Erfahrungen mit den neuen Studiengängen zu sammeln, erfordern allerdings aktuell aufgrund der regelmäßigen „habilitation“ eine fortwährende Abstimmung mit anderen Studiengängen. Denn dieser der Akkreditierung entsprechende Prozess der „habilitation“, der in Frankreich aus einem Genehmigungsverfahren für alle Studiengänge unter der Ägide des Bildungsministeriums besteht, erfolgt regelmäßig im Turnus von vier Jahren. Da er nicht nur einer formalen Wieder-Beantragung gleichkommt, sondern zentral beschlossene Nachbesserungen der Reform beinhaltet und nach engen, national einheitlichen Vorgaben, z.B. bezüglich der Anzahl von Modulen, Lehrveranstaltungstypen oder Inhalten, erfolgen muss, stellt dies auch deutsche Partneruniversitäten vor die Herausforderung, Neuerungen in Studien- und Prüfungsordnungen zu integrieren und diese erneut auf den beschwerlichen Weg durch die universitären Gremien zu schicken. Derartige nationale Vorgaben und fixe Rahmenstrukturen des LMD-Systems (Licence-Master-Doctorat) in Frankreich stellen auch maßgebliche Hürden für die 217 gemeinsame Konzeption von Curricula dar. Denn diese betreffen nicht nur ein grobes Gerüst, das die Anzahl von Modulen pro Semester sowie die Verteilung von Leistungspunkten je Modul vorgibt - ein Rahmen, der vielleicht auch an deutschen Universitäten zu einer Vereinfachung der Reform beigetragen hätte -; vielmehr werden, insbesondere im Licence/ Bachelor-Bereich, auch Vorgaben gemacht, die die Kompatibilität zu anderen Studiengängen im Interesse der Studierenden verbessern sollen, dabei allerdings interdisziplinären Neuorientierungen und eigenen Schwerpunktsetzungen sowie internationalen Kooperationen im Wege stehen können. Dazu gehören beispielsweise sog. „passerelles“, Wahlpflichtangebote etc. Auch die Frage des Praxisbezugs stellt sich im französischen Universitätskontext auf andere Art und Weise. Denn während die Diskussionen um den Praxisbezug von Studieninhalten und den diesbezüglichen Beitrag einzelner Fächer insbesondere geisteswissenschaftliche Disziplinen in Deutschland stark betreffen und allem Anschein nach auch z.T. tiefgreifend verändern, geben französische Studiengänge den Interessenten zunächst durch die Etikettierung mit „berufsorientiert“ und „forschungsorientiert“ eine klare Orientierung, z.B. im Falle eines „Master professionnel“ oder „Master de recherche“. Wenngleich Projektseminare und die Einbeziehung von Absolventen und Lehrbeauftragten aus der Arbeitswelt auch in französischen geisteswissenschaftlichen Studiengängen eine gewisse Rolle spielen - im Fall der „Deutsch-Französischen Studien“ in Metz und Saarbrücken z.B. durch mehrere spezifisch konzipierte Module, bei denen auch Absolventen und Berufspraktiker aus potenziellen Tätigkeitsfeldern der Studierenden involviert sind -, wird die Praxisorientierung besonders in Master-Studiengängen in der Regel durch eine ausgeprägte betreute Praktikumsphase von bis zu einem Jahr realisiert, innerhalb derer auch die Abschlussarbeit verfasst wird, häufig in Form eines auf wissenschaftlicher Reflexion fundierten, erweiterten Praktikumsberichts. Dass diese Konzeption mit dem Selbstverständnis und den Anforderungen deutscher kulturwissenschaftlicher Studiengänge sowohl von universitärer Seite als auch bei möglichen Arbeitgebern nicht unbedingt vereinbar ist, muss nicht weiter ausgeführt werden. Aus diesen und zahlreichen weiteren strukturellen Unterschieden, die auf die jeweilige Umsetzung der Bachelor-/ Master-Reform in Deutschland und Frankreich zurückzuführen sind, sowie aus ihren prüfungsrechtlichen Konsequenzen ergibt sich die fast paradox erscheinende Situation, dass gerade in integrierten Studiengängen, die Studierenden aus Deutschland und Frankreich das Studium in einer interkulturellen Gruppe in beiden Ländern ermöglichen und damit eine Vorreiterrolle in puncto Internationalisierung einnehmen, eine Reform, die eben diese Ziele verwirklichen will, in manchen Bereichen den genau gegenteiligen Effekt zu haben und die internationale Hochschulzusammenarbeit zu erschweren scheint. Eine erste, vorsichtige Bilanz nach vier Jahren Erfahrung mit reformierten deutsch-französischen Studiengängen und der dritten Kohorte von Diplomierten im Jahr 2009 bestätigt zwar in einigen Aspekten die skizzierten Hemmnisse in Folge des Bologna-Prozesses, gibt aber auch Anlass zu einem zuversichtlichen Blick in die Zukunft. 218 Mit den neuen Studiengängen haben sich der Verwaltungsaufwand und die bürokratischen Hürden, insbesondere für Studierende, deutlich erhöht und die Mobilität wurde außerhalb solcher spezifischer integrierter Programme, global betrachtet, eher erschwert als gefördert. Die bisherigen Erfahrungen mit den Saarbrücker Studiengängen zeigen jedoch, dass auf internationaler Ebene die Mobilität zwischen Bachelor und Master gegeben zu sein scheint. Denn nur wenige Absolventen des interdisziplinären Bachelor-Studiengangs wählten bisher den Weg in den konsekutiv angelegten Master zur Vertiefung. Stattdessen zeichnet sich eine starke Diversifizierung, auch auf internationaler Ebene, ab, für die eine breiter angelegte Ausrichtung des Bachelor-Studiums wie im Falle der „Deutsch-Französischen Studien“ mit ihren kultur-, medien- und kommunikationswissenschaftlichen Komponenten eine gute Ausgangslage darzustellen scheint. Zumindest für diese Gruppe engagierter und mobiler Studierender mit deutsch-französischer Doppeldiplomierung scheint sich also durch Bologna ein neuer Raum für die Weiterqualifikation in europäischen Master-Studiengängen zu eröffnen - hierfür spricht außerdem die große Anzahl von Bewerbungen in den Master-Studiengang „Deutsch-Französische Studien“, der Interessenten aus vielfältigen Studienrichtungen anzieht, die sich im Bereich der grenzüberschreitenden, deutsch-französischen Kooperation spezialisieren möchten. Aus Sicht der Studierenden besteht das Hauptproblem integrierter Studiengänge im Zeitpunkt des Studienabschlusses, der auch die internationale Mobilität in andere Kulturräume einschränken kann. Denn während beispielsweise in der französischen Tradition ein Universitätsjahr mit den erforderlichen 60 ECTS-Punkten spätestens im Juli als abgeschlossen gilt, ist in den meisten Fällen - auch aus pragmatischen Gründen - das deutsche Studium selbst in den reformierten Studiengängen noch weitaus individueller organisiert und Angehörige eines Jahrgangs schließen schon allein aufgrund der Korrekturfristen für Examensarbeiten ihr Studium nicht zeitgleich ab. Beim Beginn des Studienjahrs im September, wie es nicht nur in Frankreich üblich ist, haben also zahlreiche Absolventen ihr BA-Studium noch nicht formal abgeschlossen und müssen in einigen Fällen mit erheblichen Nachteilen rechnen - zumal sich die Praxis einer vorläufigen Zulassung noch nicht überall durchgesetzt hat… Außer diesem Problem steht aus französischer Sicht auch die Organisation in Studienjahren à 60 Credit Points der internationalen Studentenmobilität im Wege. So ist ein Studienwechsel nach einem oder zwei Studienjahren im Bachelorbzw. Licence- Studium schon allein wegen der erforderlichen Kompatibilität mit den classes préparatoires, die - wie im Falle des abgeschafften DEUG - an den Universitäten voll anrechenbar sind, zwar innerhalb Frankreichs kein Problem; ebenso stellt der Wechsel nach dem ersten Masterjahr in einen anderen Studiengang (Master 2) ein nicht seltenes Phänomen dar. Nach der deutschen Auslegung von Bologna wird eine solche Flexibilität allerdings bürokratisch erschwert, da die pauschale Anerkennung von Studienjahren auf prüfungsrechtlicher Ebene eher die Ausnahme als die Regel darstellt. Für deutsch-französische Studiengänge im Be- 219 reich der Geistes- und Kulturwissenschaften erklärt sich daraus auch ein Problem der Rekrutierung von Studierenden auf französischer Seite, wo die besten der ohnehin rar gesäten potenziellen Interessenten an einem Studium in Deutschland sich bevorzugt in einschlägigen classes préparatoires wiederfinden. Trotz der geschilderten zahlreichen Hürden und interkultureller Herausforderungen in integrierten deutsch-französischen Studiengängen sowie allgemeinen Problemen, die mit der Bologna-Reform verknüpft sind, sprechen die Erfahrungen an der Universität des Saarlandes, was die Bewerberzahlen und die Aussichten für Absolventen sowohl im Bachelor als auch im Master betrifft, eher für eine positive Orientierung und Modernisierung des Fachs. Denn die Bachelor-Absolventen einer interkulturell und medienwissenschaftlich ausgerichteten Romanistik scheinen durch eine geistes- und kulturwissenschaftliche Ausbildung, in der Praxisbezüge auf der Grundlage eines in der Tradition des Faches verwurzelten Ansatzes vermittelt und durch spezifische Angebote berufliche Orientierungen gefördert werden, für die weitere Ausbildung in internationalen Master-Studiengängen gut gerüstet zu sein. Auch hinsichtlich des Berufseinstiegs nach dem Masterstudium zeichnen sich bereits vielfältige Möglichkeiten insbesondere in PR und Kommunikationsarbeit ab. 1 Vgl. Asholt, Wolfgang: „‘Alter Wein in neuen Schläuchen? ’ Zur Umsetzung der BA/ MA- Reformen in der deutschen Romanistik.“ In: Grenzgänge, 12/ 2005, 93-104. 2 Die in diesem Abschnitt entwickelten Überlegungen basieren teilweise auf: Hans-Jürgen Lüsebrink/ Christoph Vatter: „Der ‘Interkulturelle Praxistag’als praxisorientiertes Handlungskonzept: Tragweite und Transfermöglichkeiten.“ In: Birgit Roßmanith/ Horst Backes (eds.): Von der Hochschule in den Beruf. Berufs- und Arbeitsweltkompetenz im Studium. Saarbrücken: Verlag Alma Mater, 2006 (Forschungsergebnisse der Kooperationsstelle Wissenschaft und Arbeitswelt der Universität des Saarlandes), 209-223. 3 Vgl. hierzu u.a.: Hans Lauge Hansen (ed.): Changing Philologies. Contributions to the Redefinition of Foreign Language Studies in the Age of Globalization. Copenhagen: Museum Tusculanum Press/ University of Copenhagen, 2002; Hans-Jürgen Lüsebrink/ Dorothee Röseberg (eds.): Landeskunde und Kulturwissenschaft in der Romanistik. Theorieansätze. Unterrichtsmodelle, Forschungsperspektiven. Tübingen: Gunter Narr Verlag, 1995. 4 Die genannten Studiengänge wurden als Magisterbzw. Diplomstudiengänge gegründet, aber seit WS 2008/ 09 in BA- und MA-Studiengänge (zum WS 2010/ 11) übergeführt. 5 Christian Salmon: Storytelling. La machine à fabriquer des histoires et à formater les esprits. Paris: Maspéro, 2007. 6 Hier zitiert nach der Druckfassung des Vortrags: Harald Weinrich: „Von der schönen fremden Freiheit der Sprachen. Die sachliche Würde der Langsamkeit - Ökonomischökologische Betrachtungen zur Lage der Romanistik.“ In: Süddeutsche Zeitung, Nr. 228, 4./ 5.10.1997. 7 Ibid. 8 Vgl. hierzu: Samuel P. Huntington: The Clash of Civilizations, and the Remaking of World Order. New York: Simon & Schuster, 1996; deutsch: Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert. München: Europaverlag, 1996; zur kritischen Einschätzung Huntingtons vgl. Hans-Jürgen Lüsebrink: Interkulturelle Kommunikation. Interaktion - Kulturtransfer - Fremdwahrnehmung. Stuttgart/ Weimar: Metzler, 2005, 2. 220 Aufl. 2008 (Metzler Studienbücher), 29-32; Harald Müller: Das Zusammenleben der Kulturen. Ein Gegenentwurf zu Huntington. Frankfurt/ M.: Fischer, 1998. 9 Vgl. hierzu auch: Sonja Kretschmar: Fremde Kulturen im europäischen Fernsehen. Zur Thematik der fremden Kulturen in den Fernsehprogrammen von Deutschland, Frankreich und Großbritannien. Mit einem Vorwort von Ulrich Wickert. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, 2007. 10 Vgl. hierzu Hans-Jürgen Lüsebrink/ Dorothee Röseberg (eds.), a.a.O.. 11 Vgl. hierzu Lüsebrink/ Vatter, „Der Interkulturelle Praxistag“, zit. Art. (Anm. 2). 12 Zur Umsetzung des Bologna-Prozesses in Frankreich vgl. Cornel Zwierlein: „Beispiel Frankreich: Der Bologna-Prozess im Nachbarland.“ In: Zeitenblicke, 1/ 2005, http: / / www.zeitenblicke.de/ 2005/ 1/ zwierlein/ Zwierlein.pdf (Stand: 21. Juni 2009); Isabelle Sieh: Adaption und Umsetzung des Bologna-Prozesses in Frankreich. Hamburg: Helmut- Schmidt-Univ., 2007. Eine vergleichende, sehr kritische Perspektive auf die Umsetzung in verschiedenen Ländern findet sich Georg Bollenbeck/ Waltraud Wende (eds.): Der Bologna-Prozess und die Veränderung der Hochschullandschaft. Heidelberg: Synchron, 2007; vgl. gleichfalls in kritischer Sicht: Christian Scholz/ Volker Stein (eds.): Bologna- Schwarzbuch. Mit einem Geleitwort von Univ.-Prof. Dr. Bernhard Kempen, Präsident des Deutschen Hochschulverbandes, Bonn: Deutscher Hochschulverband, 2009. 13 Im Zentrum unserer Ausführungen stehen die „universités“. Die Problematik der „Grandes écoles“, die ebenfalls die LMD-Reform durchführen müssen, kann an dieser Stelle nicht weiter vertieft werden.