eJournals lendemains 37/145

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2012
37145

St. Leopold: Die Erotik der Petrarkisten

2012
Giulia Radaelli
ldm371450145
145 Comptes rendus „Amor, io fallo…“ STEPHAN LEOPOLD: DIE EROTIK DER PETRARKISTEN. POETIK, KÖRPER- LICHKEIT UND SUBJEKTIVITÄT IN ROMANISCHER LYRIK FRÜHER NEUZEIT, MÜNCHEN, FINK, 2009. 397 S. Stephan Leopolds Studie, eine Münchner Habilitationsschrift, widmet sich der Erotik der Petrarkisten in acht Lektüren frühneuzeitlicher romanischer Lyrik: von Petrarca (Kap. I) über den Cinquecento-Petrarkismus (Bembo, Garcilaso, Du Bellay, Ronsard, Stampa, Labé, jeweils Kap. II bis VII) bis zum spanischen Barock (Góngora und Villamediana, Kap. VIII). Die theoretische Grundlegung für diese Lektüren liefert eine systematische Einleitung, in der Leopold seine Definition des Petrarkismus bzw. der petrarkischen Liebesdichtung entlang einer Reihe von Leitbegriffen entwickelt (9-59). Dabei kann er an eine lange und gerade in der deutschen Romanistik seit den 1980er Jahren sehr lebendige Forschungsdiskussion anschließen. Namhafte Romanisten - etwa H. Friedrich, dem der Petrarkismus nicht viel mehr als Epigonentum war, oder E. R. Curtius, der gar von einer petrarkistischen Epidemie sprach - haben ihren Beitrag zu einem „Degenerationsmodell“ (9) des Petrarkismus geleistet, das inzwischen unhaltbar und allenfalls als wissenschaftsgeschichtlicher Befund aussagekräftig ist. Dagegen werden von Leopold neuere Modelle diskutiert und im Verlauf der Studie angewendet: das von K. W. Hempfer vorgeschlagene Modell des Petrarkismus als „System“ (14f.) und „Diskurstypenspiel“ (16) sowie R. Warnings Gegenmodell, das den Petrarkismus als Dialog von Diskurs und Konterdiskurs bestimmt. Es versteht sich, dass die „Konterdiskursivität“ (27) vor allem in den von Leopold untersuchten Fällen von „,weiblichem‘“ und „,homosexuellem‘“ Petrarkismus (59) zum Tragen kommt. Doch die Frage nach den Grenzen des petrarkistischen Diskurses stellt sich ganz allgemein, selbst bei einem orthodoxen Nachahmer wie Bembo. Ausgangspunkt für Leopolds Bestimmung des Petrarkismus ist die unbestreitbare Tatsache, dass Petrarcas Canzoniere ein autoritatives modello di poesia darstellt. Dieses zeichne sich durch einen „Agon von Norm und Affekt“ (57) aus, nämlich von „innerweltlichem Affekt und jenseitsorientierter Norm“ (105). Die Studie unternimmt nun den „Versuch einer Archäologie dieses spezifischen frühneuzeitlichen Agons am Beispiel hochgradig formalisierter und diskursivierter Liebesdichtung“ (58). Zudem trägt diese Dichtung den „Agon“ gleichsam auf einer zweiten Stufe aus: als Widerstreit von „(Regel-)Poetik und Erotik“ (195). Deshalb ist sie stets poetologisch zu lesen, was Leopold in seinen Lektüren auch konsequent tut. Die theoretische Einleitung gibt viele wichtige Einsichten der jüngeren Petrarkismus-Forschung wieder. Neu und grundlegend ist die dezidiert psychoanalytische Ausrichtung von Leopolds Thesen. So werden, auf ebenso anschauliche wie überzeugende Weise, die Unerreichbarkeit der/ des Geliebten und die Unerfüllbarkeit der körperlichen Liebe mit Freud reformuliert: Der/ die petrarkistisch Dichtende 146 Comptes rendus spiele mit dem entzogenen Körper der/ des Geliebten das berühmte „,Fort/ Da‘- Spiel“ (20), indem das „,Fort‘ des Körpers“ zum „,Da‘ der Dichtung“ (87) werde. Wie sich anhand des im Canzoniere mehrfach aufgerufenen Daphne-Apoll-Mythos und der Verwandlung Lauras in den Lorbeerbaum der Dichtung (lauro) zeigen lässt, ist es bei Petrarca die „Schrift, die anstelle des unerreichbaren Körpers der Geliebten tritt und diesen suppliert.“ (12). Mit anderen Worten: Es finde ein „Aufschub von Körperlichkeit im Corpus“ (175) statt. Es liegt nahe, eine solche „Dichtung des Aufschubs“ (16) mit Derridas Begriff der différance zu verbinden. Doch Leopold will mit dem zwischen Präsenz und Absenz hin und her pendelnde ,Fort/ Da‘ vielmehr auf Lacans signification du phallus hinaus. In der Tat erkennt er in Petrarca „ein geradezu idealtypisches Anschauungsbeispiel der Lacanschen Psychoanalyse“ (360) und bescheinigt dem petrarkischen wie auch dem petrarkistischen Subjekt eine entsprechende Begehrensstruktur. Begehrt wird Laura (oder ihr Analogon) als objet petit a; das große Andere, auf das ja das kleine Andere immer verweist, sei im Falle Petrarcas die „durch die dreifache Translatio verlorene Roma aeterna“ (19). Dem zufolge ziele die petrarkische Poetik - über den ,Umweg‘ der Laura-Liebe - auf eine „gleichermaßen ersehnt[e] wie ausgeblieben[e] renovatio Romae“ (360) ab. An diese Poetik schließen nach Leopold die Petrarkisten an. Er weist den „Renovatio-Petrarkismus der Spanier und Franzosen“ (361) nach, die ihre eigene, ,neue‘ dichterische Tradition zu konstituieren und zu konsolidieren versuchen (überraschenderweise fehlt in diesem Kontext eine nähere Auseinandersetzung mit B. Vinkens einschlägiger Monographie Du Bellay und Petrarca. Das Rom der Renaissance). Dichtung und politische Macht sind dabei eng verschränkt, denn es geht letztlich darum, eine Nationalkultur zu begründen. Während das humanistische Italien eine kulturelle Blütezeit erlebt, jedoch politisch zerstückelt ist, avancieren Frankreich und Spanien zu starken Nationalstaaten, die aber noch nicht über eine entsprechende kulturelle Hegemonie verfügen. Diese soll maßgeblich durch die Nachahmung (imitatio, variatio) und Überbietung (aemulatio, superatio) des „Gründungsvater[s]“ (117) Petrarca erlangt werden. Der Petrarkismus erscheint somit als „ein wesentlicher Austragungsort frühneuzeitlicher Kulturlegitimation“ (14). Leopolds Ansatz erfasst die diskurs- und kulturgeschichtliche Dimension der petrarkistischen Dichtung - nicht zuletzt deshalb, weil er neben Lacan auch mehreren anderen Theoretikern verpflichtet ist, etwa Certeau (Petrarkismus als „production du lieu“, 13, und „écriture conquérante“, 121) und Agamben (Petrarkismus als „topologia della cultura“, 21). Im Rückgriff auf Althusser wird ferner der Petrarkismus „als eine Interpellation von Seiten des konstitutiven Ideal-Sujet Petrarca“ verstanden, „die mit dem Zwang kulturstiftender Normdiskurse und einem streng reglementierten Dichtungsmodell einhergeht.“ (31) Die Interpellation erfolge immer zweifach: einmal durch das (fremde) „corpus Petrarchae“ und einmal durch das (eigene) „corpus politicum“ (32). In der zweifachen Unterwerfung liege die Ursache für die Hysterie petrarkistischer Subjektivität (vgl. v. a. das Garcilaso-Kapitel). 147 Comptes rendus Wie bereits angedeutet, spielen in Leopolds Argumentation verschiedene Körper und Corpora eine zentrale Rolle. Dies gilt bereits für das Petrarca-Kapitel, in dem gezeigt wird, wie Lauras Körper durch das Corpus des Canzoniere gleichsam ersetzt wird (vgl. u. a. 81-85). Der in den Gedichten in morte endgültig abwesende Körper der Geliebten wird im Echo des Namen evoziert (laurea, lauro, l’aura). Die disseminierende Onomastik des senhal deutet Leopold als eine von Petrarca ausgestellte Selbstzensur, die auf die Immanenz der petrarkischen Liebe verweist (vgl. 66). Die Immanenz-These wird durch ,Gegenlektüren‘ bekräftigt. Nach Leopold zeigt nämlich der Canzoniere eine größere Nähe zur diesseitig orientierten Erotik der Trobadors als zur platonistischen Liebeskonzeption des dolce stil novo. Gerade der naheliegende Vergleich mit Dante macht die Weltlichkeit Petrarcas deutlich, die sogar noch in der Marienkanzone aufgespürt wird. Das Begehren und Beschwören des Körpers bleiben in der Welt, obgleich jener Körper nie eingeholt werden kann und darf. Mit der Körper-Begrifflichkeit operiert dann verstärkt das Bembo-Kapitel. Leopold bestimmt die von Bembo betriebene Kanonisierung Petrarcas als „faire corps“ im Sinne Certeaus (94), argumentiert aber weiterhin auch mit Kantorowicz’ Zwei- Körper-Lehre. Hier - wie überhaupt in der gesamten Studie - kann die Rede von Textcorpora, Körpern (natürlichen, politischen, mystisch-heiligen, sakralisierten, profan geliebten etc.) und Körperlichkeit gelegentlich eher verwirren als Zusammenhänge beschreiben. Dennoch ist Leopolds These zuzustimmen, dass eigentlich erst mit Bembos Rime das ,petrarkistische System‘ entsteht, und zwar durch eine entscheidende „Komplexitätsreduktion“ (99). Mit seiner platonistisch untermauerten Konzeption der amanti accorti gelinge es Bembo, Petrarcas grundlegenden Konflikt von Affekt und Norm weitgehend stillzustellen. Das ambivalente Verhältnis von Petrarkismus und Neuplatonismus beleuchtet Leopold in einigen Ausführungen über die Dreistufigkeit der Liebe (vgl. 106-116). Der „von Bembo platonistisch zugerüstete Petrarca onesto“ (130) wird zum normativen, nachzuahmenden Musterautor. Doch praktizieren, wie Leopold mit Recht behauptet, die meisten Petrarkisten - mehr oder weniger offenkundig - eine „imitatio multorum“ (ebd.), indem sie etwa die hedonistische Liebeskonzeption der antiken römischen Dichtung für sich in Anspruch nehmen. Eine ausdrückliche Poesie der jouissance ist aber mit dem Petrarkismus streng genommen nicht mehr kompatibel. Wie die Grenzen des Petrarkismus ,nach unten hin‘ ausgelotet werden, zeichnet Leopold u. a. in den Kapiteln über Ronsard und Labé nach. Die Frage der Grenzüberschreitung stellt sich im weiblichen und homosexuellen Petrarkismus auf verschärfte Weise. Diesen konterdiskursiven Spielarten sind der gendertheoretische Teil der Einleitung (36-51) sowie drei der acht textanalytischen Kapitel gewidmet. Hier arbeitet Leopold ausführlich heraus, mit welchen Strategien die Gedichte Stampas, Labés, Góngoras und Villamedianas die Gender-Ordnung reflektieren, performativ umkehren oder unterwandern. Insgesamt betrachtet liegt die Stärke der Studie in den Einzelanalysen. Leopold erweist sich als ein genauer und gründlicher Interpret, der sich nie scheut, der 148 Comptes rendus Komplexität und Mehrdeutigkeit der Texte nachzugehen. Positiv hervorzuheben ist außerdem, dass er immer wieder auf Verbindungen und Spannungen innerhalb der Gedichtzyklen aufmerksam macht und sie in die Analyse einbindet. So wird nicht nur das für den Petrarkismus relevante Kriterium der Narration (die ,Liebesgeschichte‘) berücksichtigt, sondern auch auf aufschlussreiche editionsphilologische - und d. h. auch: rezeptionsgeschichtliche - Aspekte hingewiesen. Bisweilen verlangt Leopold den Primärtexten viel ab, indem er sie auf kühne Pointierungen und Begriffe bringt. Dies scheint eher dem theoretischen Rahmen der Studie als der Sache selbst geschuldet zu sein. In der Tat wirkt die Einleitung durch die vielen „(post-)modernen Überlegungen“ (20) überfrachtet. Dass diese häufig französischer Provenienz sind, mag das Vorurteil einer gewissen Unlesbarkeit der french theory bestätigen. Hier wäre an einigen Stellen weniger mehr gewesen, und manche sperrige Formulierung hätte vermieden werden können. Wer grundsätzlich nicht bereit ist, die „Vereinbarkeit des Petrarkischen Schreibens mit der Lacanschen Theoriebildung“ (360) hinzunehmen, wird der Studie nicht viel abgewinnen. Wer sich aber darauf einlässt, wird am Ende erkennen, wie Leopolds Ansatz auch gängige Ansichten (etwa die These, Petrarca sei der Begründer neuzeitlicher Subjektivität) neu perspektivieren und tiefere Einblicke in die komplexe Dynamik petrarkistischer Liebe ermöglichen kann. Giulia Radaelli (Bielefeld)