eJournals lendemains 43/172

lendemains
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2941-0843
Narr Verlag Tübingen
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2018
43172

Thomas Keller: Verkörperungen des Dritten im deutsch-französischen Verhältnis

2018
Joseph Jurt
ldm431720114
114 Comptes rendus Comptes rendus werden (etwa Beaumarchais), ist das Fehlen eines Registers zu Band 3 zu bemängeln. Ein ‚Querlesen‘ der Beiträge fördert zudem thematische Aspekte zutage, die in diversen Fallstudien angeschnitten werden. In diesem Zusammenhang wäre vor allem die Rolle von Frauen zu nennen, keineswegs nur als Verfasserinnen vieler in den Einzeluntersuchungen analysierter Schriften. Bereits die Fallstudie zu Sophie von La Roches Journal d’un voyage à travers la France verdeutlicht die herausragende Rolle, die den Frauen in der französischen Kultur zugeschrieben wird, als eines zentralen Elements des Gallotropismus. Neben einem „parisianotropisme“ (Mondot) als Unterform des Gallotropismus ließe sich somit auch von einem ‚Gynätropismus‘ als dessen Sonderform sprechen. Zusammenfassend sind die drei aus dem Forschungsprojekt zum Gallotropismus hervorgegangenen Bände als eine erhebliche - methodische wie inhaltliche - Bereicherung der Forschung zu den deutsch-französischen Kulturkontakten in der zweiten Hälfte der Frühen Neuzeit unter gelungener Einbindung der helvetischen Perspektive zu würdigen. Wie bei Sammelbänden üblich, wird das Grundkonzept nicht von allen Autorinnen und Autoren gleichermaßen konsequent und engagiert vertreten; die überzeugenden Studien überwiegen jedoch bei weitem. Positiv schlägt auch der integrative Ansatz zu Buche, mit dem Adam und Mondot ihr Konzept vertreten: Ihnen und den übrigen Projektbeteiligten geht es weniger um Abschottung gegenüber früheren Forschungsansätzen und -konzepten, sondern vielmehr um deren fruchtbringende Fortentwicklung. Dass der Tropismus und insbesondere der Gallotropismus sich - wie vor drei Jahrzehnten der Kulturtransfer - in der Forschung als methodisch vielfältig einsetzbare Konzepte etablieren, ist sehr zu wünschen. Guido Braun (Mulhouse) ------------------ THOMAS KELLER: VERKÖRPERUNGEN DES DRITTEN IM DEUTSCH-FRANZÖ- SISCHEN VERHÄLTNIS. DIE STELLE DER ÜBERTRAGUNG, MÜNCHEN, FINK, 2018 (ÜBERGÄNGE, 74), 847 S. Thomas Keller ist ohne Zweifel einer der engagiertesten kulturwissenschaftlichen Forscher zu den deutsch-französischen Beziehungen. Nach seiner Promotion an der FU Berlin mit einer Arbeit über Stifter habilitierte er sich in Straßburg mit dem Werk Deutsch-französische Dritte-Weg-Diskurse, Personalistische Intellektuellendebatten der Zwischenkriegszeit (2001). Zwischen 1993 und 2008 leitete er den den EUCOR - Forschungsverbund „Interkulturalität in Theorie und Praxis“ (Straßburg-Freiburg- Basel-Mulhouse-Karlsruhe). In diesem Zusammenhang organisierte er zahlreiche Kolloquien, die teilweise auch als Sammelbände greifbar sind, so der zusammen mit Freddy Raphaël herausgegebene Band Lebensgeschichten, Exil, Migration (2006). Ab 1999 wirkte Thomas Keller als Germanist an der Universität Aix-en-Provence. 115 Comptes rendus Comptes rendus Auch hier entstanden mehrere Kolloquiumsbände so etwa ‚Vrais‘ et ‚faux‘ médiateurs. La connaissance des lieux et ses équivoques (2011) oder Culture et violence. La Première Guerre mondiale un siècle plus tard (2014). Die hier vorliegende Monographie Verkörperungen des Dritten im Deutsch-Französischen Verhältnis stellt so etwas wie eine Summa der Arbeiten von Thomas Keller dar. Er widmete sich bisher vorzüglich Doppelbiographien und -lektüren, ging der Wanderung von Begriffen und Diskursen zwischen deutschen und französischen Bewegungen und Denkformen nach. Hier aber geht es, wie er im Vorwort schreibt, um „die systematische und historische Erschließung der Übertragung“, der „Beschreibung der Schnittstellen, der jeweiligen Stelle der Übertragung“ (9). Das Besondere der Arbeit besteht darin, dass die sinnlich-materiale Dimension der Wissensübertragung sichtbar gemacht wird. Das ‚Dritte‘ ist hier nicht eine politische oder philosophische Position der Mitte, sondern Dinge oder Personen, die als Medien fungieren. Neben der Frage, wer überträgt, stellt sich diejenige, was überträgt. Dieser Ansatz wird schon eingangs sehr schön illustriert über die Liborius- Legende. Die Freundschaft zwischen Le Mans und Paderborn beruht auf einem materiellen Substrat, das der Autor Medium nennt, auf dem Austausch von Reliquien des heiligen Liborius im 9. Jahrhundert und danach. Der Begriff der Übertragung wird abgegrenzt von demjenigen des Transfers, der sich am Kommunikations-Modell orientiert. Nicht Pole, Länder oder Kulturen, zwischen denen sich Übertragungen abspielen, stehen im Zentrum, sondern Orte, Verschiebungen, Vorgänge, die übertragen, ‚das Dritte‘ zwischen den Polen; dabei kann es sich auch um Dritt-Personen handeln, für die der Abstand zum Herkunfts- und zum Zielkontext konstitutiv ist (Boten, Türöffner). 1 Die neue Aufmerksamkeit für Dinge als Medien verdankt sich dem ‚material turn‘, den in Frankreich Bruno Latour prominent vertritt. Wenn die Transfer-Forschung mit der Priorisierung des Aufnahmekontextes schon einen wichtigen Paradigmenwechsel gegenüber der traditionellen ‚Einfluss‘-Forschung darstellte, so wird hier noch eine neue Perspektive eingebracht, dadurch, dass „das Ereignis der De- und Rekontextualisierung von wanderndem Wissen“ (16) in den Blick genommen wird. Über die Fokussierung auf das Dritte wird nicht nur eine binäre Betrachtungsweise, sondern auch jede substanzialistische Sicht der Pole (hier Frankreich und Deutschland) überwunden: „Der Dritte verweigert sich dem Vergleich, dem Abgleich von ego und alter. Es bietet sich vielmehr als Zwischenstück an, das an die Stelle von beiden tritt, und spiegelt deren Gefühle wie etwa Zuneigung und Hass. Das Dritte wird damit in ein Geschehen eingesetzt, es ist unvorhersehbar und hält für beide Vertretene Unbekanntes bereit“ (22). 1 Der Autor zählt zu Recht auch Richter oder Mediatoren zu den ‚Dritt-Personen‘. Gemäß den Einsichten der Rechtsethnologie entwickelt sich ein Rechtssystem mit dem Eingreifen eines ‚Dritten‘ bei einem Konflikt. Cf. dazu Katja Meintel, Im Auge des Gesetzes. Kriminalromane aus dem frankophonen Afrika südlich der Sahara - Gattungskonventionen und Gewaltlegitimation, Aachen, Shaker, 2008. Der Autor selbst verweist auch auf den soziologischen Ansatz von Thomas Bedorf / Joachim Fischer / Gesa Lindemann (ed.), Theorie des Dritten. Innovationen in Soziologie und Sozialphilosophie, München, Fink, 2010. 116 Comptes rendus Comptes rendus Wenn sich der Verfasser dem deutsch-französischen Verhältnis zuwendet, so hat das nicht nur autobiographische Gründe. Es handelt sich hier, wie der Autor schreibt, um ein „transkulturelles Sonderverhältnis“ (40) und er übersetzt das mit der Metapher der ‚Verhakung‘: „Über zwei Jahrhunderte ineinander ‚verkrallt‘, richten Franzosen und Deutsche über Stellvertretungen ein konfliktreiches deutsch-französisches Sonderverhältnis ein“ (40). Der translatio eignet immer eine horizontale Dimension, ein Transport, eine Bewegung im Raum; die vertikale Dimension als transmissio über eine zeitliche Achse ist ebenso evident. Das wird über die sukzessiven Rekontextualisierungen der Liberius-Reliquie einleuchtend aufgezeigt. Die ganze Untersuchung verfolgt Übertragungsprozesse über eine longue durée, durch einen Gang durch mehr als zwei Jahrhunderte von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart. Die Analyse stützt sich immer auf materiale Elemente, die in einen historischen Kontext eingebettet werden. Auswahlkriterium ist die Relevanz für den Übertragungsprozess und nicht die intrinsische literarische, ästhetische oder philosophische Qualität der Zeugnisse. In einem ersten Teil wird die vornationale und vorrevolutionäre Epoche behandelt. Zweifellos wurde Frankreich erst mit der Französischen Revolution eine Bürgernation; als Staatsnation hatte es sich aber schon nach dem Hundertjährigen Krieg konstituiert. Hierin liegt eine zentrale Asymmetrie zu Deutschland, das sich erst 1871 als Staatsnation eint. Eine Asymmetrie besteht auch in der massiven Präsenz der französischen Sprache und Kultur an den deutschen Fürstenhöfen und der kaum vorhandenen Präsenz des Deutschen im Nachbarland. Wenn Friedrich II . die französische Sprache als einzige für hof-, kultur- und literaturfähig hielt (51), so betrachtete er die Kultur des Sonnenkönigs als Norm, die von den französischen philosophes in Frage gestellt wurde. Der Autor betont, dass es auch Übertragungen aus dem deutschsprachigen Raum nach Frankreich gab; sie seien nur relativ unbekannt. Er wendet sich darum zunächst einem nicht-sprachlichen Phänomen der Übertragung zu, dem Grabmal des Marquis d’Argens in Aix, das Friedrich II . von Preußen in Auftrag gegeben hatte, „eine preußische Spur im Midi“ (47). Bemerkenswert war der Marquis nicht nur, weil er am längsten - 25 Jahre - in Preußen blieb, sondern vor allem, weil er sich als Tischgenosse von Friedrich für deutsche Aufklärer einsetzte. Wenn Friedrich persönlich dem Marquis in seinem Heimatort Aix ein Grabmal erstellen ließ, dann erscheine er so als „tertius gaudens“ (55) zwischen dem Marquis und seinen provenzalischen Gegnern. Die sukzessiven Rekontextualisierungen des Denkmals in den wechselnden Inschriften und Beschreibungen in einem aufklärerischen, dann katholischen und schließlich revolutionären Kontext werden sehr kenntnisreich rekonstruiert. Das Grabmal des Marquis „dementiert bereits monokulturelle Zuschreibungen. Das Ding wie seine Inskriptionen zeigen auf Lokales und Auswärtiges. Mit den schriftlichen Berichten ist die Doppelreferenz, diejenige auf Deutsches bei Franzosen, diejenige auf Französisches bei Deutschen, auch abgelöst vom Ort in verbalen Propositionen bezeugt“ (74). Auf Geheiß von Friedrich war das Französische als Verkehrssprache der Akademie eingeführt und Maupertuis zu dessen Präsidenten ernannt worden, was man als 117 Comptes rendus Comptes rendus bewusst geförderten Transferprozess oder als ein Verkennen der sich entwickelnden deutschen Nationalkultur interpretieren kann. 2 In seinem Bemühen, die deutschfranzösische intellektuelle Geschichte ‚gegen den Strich‘ zu lesen, untersucht Thomas Keller die Beiträge Deutscher an dem genuin französischen Unternehmen der Encyclopédie. 3 In der Einleitung wird auf einen Beiträger deutscher Muttersprache verwiesen, der sich durch seine Kenntnisse im Bereich der Mineralogie, der Metallurgie und der Physik auszeichne und „eine der wenigen gut sichtbaren Spuren einer deutschen Präsenz in der Encyclopédie“ (76) darstelle. Er war aber nicht allein; aus Berlin stammten die Beiträger Formey und Sulzer; Baron d’Holbach und Grimm lebten in Paris, stammten aber aus Deutschland. Waren sie indes nicht intellektuelle Bürger Frankreichs? Der Autor sieht in ihren Beiträgen das „transportierte Wissen“ einer „frankophon operierende[n] Gruppe mit deutschen Hintergründen“ (77). Er spricht von einem „transkulturellen Index“ (76), der „Verbindungen zwischen Texteinheiten schafft“ (52). War nicht auch der Hugenotte Jean Henry Samuel Formey, der seine Geschichte der preußischen Akademie auf Französisch veröffentlicht hatte und das Deutsche nur unvollkommen beherrschte, ein intellektueller Bürger Frankreichs? Aber immerhin, er machte Leibniz und Wolff dem frankophonen Leser zugänglich. Seine über hundert Artikel in der Encyclopédie galten vor allem religiösen Begriffen und zeugten nicht von einer materialistischen Tendenz. Der Verfasser sieht darin eine indirekte Spur der deutschen Aufklärungsphilosophie, deren Aufgeschlossenheit für die Religion Formey aufgesogen habe: „eine krypto-subversive und fremde Dimension“ (87). Interessant sind auch die bloß mit Bindestrich unterzeichneten Artikel des genannten deutschen Naturwissenschaftlers, die die anerkannte deutsche Kompetenz in diesem Bereich belegen. Indem die Encyclopédie „Wissen aus deutschen Kontexten einpflanzt“, ist sie, so der Verfasser, „kein monokulturell französisches Werk“ (89). In den Beiträgen des Baron d’Holbach, der ab seinem fünften Lebensjahr in Paris lebte, seien noch die Spuren der deutschen Muttersprache zu erkennen: „es hakt, es knirscht“ (92). Darum schalteten sich französische Muttersprachler ein, auch wieder ‚Dritte‘. Holbachs Beiträge sind im Unterschied zu denjenigen Formeys extrem religionskritisch. In den Beiträgen des in Regensburg geborenen Friedrich Melchior Grimm, der mit 24 Jahren nach Paris kam, findet man weniger Positionsbestimmungen zu religiösen Fragen, indes innovative Texte zur Musik und zur bildenden Kunst; er nimmt eine Schiedsrichterrolle im Streit zwischen italienischer und französischer Musik ein. 2 Cf. dazu Joseph Jurt, Sprache, Literatur und nationale Identität. Die Debatten über das Universelle und das Partikuläre in Frankreich und Deutschland, Berlin/ Boston, de Gruyter, 2014, 55-101. 3 Einem analogen Ansatz ist auch die zweibändige Kulturgeschichte von Christophe Charle und Laurent Jeanpierre (La vie intellectuelle en France, Paris, Seuil, 2016) mit der Rubrik „échanges“ verpflichtet. Hier wird systematisch die nationalgeschichtliche Perspektive geöffnet im Hinblick auf die internationale Ausstrahlung, aber auch auf die zahlreichen externen Anregungen, die auf das kulturelle Leben Frankreichs einwirkten. 118 Comptes rendus Comptes rendus Im Anschluss an Sulzers Beiträge zu einer Theorie der Ästhetik im Supplément der Encyclopédie geht der Verfasser der Frage einer neuen gemeinsamen Referenz der Deutschen und Franzosen nach. Nicht nur in den überlieferten Monumenten der Antike, sondern auch in lebenden Menschen und deren Porträts, in den tableaux vivants, solle eine leiblich-affektive Wirklichkeit erfasst werden. Diese Dimension wird aufgezeigt über ein Bild des in Paris lebenden deutschen Kupferstechers Johann Georg Wille von Greuze (1763), das Diderot beschrieb und Grimm in seiner Correspondance littéraire einem europäischen Publikum vermittelte. Das sprechende Körperbild, das gemalte Porträt und die sprachliche Beschreibung des Porträts, werden als „Kette der transmedialen Übertragungen“ (111) betrachtet. Die Details, die Diderot im Wille-Portrait hervorhebt, erscheinen in seinem Munde als „Indikatoren für erfolgreiche Einwanderung“ (125). Es geht aber ganz allgemein um den Vergleich von Literatur und Malerei, der im Dialog zwischen Diderot und Grimm verhandelt wird, der die Salons des ersteren in seiner Correspondance veröffentlichte, „dem Verbindungsstück zwischen Aufklärungsphilosophie und aufgeklärtem Absolutismus“ (133). In seinen sprachlichen Portraits der beiden Einwanderer Grimm und Wille macht Diderot sichtbar, dass beide Widersprüchliches in sich vereinen; sie sind nicht mehr Boten, sie sind in Paris fest verankert, was die ‚Türöffner‘ Diderot und Greuze bezeugen. Arnaud und Turgot werden ihrerseits zu ‚Türöffnern‘ für Texte in deutscher Sprache (von Gellert und Gessner), die sie zusammen mit dem Übersetzer Michael Huber für ein französisches Ohr hörbar machen. Das größte Hindernis für Übertragungen aus dem Deutschen ins Französische war nach dem Verfasser der „Sprachkörper“, dem etwas „physiologisch Störendes“ (148) zugeschrieben wurde. Die Übersetzung musste aber nach dem damaligen Verständnis zielorientiert sein: sie muss Störendes beseitigen. Der Abbé Arnaud versuchte indes, einen Raum der Durchlässigkeit für die deutsche Sprache zu schaffen. In seinen Augen machte die größere Sinngewissheit in der deutschen Sprache Übertragungen zwischen Wissenschaften und Künsten leichter. Er zeigte aber auch auf, was unübersetzbar ist. Wichtigster Übersetzer aus dem Deutschen im vorrevolutionären Frankreich war Michael Huber, der ab 1750 in Paris lebte. 1766 hatte er in vier Bänden einen Choix de poésies allemandes veröffentlicht, in denen er die deutsche Literaturwelt und die Schweizer Natur als Gegenbild zu Paris vorstellte, dabei aber die Übersetzungen stark an das französische Publikum anpasste. Zusammen mit Turgot übersetzte er Gessners Idyllen; die beiden verstanden es aber nicht, der ursprünglichen Bildhaftigkeit gerecht zu werden. Der zweite Teil beginnt mit einer Studie der großen transkulturellen Akteurin Mme de Staël. Die im Roman Corinne (1807) beschriebenen Bauwerke Italiens übersetzten die „sehr sperrigen“ Begriffe von Kant wie den des Erhabenen in einem anderen (weder französischen noch deutschen) Kontext, etwa über die Beschreibung der Kuppel des Petersdoms für Kants Hinweis auf den „gestirnten Himmel über uns“ (188): „Die Kants zweiter Kritik entnommene philosophische ‚Stelle‘ gerät auf eine 119 Comptes rendus Comptes rendus Bühne der Liebeshandlung, verkörpert in sprechenden Liebespartnern, die Kunstwerke und die Natur kommentieren, und reißt Grenzen zwischen Kulturen Europas ein“ (210). Mit der Mischung der Genres in diesem Roman übersetzte die Autorin ein frühromantisches Konzept. Interessant ist auch der von Corinne, die mit der Autorin identifizierte wurde, gezogene Vergleich der Krönung auf dem Kapitol mit der Krönung Napoleons, die David im Bild festhielt. Der der Krönung folgende Tod der fiktiven Figur sage so auch den Untergang Napoleons voraus. Schließlich wird ein Bogen geschlagen zu Stendhal, der zwei Jahre in Deutschland verbrachte, und der über deutsche Leserinnen des Romans Corinne berichtet, seine Erfahrungen ‚deutscher Liebe‘ („glücklicher, aber fader“, 226) in seine Studie De l’amour einbringt und de Staëls Überzeugung teilt, Liebe müsse gesellschaftlich und leidenschaftlich sein. Seine Studie und seine Romane sind so „nicht nur vergleichende Liebesgeschichtsschreibungen, sondern beleuchten auch die Verwirrungen in transkulturellen Verbindungen“ (232). De l’Allemagne, das berühmte Buch der Napoleon-Gegnerin, sei in Deutschland jedoch darum so beliebt, so der Verfasser, weil die deutschen Leser darin viel Angenehmes über sich lesen konnten. In Frankreich unterliege sie jedoch dem Verdikt, „sie sei der Konterrevolution zuzurechnen […], sie habe mit der Charakterisierung der Deutschen als Volk der Dichter und Denker dazu beigetragen, dass die Franzosen die entstehende deutsche Gefahr nicht wahrgenommen und sich nicht gegen sie gewappnet hätten“ (199). Man vergesse dabei aber, dass sie den deutschen und den französischen Kontext in Bezug setze. Der Autor widmet sich nicht bloß Mme de Staël, sondern auch den andern bekannten „Großmittlern“ (188) der nachrevolutionären Zeit, so Charles Villers („Kant unter Hypnose: Tiefenpsychologische Übertragung in Villers’ Erkenntnistheorie“, 233-267) und natürlich Benjamin Constant („Affektiv-leibliche Vollzüge ohne Bilder und Dinge: Liebe und Religion bei Benjamin Constant“, 268-313).Villers subjektivistische Kant-Interpretation wurde selber wieder zu einem Medium und wurde von Kleist und den Romantikern, aber auch vom französischen Publikum lebhaft rezipiert. Der Lebensgang von Villers, der Professor in Göttingen wurde, stellt - nicht nur, weil er in einem ménage à trois lebte -, ein musterhaftes Beispiel einer Dreierkonstellation dar, „in der ein Bote zum Gast, der Gast zum Einwanderer, der Einwanderer zum Angehörigen werden will, die ausgetauschte Zugehörigkeit sich indes als unsicher, instabil erweist“ (260). Dadurch dass er in seinen Studien über die deutsche Universität dem religionstheoretischen Aspekt eine so große Bedeutung beimaß, war er auch eine Art Vorlage für Benjamin Constant und dessen Reflexion über die Religionen. Ähnlich waren sie auch darin, dass beide „deutsch-französische Liebesverhältnisse“ (269) lebten. Diese Erfahrung wird im stark autobiographischen Roman Cécile aufgespürt. Constant lasse hier den Konflikt zwischen geselliger (französischer) und religiös-emotionaler (deutscher) Bindung zugunsten der Liebesheirat ausgehen. Gebrochen werde mit dem Zwang, den jeweiligen Kontext zu repräsentieren. Cécile und der Ich-Erzähler verwirklichten im Liebesakt „ein Medium der Verbindung“ (183). Die Verbindung vollzieht sich ohne Intervention eines Priesters, was auch Constants Religionstheorie entspricht, eine Religionstheorie, die sich über das 120 Comptes rendus Comptes rendus Konzept der ‚perfectibilité‘ an Herders Geschichtsphilosophie orientiert. Seine Arbeit ist, so der Verfasser, „wohl die erste, die religions- und kulturtheoretische Forschungsergebnisse aus Frankreich und Deutschland systematisch zusammenführt“ (304). Originell ist es zweifellos, dass sich Thomas Keller nicht nur den Übertragungen widmet, die von Personen getragen werden, sondern auch der Verschiebung von Dingen, namentlich von Kunstwerken. Durch unterschiedliche Indienstnahme repräsentieren die Gegenstände doppelt, „den Kontext, dem sie entstammen und den Kontext, in den sie gelangen“ (313). Auch diesem Aspekt wird ein umfangreiches Kapitel gewidmet (314-352). Kunstgegenstände wurden zunächst von Fürsten gesammelt; erst mit der sich ausbildenden nationalen Bewegung wurden sie einem breiteren Publikum geöffnet und als ‚nationales‘ Erbe definiert. 4 Mit dem massiven Kunstraub zur napoleonischen Zeit wurden die Kunstwerke zu „transkulturellen“ Gegenständen, deren symbolischer Wert stieg durch den Eingang in das „kontinentaleuropäische Museum“ (318) Napoleons, den Louvre, um bei der Rückgabe („Retourkutsche“, 318) wieder neu kontextualisiert zu werden. Aufgezeigt wird das sehr schön über das Beispiel der Quadriga des Brandenburger Tores. 5 Aufschlussreich ist auch die Analyse der Reaktionen der bedeutenden deutschen Kolonie in Paris auf die Porträts lebender Personen wie Mme de Staël, Mme Récamier und Wilhelmine Cotta, die belegen, dass der Gegensatz (französische) Klassik vs. (deutsche) Romantik vieles zu Unrecht vereinfacht. Die Darstellung springt dann von der napoleonischen Zeit zur Jahrhundertwende. Man mag das bedauern, weil der Deutsch-Französische Krieg von 1870/ 71 einen Einschnitt darstellt, der das (politische) Verhältnis zwischen den beiden Ländern nachhaltig vergiftete, selbst wenn auch da die Intellektuellen - im Unterschied zur Periode des Ersten Weltkrieges - durchaus noch in Kontakt blieben. 6 Thomas Keller würde hier zu Recht erwidern, dass er keine Geschichte der deutsch-französischen Beziehungen schreiben wollte, sondern bisher kaum bekannte Kontaktzonen erschließen und aufdecken und dabei von der materiellen Kultur ausgehen wollte. Exemplarisch ist hier das Kapitel „Über die Unmöglichkeit, um 1900 Kunstgewerbe aus Deutschland nach Paris zu verpflanzen“ (355-389). Hier wird der Versuch der beiden transkulturellen Akteure Meier-Gräfe und Grauthoff rekonstruiert, kunstgewerbliche Gegenstände, die sich am Prinzip eines individuellen modernen Geschmacks orientierten, in Frankreich einzuführen, und vice versa impressionistische 4 Cf. dazu Anne-Marie Thiesse, La création des identités nationales. Europe XVII e -XX e siècle, Paris, Seuil,1999, 200-219. 5 Zur Neu-Interpretation des Brandenburger Tores im Kontext der deutschen Vereinigung von 1990 cf. auch Joseph Jurt, „La nouvelle Allemagne: quels symboles? “, in: Actes de la recherche en sciences sociales, 98, Juni 1993, 45-58. 6 Joseph Jurt, „Deux conceptions de la nation: le débat franco-allemand entre David Friedrich Strauss, Mommsen, Renan et Fustel de Coulanges en 1870-1871“, in: Académie des Sciences, Belles Lettres et Arts de Besançon et de Franche-Comté, Procès-Verbaux et Mémoires, 203, Besançon, 2017, 41-58. 121 Comptes rendus Comptes rendus Kunst in Deutschland. Interessant ist hier die Definition der Gegenstände als ‚Gabe‘ (und nicht bloß als Ware), deren Zurückweisung verletzt. 7 In einer originellen Interpretation des acte gratuit in Gides Immoraliste wird der Diebstahl als Gabe gesehen. Der Autor fand auch hier einen „transkulturellen Vorgang“ (406) im Gespräch über den genannten Roman zwischen dem Deutschen Felix Paul Greve und Gide, dem jener vorwirft, die Normüberschreitung, das „motivlose Verbrechen“, nur zu imaginieren und nicht, wie er selbst, es auch auszuführen. Greve wird zum Stellvertreter Gides und als sein Übersetzer auch sein „transkultureller Agent“ (408). Eine „transkulturelle Objektwahl“ (422) bestimmt, so der Verfasser, die Thematik von Jules et Jim. Man glaubt dieses Sujet auf der Basis des Filmes von Truffaut leidlich zu kennen. Thomas Keller legt aber auch hier eine subtile Interpretation vor, die vom Roman von Henri-Pierre Roché und von Franz Hessels Pariser Romanze ausgeht. Die deutsch-französische Freundschaft wandelt sich in den genannten Texten von der Dyade zu einer Dreierkonstellation, bei der die Frau als Medium benutzt, auf eine Sache, eine vorklassische Statue, zurückgeführt wird, die diese Instrumentalisierung nicht erträgt und sich darum grausam rächt. Für die Zeit nach dem Krieg rekonstruiert der Verfasser den „transkulturellen Weg“ (439) der Avantgarden; er geht hier vom Konzept der „schöpferischen Indifferenz“ (438) aus, das nach Salomo Friedlaender die Avantgarden charakterisiert. Über dieses Konzept transzendierten Dadaismus und Surrealismus gleichzeitig den Bellizismus und den Pazifismus (eines Remarque, eines R. Rolland oder Barbusse), die noch national konnotiert seien. Die Gewalt mache dabei „aus dem Zufall ein Drittelement, das schöpferische Nichts eines neuen Horizonts“ (442). 8 Das Schlüsselkonzept der schöpferischen Indifferenz erscheint hier von mehreren Dritt-Figuren verkörpert: 7 Ergänzend dazu könnte man hinweisen auf die Ausstellung „Laboratoire d’Europe. Strasbourg 1880-1930“, die von den Museen und der Universität von Straßburg von September 2017 bis Februar 2018 organisiert wurde. Mit dieser Chronologie bezog man sich bewusst nicht auf die politischen Daten der deutschen Besetzung. Es wurde hier aber offensichtlich, dass das Elsass zu einer deutsch-französischen Kontaktzone geworden war; cf. dazu im Katalog Christian Joschke, „Aspirations communautaires et réseaux transnationaux. Le cercle de Saint-Léonard dans le contexte européen“, in: Roland Recht / Joëlle Pijaudier- Cabot (ed.), Laboratoire d’Europe. Strasbourg 1880-1930, Strasbourg, Ed. du Musée de Strasbourg, 2017, 84-103. Interessant ist auch, dass 1907 in Straßburg eine Ausstellung zeitgenössischer französischer Kunst organisiert werden konnte, die von einer privaten Organisation getragen wurde (von der Gesellschaft der Kunstfreunde in Straßburg); cf. dazu Barbara Forest, „L’Exposition d’art français contemporain de 1907“, ibid., 170-185. 8 Man ist versucht, dem Vorhaben, eine „Drittposition zu gewinnen“ über eine Mobilisierung einer „anderen Gewalt“, „um auf die von den Nationalstaaten ausgelösten Grausamkeiten der Kriegsmaschinerie zu antworten“ (442), Sartres normative Einschätzung entgegenzuhalten: „L’abolition totale dont il [le surréalisme] rêve […] ne fait de mal à personne, précisément parce qu’elle est totale. C’est un absolu situé en dehors de l’histoire, une fiction poétique“ (Jean-Paul Sartre, Qu’est-ce que la littérature? , Paris, Gallimard (coll. ‚idées‘, 58), 1970, 230). 122 Comptes rendus Comptes rendus den Dandy (Huelsenbeck), den Fremden (Tzara) und den Zeugen im surrealistischen Barrès-Prozess (Péret). Giraudoux’ Siegfried erscheint als Kontrapunkt zu den sich verschlechternden deutsch-französischen Beziehungen der Zwischenkriegszeit. Der Protagonist Siegfried/ Jacques entzieht sich der Binarität, verkörpert „beide Zugehörigkeiten“ (463), entscheidet sich dann aber für Frankreich. Es handle sich so um „eine deutsch-französische Liebesgeschichte im Potentialis“ (476), weil sich der Franzose nicht für die deutsche Eva entscheidet. In überzeugender Weise wird ein Link zum Film Frantz (2016) hergestellt, der von Maurice Rostands L’homme que j’ai tué (1925) aus - und darüber hinaus - geht. Hier werde der sakrifizielle Charakter des Krieges sichtbar, die „Umkehrung der ödipalen Struktur“, „la guerre comme le meurtre des fils“ (Michel Serres) (481). Nach Thomas Keller ist kaum vorstellbar, „dass ein deutscher Regisseur heute einen solchen Film über den Ersten Weltkrieg dreht, in dem das Mitgefühl mit den Opfern der anderen Seite sich durchsetzt“ (500). Für die Zwischenkriegszeit werden in einem langen Kapitel Analogien zwischen der deutschen Philosophischen Anthropologie (um Hans Mayer, Plessner, Löwith) und der Soziologie des Sakralen (Bataille, Caillois, Leiris) herausgearbeitet. Hans Mayer, der am Vorabend des Krieges Georges Bataille begegnete, bemerkte, dieser sei „‚viel deutscher‘ gewesen, als er selbst es je hätte sein können“ (508). In der Tat konnte Bataille der parlamentarischen Demokratie wenig abgewinnen; er beklagte in nicht unproblematischer Weise die „Entmännlichung“ (507) und plädierte jenseits des Rationalen für „riskante Rituale“, „die mit Opferungen spielen“ (515). Wenn indes die Zeitschrift von Bataille, Acéphale, einen Teil von Löwiths Nietzsche-Studie abdruckte, dann belegte das das Bemühen von Franzosen, „Nietzsche den Nazis wegzunehmen und ihn für die Erzeugung eines eigenen faschismus-kritischen Mythos in Dienst zu nehmen“ (539). Als verbindendes Anliegen in der „Zwiespältigkeit“ (510) der Besatzungszeit schälte sich das Bemühen heraus, Seinsformen der persona in Verbindung zu bringen. Wenn die Anthropologen überzeugt waren, ohne Rollenverständnis könne es keine Freiheit geben, so unterstrich Caillois seinerseits: „Les masques sont le vrai lien social“ (534). Für die Zeit nach den Kriegen steht zunächst eine intensive Analyse des „wohl wichtigsten nach 1945 entstandenen Text zum deutsch-französischen Verhältnis“ (565): Le roi des aulnes (1970) von Michel Tournier. Daran schließt sich eine Reflexion über zwei „Schandbilder 1944/ 45“ an: das Bild der Ruinen von Oradour sur Glane und das Photo La femme tondue von Robert Capa. Das Bild der Ruinen von Oradour sur Glane erinnert an „das wohl furchtbarste deutsche Kriegsverbrechen während der Naziherrschaft in Westeuropa“ (610), ein Ort, der aber auch für die Franzosen verstörend wurde, weil sich Zwangsrekrutierte aus dem Elsass am Massaker beteiligt hatten, was man mit einer Amnestie zu ‚bewältigen‘ versuchte. Der Verfasser kommt auf die Begegnung von François Hollande und Joachim Gauck an dem Erinnerungsort zu sprechen. Im Unterschied zum Händehalten von Kohl und 123 Comptes rendus Comptes rendus Mitterand in Verdun, „das der verbrauchten Paarikonographie gehorcht“ (611), 9 brachte hier ein Dritter, der Überlebende Robert Héras, die Staatsvertreter in Verbindung, eine Position, die „national inszeniertes Gedenken durch spontanes Mitgefühl ersetzt“ (612). Das Bild der geschorenen Frau mit ihrem Kind hat die Macht, die damaligen Machtverhältnisse umzukehren: „Die selbsternannten Richter werden Gewalttäter, die ihre Macht missbrauchen“ (616). Das ‚Dritte‘ wird bei den deutschen Autoren Hubert Fichte und Brigitte Burmeister von der Provence verkörpert. Hubert Fichte findet hier „einen Ort der Ritualität, der ihn aus der spießbürgerlichen Welt der Adenauer-Zeit befreit und ihm ebenso Abstand zum Pariser Intellektuellenmilieu verschafft“ (622). Brigitte Burmeister gehörte zur Werner-Krauss-Forschergruppe in der DDR , widmete sich der Aufklärung und dem Nouveau Roman; sie versuchte nach der Wende, revolutionäre Energien ins neue System zu retten und dem Argwohn zu begegnen. Sie wurde zum „Sprachrohr für die Beschreibung der fortwährenden Teilung, die nicht nur zwischen Ost- und Westdeutschen, sondern auch unter Ostdeutschen Bindungen verhindert oder zerstört“. Auswege schienen Dritte und Drittes, Nichtdeutsches zu bieten (657). Für sie war das die alternative Kooperative Longo Maï im Midi und sie übersetzte diese Erfahrung im Roman Unter dem Namen Norma (1994). Es wird dann ein Bogen geschlagen zur Periode nach der Aussöhnung, als eine Banalisierung des deutsch-französischen Verhältnisses fühlbar wurde. Wenn sich Franzosen und Deutsche immer mehr ähnlich werden, besteht nicht mehr so sehr der Bedarf nach transkultureller Vermittlung. In diesem Kontext analysiert der Verfasser das sympathische Chanson „Göttingen“ von Barbara, das die Versöhnung (noch einmal) dramatisch inszeniert; er geht auch auf (metaleptische) Texte von Birgit Vanderbeke und Anne Weber ein. Das, was die beiden deutschen Autorinnen mit Cécile Wajsbrot verbindet, die ebenfalls betrachtet wird, das ist „die Unmöglichkeit, einer einzigen Zugehörigkeit zuzustimmen“ (714). Der fortgesetzte Kulturwechsel erscheint als ein Weg, ein deutsch-französisches Leben zu führen, ohne sich entscheiden zu müssen. Das 2004 unter der Leitung von Barabara Cassin herausgegebene Sammelwerk Vocabulaire européen des Philosophies mit dem Untertitel „Dictionnaire des intraduisibles“ regte den Verfasser zu sehr differenzierten Überlegungen zum Übersetzen und Übertragen generell an. Er scheint dabei die Perspektive des Germanisten Pierre Lefebvre zu teilen, der sich um ein Gleichgewicht zwischen ausgangs- und zielorientierten Positionen bemüht. Aufgezeigt werden die großen Übersetzungsprobleme, die Texte von Heidegger und Lacan aufwerfen. Die französische Tendenz, 9 Wird hier eine generelle Überlegenheit der Dreier-Konstellation gegenüber einer Paar- Beziehung (auf metaphorischer Ebene) postuliert? Erstaunlich ist, dass gerade in Frankreich die Metapher des deutsch-französischen ‚Paares‘ dominant ist und immer wieder symbolisch aufgeladen wird. Cf. dazu Joseph Jurt, „Le couple franco-allemand. Naissance et histoire d’une métaphore“, in: Cahiers d’études germaniques, 2, 42, 2001, 51- 60. 124 Comptes rendus Comptes rendus ‚unübersetzbare‘ philosophische Begriffe wie ‚Dasein‘ oder ‚Aufhebung‘ deutsch stehen zu lassen, führe letztlich zu einer Fetischisierung der Begriffe: „Der Text-Fetisch ist ein Quasi-Objekt, dessen opake Materialität die Stellvertretung vereitelt. Die Übertragung steht nicht immer im Dienste einer Stellvertretung für den Leser. Es hakt. Kein Pfingsten. Kein transkulturelles Feld“ (736). Das Schlusskapitel „Nach der Verhakung“ ist viel mehr als eine Zusammenfassung. Hier werden noch einmal die ganz unterschiedlichen Übertragungsformen, -objeke und -akteure und deren Kontexte miteinander ins Spiel gebracht. Das Spezifische des transkulturellen Feldes wird hervorgehoben, nämlich die Eigenschaft, „kulturelle Kennzeichen von zweien oder mehreren verbinden zu können, ohne diese zu sein“ (766). Es geht hier um „Verhältnisse der Benachbarung“ (768), die einer metonymischen und nicht einer metaphorischen Ordnung gehorchen. Das Fazit für die Zeit nach der Jahrhundertwende ist nicht sehr optimistisch: „Seit Ende der neunziger Jahre kennzeichnen Erschlaffung, Ermüdung, ja Gleichgültigkeit das Verhältnis. Es lässt sich sogar von einer Auflösung der Verhakung sprechen“ (781). Trotz wachsender Professionalisierung und Institutionalisierung des Verhältnisses müsse man ein steigendes Desinteresse feststellen, das sich in der abnehmenden Zahl der Übersetzungen 10 und der abnehmenden Zahl von jungen Menschen manifestiere, die die Sprache des Nachbarn sprechen. Thomas Keller hat mit der vorliegenden Untersuchung ein eindrückliches und differenziertes Panorama der deutsch-französischen Beziehungen vorgelegt. Man bewundert zunächst den immensen Wissensbestand, auf den er zurückgreifen kann. Er hält sich gleichzeitig an eine konsequente Perspektive, die hellhörig ist gegenüber den Kontaktzonen, gegenüber dem berühmten ‚Dritten‘ in seiner konkreten Verkörperung, das eine binäre Optik immer wieder ausblendet. Die Studie wirft einen Blick auf Aspekte, die einem oft gar nicht bekannt waren. Die Arbeit beruht auf einer sehr breiten Kenntnis der Quellen und der bestehenden Interpretationen und trotzdem handelt es sich nicht um eine akademische Arbeit in einem traditionellen Sinn; man spürt in jeder Zeile das Herzblut des Autors, das sich auch in einer persönlichen Diktion manifestiert. Man ist dem Autor dankbar, dass er sich dieser Herausforderung gestellt hat. Joseph Jurt (Basel / Freiburg i. Br.) 10 Die Aussage, „Übersetzungen aus dem Deutschen ins Französische nehmen seit einigen Jahren drastisch ab“ (783), müsste indes relativiert werden. Cf. dazu die Untersuchungen von Gisèle Sapiro: „L’allemand est, de loin, la langue la plus traduite en français, après l’anglais: elle représente 10 % des traductions en français pendant la période [1980-2002]“. Die Anzahl von Autorenrechten deutscher Titel, die zwischen 1997 und 2005 von französischen Verlagen erworben wurden, stieg um 30,8 % (cf. Gisèle Sapiro, „Situation du français sur le marché mondial de la traduction“, in: id. [ed.], Translatio. Le marché de la traduction en France à l’heure de la mondialisation, Paris, CNRS Editions, 2008, 65-106, hier 83-93).