eJournals lendemains 37/146-147

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Narr Verlag Tübingen
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2012
37146-147

Brief an die neuen Generationen

2012
Camille de Toledo
ldm37146-1470224
11: 40: 56 224 Actuelles Camille de Toledo Brief an die neuen Generationen * Die Damen und Herren in den europäischen Institutionen glauben, man könne die Bürger mit Vernunft an die Union heranführen. Währungsstabilität, Defizitreduktion, reiner und perfekter Wettbewerb. Aber dieses Europa langweilt die Menschen zu Tode - es fehlt ihm Phantasie und Poetik. Kinder des 21. Jahrhunderts! Kleine, gerade erste geborene Elfenwesen, die ihr schon die Schulen Europas bevölkert, für euch schreibe ich diese Zeilen. Für euch, für die die Geschichte des vergangenen Jahrhunderts - Krieg, dann Krieg, dann Krieg, dann Auslöschung, dann Dekolonisation - eine Serie von Horrorfabeln und Horrormärchen sein wird. Für euch, die ihr dieses Jahrhundert, das 21., erfinden müsst, dem ihr seine poetische, ästhetische und politische Kraft verleihen müsst. Und, möchte ich vor allem sagen, seinen ethischen Sinn. Ihr, die ihr genauso wie ich, aber mehr noch als ich, in dieser Zeit der Fiktionen aufwachst. Ihr werdet heranwachsen mit einen unendlichen Vorrat an Bildern in euch: Archive, Filme, Überlappungen von Welten, die man als real oder virtuell bezeichnet und die für euch aber untrennbar ein und dieselbe Welt sein werden. Vorläufig tollt ihr noch herum und spielt. Euch obliegt es, die Zeit danach zu erfinden. Auf meine Weise möchte ich euch dabei helfen. Und zunächst einmal folgendes sagen: Die Zeit der Metamorphosen Sehr geehrte Damen und Herren der europäischen Institutionen! Euer Europa langweilt uns. Es langweilt uns zu Tode. Es fehlt ihm nämlich eine geistige Dimension. Etwas von der Phantasie Geschaffenes. Es fehlt ihm eine Poetik! Bedenken Sie doch! Kohle und Stahl. EWU. Dann EU. Konvergenzkriterien. Europa als „Union“ ist nur Unterrichtsfach und Zertifikat, Markt und Akronym. Ich habe als Kind alles gelernt, was seit der Zeit ihrer Gründer über die europäische Konstruktion gesagt wird: Monnet, Schumann. Auf den Bänken der Institute für Politikwissenschaft, an der London School of Economics habe ich gesehen, mit welcher Hartnäckigkeit diese Konstruktion gelehrt wird. Man glaubt, man könne so eine Generation kleiner „Kommissare“ heranbilden. Man glaubt, man könne die Bürger Europas an die Vernunft dieser Union heranführen. Aber seht doch! Die Völker haben diese Langeweile satt. Sie können dieses Vernunftgebäude nicht * Am 07.06.2012 in der Süddeutschen Zeitung erschienen. 225 Actuelles mehr ertragen - Währungsstabilität, Defizitreduktion, reiner und perfekter Wettbewerb - und noch weniger den Hunger, zu dem sie dieses Gebäude verurteilt. In seinem vor kurzem in Frankreich erschienen Buch zur Verfassung Europas sieht sich Jürgen Habermas als Väterchen eines nichtvorhandenen europäischen Volkes. Er versucht die Kritik zu beantworten, nämlich: es gäbe kein „Demos“, kein europäisches Volk und infolgedessen könne es keinen transnationalen Staat und keine transnationale Verfassung geben. Aber wir brauchen ja kein Volk, sagt Habermas, wir müssen zuerst eine Verfassung ausarbeiten, aus der sich dann „abstrakte Solidaritäten“ ergeben. Ich unterstreiche den Ausdruck: „abstrakte Solidaritäten“ zwischen Bürgern, die nicht dieselbe Sprache sprechen, sich aber über die „Vernunft“ zu einem gemeinsamen Schicksal verbinden. Die Idee einer übernationalen Politik retten Auch hier wird wieder einmal die Frage der Sprache, der Poetik vermieden oder umgangen. Ich verstehe natürlich, warum ein Kind des 20. Jahrhunderts wie Habermas davon träumt, die Leidenschaft und die Emotion aus der Politik auszuschließen. Ich akzeptiere diese Ausschließung im Namen all dessen, was das vergangene Jahrhundert war: das Zeitalter der Massen, der lyrischen Verschmelzungen und der nationalistischen Furien, die bis heute durch den europäischen Raum spuken... Ich würde auch sagen, dass ich das Ziel von Habermas teile: die Idee einer übernationalen Politik retten. Aber ich möchte vor allem seinen Fehler betonen! Den tiefen, intellektuellen Fehler, den derjenige begeht, der glaubt, er könne einen politischen Raum konstruieren, ohne dass es einen poetischen Raum gäbe. Wenn ich „Victor Hugo“ sage, dann vermittelt dieser Name eine gewisse Vorstellung von der französischen Republik. Wenn ich „Goethe“ oder „Heine“ sage, dann spreche ich eine gewisse Vorstellung von Deutschland an. Für Europa nenne ich nun die Namen, die für mich „Zeichen“ bilden: Steiner, Magris und vor ihnen Zweig oder Valéry... Aber vor allem die „Unsichtbaren“, die Übersetzer, die uns im Lauf der Jahrhunderte ermöglicht haben, Werke zu lesen, die in einer Sprache geschrieben wurden, die wir nicht sprechen. Das ist ein Europa der Texte, gewiss, ein literarisches Europa, warum sollte ich es verbergen? Aber in dieser Literaturgeschichte zeichnen sich vor allem eine Politik und eine Poetik der Übersetzung ab. Diese „unsichtbaren“ Übersetzer bilden den Chor dessen, was ich bezeichnen möchte als: eine europäische Poetik der Zwischensprachlichkeit. Europa ist der Ort, an dem die Texte und die Sprachen der Welt publiziert und übersetzt werden. Lange Zeit hindurch tat man es um der Macht willen, um sich die Herrschaft über das Wissen zu sichern, über den Vers, den Rhythmus und die Metaphern, mit denen sich die Menschen die Welt aneignen. In einem Europa, in dem sich ein wenig Asien, ein wenig Afrika und ein wenig aus den beiden Amerika kreuzt, ist diese 226 Actuelles Anerkennung der Übersetzung als ein „poetisches Gemeingut“ weitaus mehr als eine bloße Bejahung der Völkermischung. Es handelt sich vielmehr um eine konkrete gedankliche Erfassung der Konflikte und Spannungen, die sich aus ihr ergeben, sowie des Instruments und des Bemühens, die uns ermöglichen, eben diese Spannungen und Konflikte zu überwinden. Aber dieses Bemühen und dieses Überdenken der Übersetzung müssen aus dem Feld der Literatur heraustreten. Unsere Verantwortung besteht darin, jeden Bürger des 21. Jahrhunderts in dieser Politik der Zwischensprachlichkeit aufzuziehen. Konkrete Solidaritäten Sehen wir doch einmal, was jetzt vorgeht! Die „Emotion“, die man während eines Wahlkampfes empfindet. In Italien, in Schweden, in Polen, in Griechenland, in Ungarn ... Gestern in Frankreich. Eine nationale Sprache wird von Kandidaten verwendet, die an einen kurzlebigen gemeinsamen Nenner des „Volkes“ appellieren. Die Kandidaten haben jeweils ihren eigenen Bezugsrahmen, ihre eigene Eloquenz. Es handelt sich für den Wähler immer darum, das Wort, das Versprechen und die Sprache zu wählen, die an die Hoffnung rühren. In diesem Rahmen haben die Nationen leider immer noch das Monopol, eine kollektive Schwingung zu erzeugen. Warum betone ich dann diese Dimension der Sprache, des Ausdrucks? Um das europäische Projekt mit genau dem zu konfrontieren, was es zu denken vergisst. Die Frage nach einer gemeinsamen Sprache, die die „konkreten Solidaritäten“ mobilisieren und aus Europa auch einen poetischen Raum machen würde. Ich bin selber ein Kind der Ernüchterung. Ich mag es nicht, wenn ich von einer öffentlichen Parole mitgerissen werde. Aber ich muss realistischerweise zugeben, dass es keinen politischen Raum ohne einen poetischen Raum geben kann: ohne Metaphern, ohne Verweise, ohne Rhetoriken, ohne Formen des Humors ... Ich stelle folglich den „abstrakten Solidaritäten“ von Habermas - also dem Euro, dem europäischen Recht, dem industriellen Interesse der Mitglieder der Union, dieser Welt der Sparmaßnahmen und des Hungers, zu der das europäische Projekt geworden ist - die Frage nach den „konkreten Solidaritäten“ gegenüber. Wie kann man zwischensprachliche Solidaritäten konstruieren? Welche Poetik für das Europa des 21. Jahrhunderts könnte eine Bürgerschaft der multiplen Zugehörigkeiten begleiten? Bis jetzt haben sich die Erbauer Europas immer mit einem einzigen emotionellen Argument begnügt: die Kriege, das 20. Jahrhundert und die Auslöschung. Dieses ständig wiederholte Argument hat mich dazu veranlasst, mehrmals zu schreiben, dass die Vergangenheit auch heute noch die ungeschriebene Verfassung Europas ist. Wir leben unter dem Regime einer „Erinnerungsmacht“. Doch ich sage mit allem Nachdruck hier, dass diese Erinnerung nicht mehr genügt! Was für die Generation von Kohl und Mitterand funktionierte und was auch noch Hollande und 227 Actuelles Merkel antreiben soll, das wird für die Kinder des 21. Jahrhunderts nicht mehr ausreichen. Wir müssen etwas anderes finden. Etwas anderes aufbauen. Uns etwas anderes ausdenken. Nicht mehr nur das Gewicht der Erinnerung, sondern eine Poetik, die einen Horizont für die Zukunft definiert. Das ist unabdinglich, sonst gewinnen die Nationen durch die Emotion, die sie auslösen, wieder die Oberhand. Das ist leider der Weg, der bis jetzt eingeschlagen wurde. Die Rückkehr der Nationen! Und überall die Identität erneut als Waffe... Ich habe in einem Buch mit dem Titel Le Hêtre et le bouleau (Die Buche und die Birke), einem Essay über die europäische Traurigkeit, beschrieben, wie für mich diese „Poetik der Zwischensprachlichkeit“ aussehen könnte. Es gibt am Ende des Buches ein Programm, das sich über dreißig Jahre erstreckt: 1. Die Einführung in ganz Europa einer Pädagogik des Übersetzens und die Schaffung einer „Schule des Taumels“ für die noch ungeborenen Kinder, um den Unterricht in Übereinstimmung zu bringen mit der Realität, in der sie leben werden: einer hybriden Realität des „Dazwischen“, der multiplen Identitäten. 2. Die Abfassung eines „Lehrbuchs der utopischen Geschichte“, um den Schülern Europas nicht mehr eine aus der Sicht der Nationen geschriebene Geschichte zu vermitteln, sondern eine Geschichte der Durchlässigkeit, der Entlehnungen, der Übergänge, der Passagen. 3. Die Schaffung einer Europäischen Akademie der Sprachen und des Übersetzens, um die ersten Ansätze einer europäischen Kulturpolitik zu definieren. Große Persönlichkeiten der Literatur, die diese Ethik der Passagen repräsentieren, würden aufgefordert werden, ein Korpus von Werken zu definieren, die in die verschiedenen europäischen Sprachen übersetzt werden sollen. 4. Ein neu definiertes Konzept der Bürgerschaft, inspiriert von der Gestalt des Übersetzers, der weiß, welche Anstrengung, welche Konfliktbereitschaft und welche Zerreißprobe es ist, zwei Sprachen und zwei Kulturen zu verbinden. 5. Die Anerkennung der Sprachen, die in den Ländern der Union von denen gesprochen und geschrieben werden, die beschlossen haben dort zu leben, als europäische Sprachen. Dadurch würden chinesisch, arabisch, russisch, zahlreiche afrikanische Sprachen, hebräisch und japanisch ... zu europäischen Sprachen. Denn sie sind es! Europa wollte die Welt ordnen und erobern. Es muss nun akzeptieren, dass die Welt dort aufeinandertrifft, in ihren Sprachen. Diese Poetik und diese Politik des Übersetzens hat nicht nur die Aufgabe, konkrete Solidaritäten „unter anderen“ zu schaffen. Sie wäre vor allem ein Zeichen dafür, dass man bestrebt ist, das Geistige wieder in die Geschichte einfließen zu lassen: ein Bestreben, das, so hoffe ich, auch in die Wende Europas einfließen wird, die der neue französische Präsident aushandeln möchte. Wachstum, so sagt er, warum nicht? Es ist gewiss nötig. Aber um welchen Sinn zu konstruieren und welche Gemeinsamkeit zu stärken? 228 Actuelles Ein „Breiviksches“ Europa: Die Zwischensprachlichkeit Ich werde mit einer düsteren Bemerkung schließen: ein böser Wind weht durch Europa. Da ist nicht nur die Krise der Schulden und der drohende Konkurs Griechenlands. Ein „Breiviksches“ Europa wächst heran. Ich bezeichne es so, als „Breiviksch“, weil es mehr oder weniger deutlich die Ideen von Anders Behring Breivik vehikuliert, der in Oslo für die Ermordung von 77 Personen vor Gericht steht; ermordet um, so sagt er, die „Zivilisation“ gegen den Islam zu verteidigen und gegen das, was er am meisten hasst: den Multikulturalismus. Dieses Breiviksche Europa sieht sich als eine attackierte und von Auflösung bedrohte „Zivilisation“. Es lockt Jugendliche an, die nach einem Anliegen, einem Opfer suchen. Es gewinnt Sitze in den Parlamenten. Seit dem Aufstieg Jörg Haiders in Österreich bis hin zum Massaker auf Utoya in Norwegen gewinnt dieses Breiviksche Europa immer mehr Raum in der Öffentlichkeit und immer mehr Macht. Ihm gegenüber erscheint die Europäische Union ohnmächtig oder, schlimmer noch, mehr und mehr als Komplize. Eine Übelkeit erregende Allianz festigt sich zwischen einem Europa der Vernunft - Sparmaßnahmen, Schuld, Defizit - und einem Europa der Leidenschaft der leidenschaftlichen Klammerung an Identität und Fremdenhass. Deshalb heißt es handeln. Wir müssen die Zeit danach organisieren. Und jetzt schon an dieser Poetik der Zwischensprachlichkeit arbeiten. Um eine bewohnbare Gemeinsamkeit in einem Europa der Übersetzungen zu konstruieren. Eine Zukunft, die sich erinnert an das, was geschehen ist. Eine Schule der anderen, der Alterität, für diese Zeit der Hybridierung und der Metamorphosen. Übersetzung: Dieter Hornig Camille de Toledo ist 1976 geboren. Er ist ein französischer Schriftsteller und lebt in Berlin. Er ist vor allem der Autor von Le Hêtre et le bouleau: Essai sur la tristesse européenne (Die Buche und die Birke. Essay über die europäische Traurigkeit) Paris, 2009.