eJournals lendemains 37/146-147

lendemains
0170-3803
2941-0843
Narr Verlag Tübingen
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2012
37146-147

Alfred Grosser und das Comité français d’échanges avec l’Allemagne nouvelle – zur Exemplarität eines Mittlerengagements in den deutsch-französischen Beziehungen der frühen Nachkriegszeit

2012
Katja Marmetschke
ldm37146-1470060
60 Dossier Katja Marmetschke Alfred Grosser und das Comité français d’échanges avec l’Allemagne nouvelle - zur Exemplarität eines Mittlerengagements in den deutsch-französischen Beziehungen der frühen Nachkriegszeit Die Vita von Alfred Grosser bietet in überreicher Zahl Ansatzpunkte, um sein Wirken als deutsch-französischer Mittler und Intellektueller zu untersuchen. Bis heute ist Alfred Grosser sowohl in Frankreich als auch in Deutschland ein gefragter Gesprächspartner, wenn es darum geht, aktuelle Vorgänge im Nachbarland zu analysieren; er war und ist ein einflussreiches Mitglied in zahlreichen deutsch-französischen Institutionen; er hat für sein bilaterales Engagement zahlreiche hohe Ehrungen erhalten, u.a. 1975 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Überdies hat er sich nie gescheut, als unbequemer Denker kritisch in die politisch-gesellschaftlichen Debatten der deutschen und französischen Öffentlichkeit einzugreifen. Die folgenden Ausführungen richten den Blick auf einen Zeitabschnitt seiner Biographie, in dem - wie Grosser selbst in der Rückschau immer wieder betont hat 1 - nachhaltig und dauerhaft seine Einstellung zum Nachbarland geprägt und der Grundstein für sein deutsch-französisches Mittlerengagement gelegt wurde, nämlich die unmittelbare Nachkriegszeit, als er mit gerade einmal 23 Jahren zum Generalsekretär des Comité français d’échanges avec l’Allemagne nouvelle berufen wurde, das zu einem der wichtigsten Zentren der deutsch-französischen Annäherung nach 1945 wurde. Um zu verdeutlichen, weshalb Grosser bereits in jungen Jahren eine solch herausragende Rolle in den Kultur- und Gesellschaftsbeziehungen zwischen beiden Ländern spielen konnte, werden im ersten Teil die frühen Stationen seiner Biographie rekapituliert, um dann im zweiten Teil die Arbeit und die soziologische Trägergruppe des Comité näher zu beleuchten. Im dritten Teil geht es schließlich um die verschiedenen Facetten und die Antriebsmotive von Grossers Verständigungsengagement der Nachkriegszeit. 1. Biographische Stationen auf dem Weg zum zivilgesellschaftlichen Mittlerengagement Alfred Grosser 2 wurde 1925 als Sohn einer deutsch-jüdischen Familie in Frankfurt geboren, wo sein Vater Direktor des Clementine-Kinderkrankenhauses war. 3 Im Dezember 1933 musste die Familie nach Frankreich emigrieren, wo sein Vater in einem Pariser Vorort ein Kindersanatorium einrichten wollte. Als der Vater Anfang 1934 überraschend verstarb, oblag es der Mutter, Lily Grosser, 4 für den Lebens- 61 Dossier unterhalt ihrer beiden Kinder zu sorgen. 1937 erhält die Familie die französische Staatsbürgerschaft. Folgt man den Memoiren Grossers, so hat sich diese Naturalisierung nicht nur auf dem Papier vollzogen: Alfred Grosser hat rasch die französische Sprache erlernt und sich gut in das Schulsystem integriert, wobei der Verlust des Vaters diesen Eingewöhnungsprozess noch beschleunigt hat. 5 Die familiäre Situation änderte sich indes dramatisch, als im Juni 1940 deutsche Truppen in Paris einrückten und Alfred Grosser zusammen mit seiner Schwester im Juni 1940 nach Südfrankreich fliehen und untertauchen musste. Der weitere Lebensweg Grossers ist einschneidend durch diese Erfahrung geprägt. Seine Schwester Margarete war durch die Flucht so stark geschwächt, dass sie Ende April 1941 verstarb. Alfred Grosser legte 1942 unter schwierigen Umständen das Abitur ab und nahm 1943 das Studium der Germanistik (zunächst in Nizza, dann in Aix-en- Provence) auf, das er im Herbst 1945 nach seiner Rückkehr in Paris beendete. 6 Entscheidend für sein Engagement in den deutsch-französischen Beziehungen war sein erster Aufenthalt im Nachkriegsdeutschland. Bereits seit 1946 hatte Alfred Grosser seinen Lebensunterhalt teilweise durch kleinere Presseartikel bestritten, u.a. auch durch die Mitarbeit im Neuen Kurier, einer Zeitschrift, die vom französischen Kriegsministerium für deutsche Kriegsgefangene in Frankreich herausgegeben wurde. Im Auftrag dieser Zeitschrift führte Grosser Sommer 1947 eine Enquête über die Lebensbedingungen in Deutschland durch, die ihn innerhalb von sechs Wochen in 20 westdeutsche Städte führte und ihn mit einem breiten Spektrum deutscher Gesprächspartner zusammenbrachte, das von Arbeitern und Landwirten über Studenten, Gewerkschaftsvertretern und Lokalpolitikern bis hin zum Philosophen Karl Jaspers reichte. Es war dieser erste längere Deutschlandaufenthalt Grossers nach der Flucht, der dauerhaft die Grundlage seines Wissens und seiner Einstellung zum Nachbarland prägte. 7 Die Artikelserie, die er daraufhin für das renommierte Widerstandsorgan Combat verfasste, sticht gleich in mehrfacher Hinsicht aus dem Meer der Artikel über Nachkriegsdeutschland heraus: Während sich die meisten mit den Fragen „Wie kam es zum Dritten Reich? “, „Was muß getan werden, um in Zukunft ein Wiedererstarken des deutschen Nationalismus zu verhindern? “ oder „Welche Vorbedingungen müssen erfüllt sein, um einen Neuanfang in den deutsch-französischen Beziehungen zu versuchen? “ beschäftigten, verweigert sich Grosser komplett einer vergangenheitsorientierten Ursachenanalyse oder dem Aufstellen eines Bedingungskatalogs. Vielmehr beschreibt er mit großer Unvoreingenommenheit, ja fast schon Empathie die existentiellen Nöte und Sorgen der Jugend in Deutschland. Sie erscheint ihm gerade nicht als eine von der nationalsozialistischen Doktrin infiltrierte (und damit „verlorene“) Generation, sondern als eine Kohorte verunsicherter, aber doch grundsätzlich neugierig-offener Menschen, die sich nach Instanzen der unabhängigen Meinungsbildung sehnen und dafür weder bei den Kirchen noch bei den Parteien oder Universitäten die notwendige Orientierung finden. Genau an dieser Stelle appelliert Grosser an die Verantwortung Frankreichs, dem nachgerade die moralische Verpflichtung zufalle, auf diese jungen Menschen zuzugehen. Er räumt zwar ein, dass man in der französi- 62 Dossier schen Zone auf kulturellem Gebiet schon einiges geleistet habe (etwa durch Theateraufführungen), dass in Deutschland aber insgesamt eine erschreckende Unkenntnis über das zeitgenössische Frankreich herrsche. Die deutsche Jugend lerne das Nachbarland nur aus der Perspektive der Besatzung kennen, wo sich kein positives Bild böte, da das Auftreten der Besatzungsbehörden bestehende Vorurteile teilweise sogar noch verhärte. Wie sieht nun Grossers Gegenmittel aus? Er schlägt vor, sobald wie möglich junge Deutsche nach Frankreich zu schicken, um einen wechselseitigen Informationsaustausch und ein authentisches Kennenlernen unter Bedingungen zu ermöglichen, die gerade nicht durch die asymmetrische Besatzungssituation geprägt seien. 8 Die Grundzüge des hier formulierten Annäherungskonzepts waren nach 1945 in breiten Kreisen der französischen Bevölkerung sicherlich nicht mehrheitsfähig. Auf äußerst positive Resonanz stieß Grossers Artikelserie hingegen im französischen Milieu des Linkskatholizismus, in dem Einzelpersonen bereits in ganz ähnlicher Weise erste Vorstöße für die Wiederaufnahme des bilateralen Dialogs unternommen hatten. 9 Das erste Initiativzentrum war die Abteilung „Jugend und Sport“ der französischen Besatzungsverwaltung in Baden-Baden, die als Behörde den wohl unmittelbarsten Kontakt mit der gesellschaftlich-kulturellen Wirklichkeit Deutschland hatte. Hier wurden in großer organisatorischer Eigendynamik zahlreiche Initiativen und Begegnungszentren ins Leben gerufen, die breite Bevölkerungsschichten und vor allem Jugendliche beider Länder direkt miteinander ins Gespräch brachten. 10 Das zweite Zentrum der Annäherung, das in personeller und programmatischer Hinsicht in vielfacher Hinsicht mit der gerade genannten Behörde verbunden war, war von dem französischen Jesuitenpater Jean du Rivau gegründet worden. Du Rivau war als Militärseelsorger 1945 in Deutschland stationiert und hatte ebenfalls das Defizit an elementarer Information als Grund für das Tief in den deutsch-französischen Beziehungen identifiziert. Einem spontanen Handlungsimpuls folgend baute er mit Hilfe verschiedener kirchlicher Organisationen eine Begegnungsagentur auf und rief schon im August 1945 eine deutsch-französische Zwillingszeitschrift ins Leben, die bezeichnenderweise den Namen „Dokumente“ bzw. „Documents“ trug und es sich zum Ziel gesetzt hatte, die Wissensbasis über das andere Land zu erweitern. 11 Grosser diente seine Artikelserie über die Jugend in Deutschland quasi als Eintrittskarte in dieses Milieu, dessen Aktivitäten ihm vorher unbekannt waren und auf dessen Treffen er bald Stammgast wurde. Zu diesen zwei Pionierorganisationen gesellte sich schließlich 1948 noch eine dritte Verständigungsagentur, die ebenfalls aus dem Umfeld des Linkskatholizismus hervorging und in der Alfred Grosser selbst die tragende Rolle spielte, nämlich das Comité français d’échanges avec l’Allemagne nouvelle. 12 63 Dossier 2. Das Comité français d’échanges avec l’Allemagne nouvelle: Neubegründung transnationaler Begegnungspraxis und Mobilisierung intellektuellen Verständigungspotentials Die Gründung dieses Komitees geht auf den Philosophen Emmanuel Mounier (1905-1950) zurück, den wichtigsten Vertreter des Personalismus in Frankreich und Herausgeber der Zeitschrift Esprit. Mounier hatte zwar schon immer Interesse an Deutschland gezeigt, aber nie persönliche Beziehungen zum Land selbst aufgebaut. 13 Dies änderte sich, als er mit Hilfe der Besatzungsverwaltung Anfang 1947 eine Reise durch Westdeutschland unternahm, aus der eine Sondernummer von Esprit hervorging, in der junge Deutsche - und dies war damals ein durchaus ungewöhnlicher und mutiger Schritt - ihre Sicht der aktuellen Lage darstellten. 14 Mounier war der Meinung (und diese moralisch-politische Überzeugung bildete den zentralen Grundkonsens im linkskatholischen Verständigungsmilieu), dass die junge Generation jenseits des Rheins nicht für die Verbrechen der Vergangenheit zur Verantwortung gezogen werden konnte, dass sie eher Opfer als Täter waren und es daher eine moralische Pflicht war, ihnen zu helfen. In diese Überzeugung spielten auch die politischen Erfahrungen des Versailler Vertrages hinein. Deutschland sollte nicht wieder isoliert werden und dadurch möglicherweise erneut in Aggressivität und Nationalismus abgleiten. Mouniers dialogische Grundeinstellung, die kein Denken in a priori abgeklärten Fronten gelten ließ und die sich auf die zwischenmenschlich-persönliche Verantwortung berief, bildete das philosophische Fundament seiner Mittlertätigkeit in der Nachkriegszeit. Im Sommer 1948 begann Mounier mit Vorüberlegungen zur Gründung einer Intellektuellenvereinigung, die den deutsch-französischen Dialog intensivieren sollte und die dann im Herbst 1948 an die Öffentlichkeit trat. Die Zusammensetzung des kollektiven Vorstandes 15 und des Beirates ist aufschlussreich: Die erste wichtigste externe Konstituierungsbedingung ist die Résistance-Erfahrung, die fast alle Mitglieder biographisch miteinander verband. Insbesondere stark repräsentiert waren die Vertreter der Combat-Widerstandsbewegung (wie Henry Frenay, Claude Bourdet und Rémy Roure). Die zweite wesentliche Gemeinsamkeit der Mitglieder ist ihre Multiplikatorenfunktion, die sich nahezu auf das gesamte Spektrum politisch-gesellschaftlicher Interventionsräume erstreckte. Zu dem weit aufgespannten Netzwerk von Schlüsselpersonen im Komitee gehörten: a) Politiker verschiedener Parteien (wie z.B. der Sozialist und zeitweilige Wirtschafts- und Finanzminister André Philip, der schon in den 1930er Jahren in Esprit publiziert hatte und dem protestantischen Milieu nahestand, oder der MRP-Politiker Léo Hamon); b) bekannte französische Intellektuelle (wie Jean-Paul Sartre und Maurice Merleau- Ponty von den Temps Modernes oder Raymond Aron); c) Publizisten und Journalisten (wie etwa Rémy Roure, der innenpolitische Leitartikler von „Le Monde“ und René Lauret, dem das Außenpolitik-Ressort der gleichen Zeitung oblag); d) Hochschullehrer und Germanisten (Edmond Vermeil, Robert Minder, Maurice Colleville, Robert d’Harcourt, Joseph-François Angelloz); e) Vertreter der Kirche und anderer 64 Dossier Verständigungsinitiativen (wie Joseph Rovan, Jean du Rivau und Albert Finet, der Gründer der protestantischen Wochenzeitschrift Réforme). 16 Hinsichtlich der generationellen Zugehörigkeit seiner Mitglieder zerfällt das Komitee in zwei Gruppen: Ein knappes Viertel der Mitglieder ist um 1880 geboren und war bereits während der Zwischenkriegszeit in den deutsch-französischen Verständigungsorganisationen präsent, wie z.B. der Sorbonne-Germanist Edmond Vermeil (1878-1964), der NRF-Mitbegründer und Schriftsteller Jean Schlumberger (1877-1968), der katholische Intellektuelle und Germanist Robert d’Harcourt (1881-1965) oder der Journalist René Lauret (1882-1975). Allerdings ist es gerade nicht diese ältere Generation der Verständigungsprotagonisten, die innerhalb des Komitees den Ton angibt, sondern die Generation der um 1905 geborenen Intellektuellen, zu der etwa 3/ 4 der Mitglieder zählen, wie Emmanuel Mounier (1905- 1950), Jean-Paul Sartre (1905-1980) und Raymond Aron (1905-1983), die sogar gemeinsam ihre Ausbildung an der Ecole normale supérieure durchlaufen hatten. Aber auch der Germanist und normalien Robert Minder (1902-1980), der Widerstandskämpfer und Politiker Henri Frenay (1905-1988) oder der Historiker Henri Brunschwig (1904-1989) gehörten ihr an. In der französischen Intellektuellenforschung wird diese Alterskohorte als die „génération de la crise“ bezeichnet, die sich erstmalig in den späten zwanziger Jahren in der politisch-gesellschaftlichen Öffentlichkeit artikulierte und dann in den 1930er Jahren ein gesteigertes politisches Engagement entfaltete, das seinen deutlichsten Ausdruck in der Bewegung der non-conformistes fand, zu deren Plattformen auch die Zeitschrift Esprit gehörte. 17 Die Kritik dieser Generation an der etablierten (und in ihren Augen erstarrten) politisch-gesellschaftlichen Ordnung äußerte sich in einer revolutionär auftretenden Erneuerungsbewegung, die geradezu fieberhaft nach Krisen-Lösungsmöglichkeiten jenseits des Parlamentarismus, des politischen Links-Rechts-Denkens, des Kollektivismus oder Individualismus suchte. Die eigentliche Blüte- und Reifezeit dieser Generation begann nach 1945, in der ihre Vertreter (allen voran Jean- Paul Sartre und Raymond Aron) nachhaltig durch ihr Engagement und ihre Publikationsorgane den öffentlichen Diskurs prägten. 18 Einen wichtigen Referenzpunkt auf der Suche nach neuen Orientierungspunkten bildete für die non-conformistes die Befassung mit Deutschland, in der Hoffnung, dass sich daraus mögliche Ansätze zur Krisenüberwindung generieren ließen. Der Blick richtete sich dabei einerseits auf lebensreformerische Erneuerungsimpulse im soziokulturellen Bereich (z.B. die Jugendbewegung), andererseits auf die neuen geisteswissenschaftlichen und phänomenologischen Erkenntnisansätze von Dilthey und Husserl. Vor allem für den Kreis der nonkonformistischen normaliens lassen sich die Vermittlungswege und Rezeptionsprozesse des „neuen“ philosophischen Denkens in der Weimarer Republik anschaulich rekonstruieren, wie es das Fallbeispiel von Raymond Aron und anderer zeigt. 19 Für die Mitglieder des Komitees, die mehrheitlich eben dieser Generation angehörten, lässt sich daher begründet vermuten, dass ihr Interesse am Nachkriegsdeutschland nicht konjunktureller Natur war, sondern seinen Ursprung hatte in der 65 Dossier vom Krisendiskurs angeregten Deutschlandbefassung der Zwischenkriegszeit. Wenn man die Lebensläufe der Mitglieder betrachtet, kann man in der Tat feststellen, dass ihr Deutschlandbezug eindeutig auf die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg zurückgeht, wenngleich sich auch die Einlassung auf das Nachbarland in ganz unterschiedlichen Kreisen vollzog. Gut bekannt und erforscht sind die Studienaufenthalte von Raymond Aron (1930-33 in Köln und Berlin) sowie Jean-Paul Sartre (1933-35 in Berlin und Freiburg), weniger bekannt ist, dass der normalien, Germanist und Journalist Pierre Jouve (1901-1991) sowie der Historiker Henri Brunschwig (1904-1989) Anfang der 1930er ebenfalls Stipendiaten des französischen Akademikerhauses in Berlin waren. 20 Ein anderer normalien, Robert Minder, hatte 1923 das Groupement d’information internationale de l’Ecole Normale Supérieure gegründet, das u.a. Gäste aus Deutschland zu Vorträgen nach Paris einlud. 21 Und der Widerstandskämpfer Henri Frenay (1905-1988) hatte Mitte der 1930er Jahre eine interdisziplinäre Ausbildung am Centre d’Etudes Germaniques in Straßburg durchlaufen. 22 Diese frühe, in relativ jungen Jahren erfolgte Auseinandersetzung mit dem Nachbarland schuf offensichtlich eine langfristige Verbundenheit, die trotz der Erfahrung von Nationalsozialismus, Verfolgung und Widerstand ein mobilisierungsfähiges Reservoir für die transnationale Kontaktaufnahme blieb. Wenn man das unterschiedliche sozio-professionelle und weltanschauliche Spektrum betrachtet, das im Komitee zusammentraf, dann scheint die frühe Befassung mit Deutschland gepaart mit dem aktiven Résistance-Engagement das kohäsionsstiftende Band zwischen den Mitgliedern zu bilden. Diese Gemeinsamkeit darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass viele der genannten Persönlichkeiten kaum oder nur gelegentlich in der Arbeit des Komitees präsent waren. Insgesamt verfügte es nur über eine geringe Binnenstruktur, es war eine lockere Intellektuellenvereinigung, 23 deren Aktivitäten im wesentlichen durch Alfred Grosser organisiert wurden, dem als Generalsekretär de facto die gesamte Entscheidungshoheit oblag und der es als echtes Organisations- und Kommunikationstalent verstand, diese Funktion so auszufüllen und weiter auszudehnen, dass das Komitee sogar nach dem Tod Emmanuel Mouniers in den 1950er Jahren seine eigentliche Blütezeit erlebte. Aber was qualifizierte den gerade einmal 23jährigen für diese Aufgabe? Seine Legitimation konnte er aus mindestens drei Quellen beziehen: Erstens war dies die positive Resonanz auf seine Artikelserie in Combat, durch die er Zugang zu den Pioniernetzwerken der Verständigung erhalten hatte. Zweitens hatte er bereits einschlägige akademische Qualifikationen erworben: 1947 hatte Alfred Grosser als Jahrgangsbester die agrégation d’allemand bestanden und daraufhin seine Habilitation begonnen. Anfang der 1950er Jahre trat er eine Assistentenstelle an der germanistischen Fakultät der Sorbonne an und veröffentlichte 1953 sein Buch L’Allemagne de l’occident, eines der ersten Bücher überhaupt, das in Frankreich über die Bundesrepublik erschien. Drittens kamen ihm für seine praktische Mittlertätigkeit Kontakte zugute, die er während eines einjährigen Aufenthalts in Deutschland geknüpft hatte: Von 1950-51 war er als Spezialist der UNESCO beauftragt worden, die wichtigsten Vertreter der 66 Dossier deutschen Jugendverbände zu treffen und die Eröffnung eines Jugendinstituts in Deutschland vorzubereiten. Und schließlich verkörperte er mit seinem biographischen Hintergrund geradezu exemplarisch den Neuanfang im deutsch-französischen Dialog. Sein Leben war - wie das der meisten Komitee-Mitglieder - gezeichnet durch Flucht und Emigration, aber im Gegensatz zu den älteren Komitee- Mitgliedern gehörte er aufgrund seines jungen Lebensalters genau zu der Generation, an die sich die Intellektuellenvereinigung mit ihrer Verständigungsarbeit wenden wollte. Was war nun die genaue Zielsetzung des Komitees? Grosser hat mehrfach darauf hingewiesen, dass sein umständlicher Name die Kurzfassung seines Programms beinhaltete: Comité français: Die Gruppe war keine deutsch-französische Vereinigung, sondern eine rein französische Initiative, die in Frankreich und Deutschland ihre Verständigungsaktivitäten aufbauen wollte. Damit unterschied sie sich von den beiden eingangs genannten Zentren, die ihren Sitz in Deutschland hatten; d’échanges: Der Schwerpunkt des Komitees lag auf der Idee des Austausches und war bewusst gewählt worden, um sich vom asymmetrischen Kommunikationsgefälle der Besatzungssituation zu distanzieren und eine gleichberechtigte Begegnung auf Augenhöhe zu ermöglichen. Dieses Streben nach Unabhängigkeit spiegelt sich auch in der Satzung wider, wonach Bediensteten des Außenministeriums und der Besatzungsverwaltung die Mitgliedschaft verwehrt war; avec l’Allemagne nouvelle: Ziel war das „neue Deutschland“, d.h. als potentielle Gesprächspartner kamen alle politisch-gesellschaftlichen Kräfte in Frage, die sich entweder im Widerstand engagiert hatten oder sich im weitesten Sinne für den Aufbau der Demokratie einsetzten. 24 Besonders prägnant treten die Zielsetzungen des Komitees auch in dem Eröffnungsmanifest Mouniers hervor, in dem er sich zudem klar vom deutsch-französischen Verständigungskonzept der Zwischenkriegszeit distanziert. Dieses sei von einem idealisierten Deutschlandbild, von der sentimentalen Vorstellung einer Annäherung auf der Ebene von Geist und Kultur ausgegangen, die letztlich gescheitert sei. Nun gelte es aber, sich von diesen überlieferten Bildern zu lösen und auf der Grundlage der wechselseitigen Kenntnis beider Länder einen Neubeginn anzustreben, der in dem gemeinsamen, praxisorientierten Handeln der jungen Generation begründet sei. Anstelle historisierenden Redens übereinander plädiert Mounier für das Reden miteinander, statt großer Worte für die unmittelbare Begegnung. 25 Hier wird eine neue Verständigungsprogrammatik postuliert, die zumindest schon in Ansätzen in Grossers Artikelserie über die Jugend in Deutschland erkennbar war. Erstmals wird hier in den deutsch-französischen Beziehungen auf eine Verständigung „von unten“ gesetzt, auf eine breitenwirksame und sozialisatorisch langfristig wirksame Begegnungspraxis, die eben nicht nur die intellektuellen und bürgerlichen Eliten beider Länder miteinander ins Gespräch brachte, sondern möglichst breite Gesellschaftskreise mit dem Schwerpunkt auf der jungen Generation. 67 Dossier Die Aktivitäten des Komitees decken - entsprechend der gerade skizzierten Programmatik - ein erstaunlich breites Spektrum transnationaler Kommunikation ab, über das in der hauseigenen Zeitschrift Allemagne regelmäßig berichtet wurde. Wenn man einzelne Ausgaben dieses Bulletins zur Hand nimmt, das unter der Federführung Grossers von 1949 bis 1967 in 100 Ausgaben erschien, dann lesen sich diese wie Momentaufnahmen eines vor Tatendrang geradezu berstenden Austauschmilieus: Das Comité veranstaltete Kinoabende, es wurden Treffen von studentischen Arbeitsgruppen ankündigt, Reisestipendien angeboten, Au Pair-Plätze und Praktikanten-Stellen vermittelt. Neben dieser Arbeit als deutsch-französische Kontakt-, Informations- und Vermittlungsbörse (die in einem hohen Maß von Alfred Grossers Mutter Lily erledigt wurde und für die das Deutsch-französische Institut in Ludwigsburg als Ansprechpartner in Deutschland diente) 26 erlangte das Komitee vor allem durch seine Vortragsreihen an der Sorbonne Berühmtheit. Ab Mai 1949 lud Alfred Grosser regelmäßig Referenten aus Deutschland nach Frankreich ein, die über das Deutschland der Gegenwart sprachen. Der erste Referent war, und dies erstaunt nicht, Eugen Kogon, dem Mounier und Grosser 1948 auf einem deutsch-französischen Schriftstellertreffen begegnet waren und zu dem sie rasch freundschaftliche Beziehungen entwickelt hatten. In der Tat lässt sich bei vielen der eingeladenen deutschen Intellektuellen eine Affinität zum linkskatholischen Milieu nachweisen, insbesondere zu dessen Vertretern um Eugen Kogon, Walter Dirks und die Frankfurter Hefte. Diese Ausrichtung war jedoch keineswegs exklusiver Natur - wie ja auch die Mitgliederzusammensetzung des Komitees zeigt - und nach dem Tod Mouniers 1950 knüpfte Grosser Kontakte, die weit über dieses Milieu hinausgingen und in denen die jeweilige Fachkompetenz für ein Thema die entscheidende Rolle spielte. Eine originelle Neuausrichtung erfuhren diese Vorträge in den 1950er Jahren, als deutsche und französische Experten gemeinsam öffentliche Podiumsdiskussionen abhielten zu Themen wie „Die Frau im öffentlichen Leben“ oder „Probleme der Jugend in Deutschland und in Frankreich“ oder „Gehälter und Lebensstandard in Deutschland und Frankreich“. Mit diesen sehr gut besuchten Diskussionsabenden schuf Grosser einen vorpolitischen, transnationalen Raum, in dem verschiedene politisch-gesellschaftliche Deutungsentwürfe artikuliert und gehört wurden. 27 Dies war bereits in ähnlicher Form in der Zwischenkriegszeit geschehen, z.B. innerhalb des Mayrisch-Komitees oder auf den Dekaden von Pontigny, aber eben nur auf der Ebene der intellektuellen und wirtschaftsbürgerlichen Eliten, die sich weitestgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit trafen. 1967 löste sich das Comité schließlich auf, da es mit der Schaffung des Deutsch-französischen Jugendwerks seine Mission erfüllt sah. Angesichts der zahlreichen Kontakte, die das Comité zwischen deutschen und französischen Jugendorganisationen geknüpft hatte, gilt es zu Recht als einer der wichtigsten Wegbereiter dieser Institution. 28 68 Dossier 3. Mittler, Publizist und Wissenschaftler - Überlegungen zur Verortung von Grossers deutsch-französischem Verständigungsengagement Die Deutungsmacht, die Alfred Grosser bis heute für die Analyse der deutsch-französischen Beziehungen zugeschrieben wird, speist sich aus mehreren Quellen: Zum einem guten Teil beruht sie auf seinen unbestrittenen Verdiensten als Initiator und Organisator für die Wiederaufnahme des zivilgesellschaftlichen Dialogs zwischen Deutschland und Frankreich, also seinem praktischen Mittlerengagement sur terrain. Zu einem weiteren Teil fußt sie auf seiner akademischen Karriere: Von 1956 bis 1992 hatte Grosser als Deutschlandspezialist eine politikwissenschaftliche Professur am Institut d’Etudes Politiques in Paris inne, wo er durch seine Lehrtätigkeit großen Einfluss auf die Studierenden ausübte. In einem weitaus höheren Maß liegt seine herausgehobene Stellung jedoch begründet in seinem Wirken als streitbarer Publizist. 29 Seit über 60 Jahren begleitet er als Chronist nicht nur kritisch die deutsch-französischen Beziehungen, sondern auch die deutsche und französische Innenpolitik und hat eine beeindruckende Zahl von Buchpublikationen vorgelegt sowie Hunderte von Artikeln für verschiedene Printmedien verfasst, u.a. von 1965-1994 für Le Monde. Grosser hat nie ein Hehl daraus gemacht, dass ihm die journalistische Arbeit für sein Projekt der besseren wechselseitigen Kenntnis wesentlich zielgerichteter und sinnvoller erschien als die wissenschaftliche Forschertätigkeit, deren Ergebnisse und gesellschaftspolitische Relevanz einem breiten Publikum kaum vermittelbar seien. Obgleich ihm sein mediales Engagement gelegentlich den Vorwurf mangelnder wissenschaftlicher Seriosität einbrachte, sieht er selbst keinen Widerspruch zwischen seiner journalistischen und akademischen Tätigkeit, nicht zuletzt deshalb, weil die vergleichende Medienanalyse zu seinem bevorzugten Arbeitsfeld am IEP gehörte. 30 Presse, Funk und Fernsehen sind für Alfred Grosser eine Tribune, auf der er sich zugleich als Akteur und Beobachter bewegt, sie dienen ihm „als Informationsmittel, als Objekt der Beobachtung, als Mittel der Einwirkung und auch als Zielscheibe der Kritik“. 31 Grossers kritische Interventionen in den Medien sind also legitimiert durch seine Position als Wissenschaftler - andererseits lehnt er bewusst einige Regeln und Zwänge wissenschaftlichen Arbeitens ab. 32 Sie sind weiterhin legitimiert durch sein Engagement als Verständigungsprotagonist - für das sich Grosser aber nie in institutionelle oder parteipolitische Strukturen einbinden lassen wollte. 33 Die journalistische Arbeit ist für ihn das verständigungspolitische Tätigkeitsfeld par excellence, ein Schalthebel zur Einwirkung auf die Öffentlichkeit, dessen er sich bedienen konnte, ohne Konzessionen an akademische Gepflogenheiten oder institutionelle Befindlichkeiten machen zu müssen. Wenn man die drei Facetten seines deutsch-französischen Engagements betrachtet, dann ist die universitär-akademische Befassung mit Deutschland zweifelsohne die am schwächsten ausgeprägte Komponente in dem Trias. 34 Dies sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass Grossers akademische Sozialisation in der Germanistik einen nachhaltigen Einfluss auf die Wahl seiner methodi- 69 Dossier schen Vorgehensweise ausübte. Als er sich 1947 an der Sorbonne auf seine agrégation vorbereitete, befand sich die Disziplin in einer tiefgreifenden Krise: Das Forschungsobjekt schien diskreditiert und längst nicht alle Fachvertreter hatten sich entschlossen dem Nationalsozialismus entgegengestellt. Die Versuche einiger Germanisten, die Wurzeln des „Dritte Reichs“ in der deutschen Geistesgeschichte zu verorten, boten weder forschungsstrategisch noch verständigungspolitisch Ansatzpunkte für eine konstruktive Einlassung auf das Nachbarland. Die Germanistik zog sich auf das vermeintlich sichere Terrain der Sprach- und Literaturwissenschaft zurück, das literarische und politische Deutschland der Gegenwart blieb ein Thema, das man weitestgehend ausblendete. Es verwundert kaum, dass der junge Grosser sich mit dieser Ausrichtung des Faches nicht anfreunden konnte und er in der Germanistik keine wissenschaftliche Heimat fand. Am augenscheinlichsten wird dies in der Auseinandersetzung mit Edmond Vermeil, dem Betreuer seiner thèse d’Etat. Dieser hatte ihm vorgeschlagen, eine Arbeit über Philipp Jakob Spener und die Wurzeln des deutschen Protestantismus zu schreiben, ein Thema, für das sich Grosser nur zögerlich erwärmen konnte, so dass die Arbeit letztlich nie zustande kam. Grossers Interesse galt ganz dem Deutschland der Gegenwart und ein besseres Verständnis des Nachbarn erschloss sich für ihn eben nicht aus der rückwärtsgewandten Analyse von exponierten Vertretern der deutschen Religions- und Geistesgeschichte, sondern durch die direkte Begegnungsarbeit mit den Repräsentanten des neuen Deutschland, mit denen er durch seine Arbeit im Comité bestens vertraut war. Vorsichtig formuliert Grosser diese Kritik bereits in seinem Aufsatz „L’Allemagne d’Après-guerre. Recherche d’une méthode d’étude“ aus dem Jahr 1952, 35 noch deutlicher wird er in seinen Memoiren, in denen er sich gegen historisch-kausallogische Erklärungen des Nationalsozialismus ausspricht und eine stärker relativierend-vergleichende Herangehensweise fordert. 36 In der Tat bildet der deutsch-französische Vergleich (verbunden mit der Lust an der Provokation und Einmischung) das Kernstück seines methodischen Baukastens. 37 Grossers Abwendung von der Germanistik und Hinwendung zur Politikwissenschaft, in der er im Institut d’Etudes Politiques eine langjährige institutionelle Einbindung fand, bedeutet gleichwohl nicht, dass er komplett mit der Tradition der germanistischen Deutschlandbefassung brach. Wie die Germanisten der Zwischenkriegszeit definiert Alfred Grosser seine Rolle als Deutschlandexperte in einem umfassend-interdisziplinären Sinn, und ähnlich wie ältere Fachvertreter verbindet er die akademische Auseinandersetzung mit Deutschland mit einem verständigungspolitischen Auftrag, den er auch in der Gesellschaft und Öffentlichkeit wahrnimmt. Wenn man nach den Antriebsmotiven und Prägungen für Grossers Wirken als Mittler, Wissenschaftler und Publizist sucht, lassen sich mindestens drei Referenzrahmen erkennen. Erstens ist dies seine gerade erwähnte ambivalente Haltung gegenüber der traditionellen Deutschlandforschung, von der er sich einerseits klar distanziert, die aber andererseits nachhaltig seine forschungsstrategischen Prämissen und die Wahl seiner Methoden beeinflusst. Zweitens waren für sein zivilge- 70 Dossier sellschaftliches Engagement die positiven Erlebnisse entscheidend, die er am Anfang seiner Mittlertätigkeit in Deutschland und Frankreich sammelte. Im Umfeld des linkskatholischen Verständigungsmilieus lernte er die Umsetzbarkeit und den Erfolg einer neuen Begegnungsprogrammatik kennen, deren Konzeption bis heute grundlegend für den transnationalen Dialog ist. Drittens ist für Alfred Grosser seine eigene Biographie ein wesentlicher, wenn nicht gar der maßgebliche Bezugspunkt schlechthin, um seine Rolle als Mittler und kritischer Zeitzeuge zu begründen. Dies zeigt sich u.a. in seiner rigorosen Ablehnung eindimensionaler Identitätszuschreibungen und in der moralisch-ethischen Begründung seines Verständigungsengagements. Zwar verweist er in diesem Zusammenhang häufig auf den von ihm hochgeschätzten Philosophen Emmanuel Levinas, 38 aber dieser Rekurs bleibt insgesamt kursorisch und wird stets ergänzt durch den Hinweis auf seinen eigenen Lebensweg. In seinen Memoiren versieht Alfred Grosser nicht ohne Grund die „Selbstbefragung im Rückblick“ mit dem Untertitel „die Mutter“, da er seine vorurteilsfreie Grundeinstellung und seine Bereitschaft zur Übernahme zwischenmenschlicher Verantwortung im wesentlichen als das Resultat der mütterlichen Erziehung ansieht. 39 Wenn bisweilen der Ruf erklingt, dass Mittlerfiguren vom Format eines Alfred Grosser in den gegenwärtigen deutsch-französischen Beziehungen fehlen, dann lässt sich dies einerseits als eine erneute Bestätigung der singulären Stellung dieser Persönlichkeit interpretieren. Andererseits darf nicht übersehen werden, dass individuelle Akteure und ihre Netzwerke vor allem in jenen Zeiten eine herausragende Rolle spielten, in denen sich die offiziellen Beziehungen zwischen Frankreich und Deutschland auf einem Tiefpunkt befanden, wie etwa nach den beiden Weltkriegen. Angesichts der äußerst widrigen Rahmenbedingungen für die Wiederaufnahme des transnationalen Dialogs sind die historischen Verdienste einzelner Verständigungspioniere und -organisationen in den Nachkriegsphasen gar nicht hoch genug einzuschätzen. In Zeiten anhaltender bilateraler Kooperation hingegen, die im deutsch-französischen Fall bereits eine ganze Landschaft institutionalisierter Austauschagenturen hervorgebracht hat, sind solche Mittlerkarrieren kaum noch denkbar, da Verständigungsaktivitäten immer auch in die bereits existierenden Strukturen transnationaler Kommunikation eingebunden sind. Diese notwendige Verquickung von individuellem und institutionellem Engagement mag auf den ersten Blick weniger spektakuläre Einzelleistungen oder Lebenswege zeitigen, aber sie sorgt für Stabilität und Kontinuität in den gesellschaftlichen Austauschprozessen zwischen beiden Ländern (die im Sinne einer dauerhaften und nachhaltig wirksamen bilateralen Annäherung ja überaus erwünscht ist). Alfred Grosser hat dies im übrigen klar erkannt und begrüßt, als er die Auflösung des Comité mit der Schaffung des Deutsch-französischen Jugendwerkes begründete. 1 Alfred Grosser hat in den letzten 20 Jahren drei Erinnerungen vorgelegt, in denen er Auskunft über Begründung und Wirkung seines Engagements gibt: Mein Deutschland, Ham- 71 Dossier burg, Hoffmann und Campe, 1993; Une vie de Français, Paris, Flammarion, 1997; La joie et la mort. Bilan d’une vie, Paris, Ed. de la Renaissance, 2011 (dt.: Die Freude und der Tod. Eine Lebensbilanz, Hamburg, Rowohlt, 2011). 2 Alle nachfolgenden biographischen Angaben stammen (falls nicht anders angegeben) aus Grossers Memoiren Une vie de Français, op. cit. und Mein Deutschland, op. cit. 3 Cf. zu seinem Vater, Paul Grosser, den Eintrag in Eduard Seidler: Jüdische Kinderärzte 1933-1945. Entrechtet - geflohen - ermordet, erw. Neuauflage, Basel, Karger, 2007, 258sq. 4 Cf. zu seiner Mutter Lily Grosser, geb. Rosenthal, den Nachruf von Paul Frank: „Die höchste Form der Hoffnung. Verfolgt, gejagt, aber unbeirrbar im Glauben an die Aussöhnung“, Die Zeit, 25.10.1968. 5 Cf. Grosser: Mein Deutschland, op. cit., 30. 6 Alfred Grosser hatte ursprünglich Mathematik/ Physik studieren wollen, wurde aber aufgrund eines Numerus clausus für Juden abgelehnt. Das Germanistikstudium (das er offensichtlich mit wenig Elan betrieb) war folglich nur die zweite Wahl und für ihn der einfachste Weg, rasch in das Berufsleben einzusteigen. Cf. ibidem, 38sq., 44sq. 7 Cf. ibidem, 55. 8 Cf. den Wiederabdruck der Artikelserie über „Die Jugend Deutschlands“ in Alfred Grosser: Mit Deutschen streiten. Aufforderungen zur Wachsamkeit, München, Hanser, 1987, 11-25. 9 Cf. für einen Überblick über diese frühen Verständigungsagenturen Hans Manfred Bock: „Das Deutsch-Französische Institut in der Geschichte des zivilgesellschaftlichen Austauschs zwischen Deutschland und Frankreich“, in: id. (ed.): Projekt deutsch-französische Verständigung. Die Rolle der Zivilgesellschaft am Beispiel des Deutsch-Französischen Instituts in Ludwigsburg, Opladen, Leske und Budrich, 1998, 13-120, hier 59-74. 10 Cf. zu den kulturpolitischen Initiativen Corine Defrance: La politique culturelle de la France sur la rive gauche du Rhin, 1945-1955, Strasbourg, Presses Universitaires de Strasbourg, 1994; Stefan Zauner: Erziehung und Kulturmission. Frankreichs Bildungspolitik in Deutschland 1945-1949, München, Oldenbourg, 1994. 11 Cf. Raïssa Mézières: „Documents, une revue pour le dialogue franco-allemand“, in: La revue des revues (1999), No. 26, 65-84; Michel Guervel: „Le BILD de Jean du Rivau à Joseph Rovan“, in: Henri Ménudier (ed.): Le couple franco-allemand en Europe, Asnières, Publications de l’Institut d’Allemand d’Asnières, 1993, 299-306; Joseph Rovan, Erinnerungen eines Franzosen, der einmal Deutscher war, München, Hanser, 2000, 253-281. 12 Eine einschlägige monographische Arbeit zum Komitee steht noch aus. Cf. aber Carla Albrecht: Das „Comité français d’échanges avec l’Allemagne nouvelle“ und seine Zeitschrift „Allemagne“ in den deutsch-französischen Intellektuellenbeziehungen von 1948- 1967, Magisterarbeit, Universität Kassel, Juli 2001 sowie id.: „Das Comité français d’échanges avec l’Allemagne nouvelle als Wegbereiter des Deutsch-Französischen Jugendwerks“, in: Lendemains 27 (2002), No. 107/ 108, 177-189; Hans Manfred Bock: „Das Deutsch-Französische Institut in der Geschichte des zivilgesellschaftlichen Austauschs zwischen Deutschland und Frankreich“, loc. cit., 63-70; Martin Strickmann: „L’Allemagne nouvelle contre l’Allemagne éternelle“. Die französischen Intellektuellen und die deutschfranzösische Verständigung 1944-1950, Frankfurt, Lang, 2004, 227-242. Cf. für die Zeitzeugenperspektive Grosser: Mein Deutschland, op. cit., 66-71, 119-124; id.: Une vie de Français, op. cit., 52-58. 13 Cf. Christiane Falbisaner: „Emmanuel Mounier et l’Allemagne“, in: Revue d’Allemagne 21 (1989), 257-279; Strickmann, L’Allemagne nouvelle, op. cit., 202-220. 14 Cf. „Les Allemands parlent de l’Allemagne“, Esprit (Juni 1947), No. 6. 72 Dossier 15 Zum Gründungspräsidium gehörten Emmanuel Mounier, der Germanist Edmond Vermeil, der Journalist Rémy Roure, der Résistance-Kämpfer und Publizist David Rousset sowie der Schriftsteller Vercors alias Jean Bruller. 16 Cf. Albrecht: Comité, op. cit., 32-35. 17 Cf. Jean-Louis Loubet del Bayle: Les non-conformistes des années 30. Une tentative de renouvellement de la pensée politique française, 2. aktual. Auflage, Paris, Seuil, 2001. 18 Cf. Michel Winock: „Les générations intellectuelles“, in: Vingtième Siècle. Revue d’histoire (1989), No. 22, 17-38, ici 26-29. 19 Cf. Hans Manfred Bock: „Raymond Aron und Deutschland. Aspekte einer intellektuellen Generationsanalyse“, in: Lendemains 36 (2011), No. 141, 43-58. 20 Cf. Dominique Bosquelle: „Das französische Akademikerhaus (‘Maison académique française’) in Berlin“, in: Hans Manfred Bock (ed.): Französische Kultur im Berlin der Weimarer Republik. Kultureller Austausch und diplomatische Beziehungen, Tübingen, Narr, 2005, 141-153, hier 148sq. 21 Cf. Anne Kwaschik: Auf der Suche nach der deutschen Mentalität. Der Kulturhistoriker und Essayist Robert Minder, Göttingen, Wallstein, 2008, 39-44. 22 Cf. Corine Defrance: Sentinelle ou pont sur le Rhin? Le Centre d’Etudes Germaniques, Paris, CNRS, 2008, 119-126. 23 Cf. Albrecht: Comité, op. cit., 35, 38. 24 Cf. Alfred Grosser: Mein Deutschland, op. cit., 69. 25 Cf. Emmanuel Mounier: „Présentation“, in: Allemagne. Bulletin du Comité français d’échanges avec l’Allemagne nouvelle (1949), No. 1, 1. 26 Cf. Bock: „Das Deutsch-Französische Institut“, loc. cit., 90, 93; Strickmann: L’Allemagne nouvelle, op. cit., 242-245. 27 Cf. Carla Albrecht: Comité, 30. Cf. ibid., 40-48 für eine Übersicht über die Vorträge. 28 Cf. Carla Albrecht: „Das Comité français d’échanges avec l’Allemagne nouvelle als Wegbereiterdes DFJW“, loc. cit, 186sq. 29 Cf. zu diesen drei Facetten von Grossers Mittlerengagement Corine Defrance: „Alfred Grosser: le practicien des regards croisés franco-allemands“, in: Michel Grunewald et al. (eds.): France-Allemagne au XX e siècle. La production de savoir sur l’Autre, vol. 2: Les spécialistes universitaires de l’Allemagne et de la France, Bern, Lang, 2012 (i.E.). 30 Cf. Alfred Grosser: Mein Deutschland, op. cit., 263sq. 31 Cf. ibid., 263. 32 Cf. Alfred Grosser: Une vie de Français, op. cit., 109. 33 Cf. ibidem, 60 und Alfred Grosser: Mein Deutschland, op. cit., 274. 34 Cf. Corine Defrance, „Le practicien“, loc. cit. 35 Alfred Grosser: „L’Allemagne d’Après-guerre. Recherche d’une méthode d’étude“, in: Revue française de science politique 2 (1952), No. 4, 725-736. 36 Alfred Grosser: Mein Deutschland, 84sq. 37 Cf. zur Bedeutung des Vergleichs ibid. 148-160. Zur Methode Grossers cf. auch Corine Defrance: „Alfred Grosser“, loc. cit. 38 Cf. z.B. Alfred Grosser: Une vie de Français, 209sq.; id.: Deutschland in Europa, Weinheim, Beltz, 1998, 18. 39 Cf. Alfred Grosser: Mein Deutschland, 72-81, hier 77sq. 73 Dossier Résumé: Katja Marmetschke, Alfred Grosser et le Comité français d’échanges avec l’Allemagne nouvelle - l’exemplarité d’un engagement de rapprochement dans les relations franco-allemandes dans l’immédiat après-guerre étudie les débuts d’Alfred Grosser comme médiateur franco-allemand après la guerre. Après avoir rappelé les stations biographiques les plus importantes de sa jeunesse, l’article étudie son rôle au sein du Comité français d’échanges avec l’Allemagne nouvelle où Grosser déploya une activité considérable pour promouvoir un échange sur pied d’égalité entre jeunes Français et Allemands. A cet engagement pratique d’organisateur de rencontres s’ajoutent deux autres formes de médiation, c’està-dire les interventions et publications d’Alfred Grosser dans la presse et son travail d’enseignant à l’Institut d’Etudes Politiques à Paris. Alfred Grosser a toujours souligné que le travail journalistique était son instrument préféré pour faire diffuser ses idées de rapprochement et que sa propre biographie lui sert de point de référence pour justifier son engagement et ses prises de position.