eJournals lendemains 42/168

lendemains
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2941-0843
Narr Verlag Tübingen
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2017
42168

Fritz Nies: Sozialgeschichte – interkulturell: Übersetzen ins Französische

2017
Albrecht Buschmann
ldm421680104
104 Comptes rendus gut in der laizistischen Republik integriert gewesen seien, dass sie kaum auf der politischen Ebene gegen den wachsenden Antisemitismus reagierten. Die beiden Organe teilten auch die transnationale Solidarität mit den verfolgten Juden in Rumänien oder Russland. Nach den Pogromen in Osteuropa wählten immer mehr Juden den Weg der Emigration nach Palästina und die zionistische Idee gewann an Boden, um dann in Herzls Werk Der Judenstaat (1896) zu gipfeln. Eine Minderheit nahm in Frankreich diesen Gedanken auf, etwa Bernard Lazare in seinem Essay Le nationalisme juif (1898). Das war aber nicht eine Mehrheitsmeinung. Auch Philippson hielt dafür, wenn man die Juden als eigene Nation betrachte, gebe man letztlich den Antisemiten recht und mache die ganzen Integrationsanstrengungen zunichte. Die Lösung könne nur im Kampf um die Bürgerrechte und die Gewissensfreiheit bestehen. Die beiden Nachfolger in den beiden Zeitschriften vertraten eine nuancierte Position; sie hatten gewisse Illusionen hinsichtlich der Integrationsmöglichkeit in den beiden Ländern verloren. In der Schlussfolgerung betont die Verfasserin noch einmal die gemeinsame universalistisch-humanistische Position der Vertreter innerhalb einer liberalen bürgerlichen Gesellschaft bei der gleichzeitig intendierten politischen Integration in innerhalb der jeweiligen Nation. Man erfährt allerdings kaum etwas über das Verhältnis zur sozial diskriminierten Gruppe der Arbeiterklasse. Dank ihres Kulturtransfer-Ansatzes vermochte die Verfasserin zahllose gemeinsame Positionen herauszuarbeiten. Begriffe wie ‚parallèles‘, ‚similitudes‘, ‚points de convergence‘, ‚points communs‘, ‚aspirations similaires‘ kehren so immer wieder. Die jüdische Minderheit nahm zweifellos auf der Grundlage der gemeinsamen Aspekte und der permanenten Kontakte während des genannten Zeitraumes eine Mittlerrolle zwischen den beiden Ländern wahr wie kaum eine andere soziale Gruppe. Das Hauptaugenmerk auf die transnationale Dimension ließ vielleicht bestehende Dissense etwas unterschätzen. Die Einschätzung „champions de la même cause“ wurde bezeichnenderweise 1869 - vor dem deutsch-französischen Krieg - formuliert. Es handelt sich hier aber ohne jeden Zweifel um eine sehr gut recherchierte und klar strukturierte Arbeit, die auf einer extensiven Kenntnis der Forschungsliteratur beruht und die dank eines profilierten Ansatzes neue Ergebnisse zeitigt. Joseph Jurt (Basel / Freiburg i. Br.) ------------------ FRITZ NIES: SOZIALGESCHICHTE - INTERKULTURELL: ÜBERSETZEN INS FRANZÖSISCHE, TÜBINGEN, NARR, 2016 (TRANSFER, 23). Wer übersetzt? Die historische Übersetzungsforschung seit den 1950er Jahren geht diese Frage über lange Zeit vor allem individuell an - namhafte Übersetzerpersönlichkeiten von Luther über Voltaire bis Peter Handke werden vorgestellt - oder biobibliographisch, indem aus den vorhandenen Katalogen und Kompendien die Über- 105 Comptes rendus setzer herausgesucht werden. Unberücksichtigt bleibt damit, dass auf dieser (unvollständigen) Grundlage keine Sozialgeschichte des Übersetzens und folglich auch keine über den Einzelfall hinausgehende Rezeptions- und Wissensgeschichte geschrieben werden kann. Aber genau das ist die spannende Forschungsfrage: Welche Berufsgruppen, welche intellektuelle Schule, welche soziale Schicht hat in einer je zu untersuchenden Epoche das Übersetzerhandwerk geprägt, vielleicht sogar dominiert, und wie hat so eine Gruppe damit den kulturellen Import aus dieser oder jener anderen Sprache gesteuert? Über solche Prozesse wissen wir bisher nur etwas, wenn die jeweiligen Übersetzer auch durch andere Aktivitäten Rang und Namen erlangt haben, wie etwa die deutschen Romantiker Schlegel, Tieck & Co., die Miguel de Cervantes und William Shakespeare im Zuge eines gemeinsamen idealistischen Projekts einbürgerten. Bleiben die Übersetzer hingegen unbekannt, kann die Forschung ihre Übersetzungen nicht einordnen, ungeachtet der Tatsache, dass die vielleicht dennoch kulturgeschichtlich relevant waren. Also hat sich Fritz Nies aufgemacht und begonnen, am Beispiel der Übersetzungen ins Französische eigene Ansätze einer Sozialgeschichte der vom Übersetzen getragenen Interkulturalität zu entwickeln und in Analysen übersetzender Berufsgruppen durchzuspielen. Nies, der in den 1980er Jahren wesentlichen Anteil daran hatte, dass an der Universität Düsseldorf ein Studiengang für Literarisches Übersetzen eingerichtet wurde (der in diesem Jahr 2018 seinen 30. Geburtstag feiert), ist komparatistisch ausgerichteter Romanist, der seine Fragestellung in der Nachfolge der Rezeptions- und Leserforschung der 1980er Jahre entwickelt; aber statt mit nationalphilologisch verengtem Blick schaut er mit interkulturell weit gestelltem Fokus auf die textuellen Transferprozesse, die vom Mittelalter bis zum beginnenden 19. Jahrhundert die französische Kultur mit bestimmt haben. Seine Methode ist die Kombination quantitativer Auswertung vorhandener Nachschlagewerke zur Geschichte des Übersetzens mit mentalitätsgeschichtlicher Hypothesenbildung auf Grundlage seines philologischen Überblickswissens: Vor allem aus Alexandre Cioranescus Bibliographie de la littérature française sowie weiteren jeweils genannten bio- und bibliographischen Nachschlagewerken zieht er die Informationen zu übersetzenden Adeligen, Militärs, Juristen, Sekretären, Journalisten, Enzyklopädisten, Revolutionären, Hauslehrern, Druckern und Buchhändlern, Frauen sowie Immigranten und Emigranten, denen er seine 10 Analysekapitel widmet (8 von ihnen basieren auf Aufsätzen, die seit 2004 v. a. in Sammelbänden erschienen sind). Die Liste der sozialen Gruppen macht deutlich: Es geht hier nicht um vorab entworfene strenge Systematik, sondern um eine Sortierung dessen, was sich auf Grundlage der Informationen in den Nachschlagewerken sozialgeschichtlich ableiten lässt, ohne dabei Überlappungen - revolutionäre Adelige, emigrierte Enzyklopädisten usf. - zu vergessen. Statistisch erfasst wird jeweils, wie viel die besagte Gruppe übersetzt hat, wann sie vor allem auf dem Markt präsent war, wieviel pro Kopf im Schnitt übersetzt wurde; wer die rein zahlenmäßig herausragenden Übersetzer waren, mit wem sie (wenn bekannt) in Kontakt standen, aus welchen Sprachen und Sachgebieten in welcher 106 Comptes rendus Menge und Relation übersetzt wurde, wie schnell die Übersetzungen auf die Veröffentlichung des Originals folgten usf. Dank der höheren Dichte der Ausgangsdaten liegt der Schwerpunkt der verwertbaren Informationen auf dem 17. und 18. Jahrhundert. Durchgehend verschränkt mit diesen Informationen bietet Nies eine knappe kulturgeschichtliche Kontextualisierung sowie Thesen zum Verständnis der rein textuell aufbereiteten quantitativen Analyse. Schauen wir exemplarisch auf Kapitel 3 über „Martialische Mittler“ (19-25). Gut 50 übersetzende Soldaten, meist Offiziere, zu etwa zwei Dritteln adeliger Herkunft, lassen sich nachweisen, die ca. 500 Werke übersetzt haben, pro Kopf im Durchschnitt 3 Werke, mit deutlichem Schwerpunkt auf der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts, wo ein Marc-Antoine Eidous mit 43 übersetzten Titeln der fleißigste seiner Zunft ist. Selten wird im Feld oder im Ausland übersetzt, meist nach Beendigung der militärischen Laufbahn, dabei häufig zügig: „Fünf Dutzend Übertragungen erschienen noch im selben Jahr wie das Original oder im Verlauf des Folgejahres“ (20), oft mit Vor- oder Nachworten, in denen gern der freie Umgang mit dem englischen (30%), antiken (29%) oder deutschen (22%) Ausgangstext begründet wird. Übertragen wird bevorzugt Lyrik, Epik sowie Romane und vielerlei Sachbücher - was kein Zeichen amateurhafter Wahllosigkeit sei, vielmehr trete beim Blick auf die Herkunft der Originalautoren eine „berufsständische Verwandschaft“ (21) zutage, da viele selbst aktive Militärs gewesen seien. Die Analyse der übersetzten Titel stellt das mögliche berufliche Interesse für Fachliteratur heraus (Kriegskunst, Rhetorik), zu der dann im weitesten Sinne auch die Heldenepik gezählt werden könnte (allein im 18. Jahrhundert setzen sich gleich fünf Herren an die Ilias), aber auch die eskapistisch zu deutende Vorliebe für das Genre Ritterroman. - Geschrieben ist das Buch in einem angenehm narrativen Duktus frei von jeder Art akademischen Jargons. Vom „AT“, „ZT“ oder „Translat“ ist nirgends Rede, vielmehr scheint sich Nies vorgenommen zu haben, in jedem Kapitel eine andere pointierte Paraphrase für „Übersetzer“ und „Übersetzung“ zu liefern, jene für Soldaten „wenig ruhmvoll wirkende Fronarbeit schreibender Stubenhocker“ (18). Unangenehm stechen zwischendurch herablassende Epitheta heraus (ein Autor wird tituliert als „obskurer Grieche“, 23) und Gratis-Polemik im Vorübergehen („Lässt dieses Kapitel eine jener zahlreichen Gender Studies erwarten, deren Gesamtergebnis von vornherein absehbar scheint? “, 77). Begriffliche Präzision und nüchterne Sachlichkeit ist nicht des Autors Stilideal. Nach gutem Brauch nimmt Nies abschließend für sich nicht mehr in Anspruch als mit seinen Untersuchungsergebnissen „einen Beitrag zum Erkunden von Voraussetzungen“ (104) geliefert zu haben. Innerhalb seiner eigenen Logik muss man nun aber fragen, warum er seiner Datenauswertung nicht auch die ihnen zugrundeliegenden Listen, Tabellen und Graphiken beigegeben hat? Wie anregend das ist, hat Franco Moretti in seinem Atlante del romanzo europeo. 1800-1900 (1997) vorgeführt und in seinem grundlegenden Buch Graphs, Maps, Trees. Abstract Models für Literary History (2005) methodologisch erläutert, warum solche Art Visualisierung das geisteswissenschaftliche Geschäft voranbringt. So hingegen lässt sich an die Daten, die Nies in mühevoller Kleinarbeit zusammengetragen und aufgeschlüsselt 107 Comptes rendus hat, schlicht nicht anknüpfen (allein ein Index aller erwähnten Übersetzer hilft ein wenig weiter). Wer den Staffelstab von ihm aufnehmen möchte, müsste die gesamte Datenerhebung noch einmal erledigen. Außerhalb der von Nies gewählten Logik liegt die andere, viel grundsätzlichere Frage: Ist es im heutigen Kontext von Big Data und Digital Humanities erkenntnistheoretisch sinnvoll, den übersetzerischen Kulturtransfer in Handarbeit aus gedruckten Kompendien der 1960er bis 1980er Jahre abzuleiten? Sollte die kulturwissenschaftliche Übersetzungsforschung sich nicht vielmehr die Techniken der computergestützten Auswertung digitalisierter Datenbanken und Textsammlungen zu Nutze machen? Nies sagt dazu nichts, schaut stattdessen mit Schaudern zurück auf die weitgehend hermeneutikfreie Datenverliebtheit der empirischen Leserforschung des ausgehenden 20. Jahrhunderts und dekretiert, solche „quantifizierende Sozial- und Mentalitätsgeschichte [sei] bei Kulturwissenschaftlern weithin ins gedankliche Abseits geraten“ (2). Will man aber an Nies’ fundamentaler Fragestellung nach dem sozialen Ort der Übersetzer mit den heutigen Werkzeugen arbeiten, ist eine der großen Hürden hierbei - wie auch schon für ihn - die geringe kulturelle Sichtbarkeit der Akteure bis weit ins 20. Jahrhundert, die sich in deren Unsichtbarkeit in allen Arten kultureller Archive niederschlägt, weshalb ihre Präsenz aus den Daten nur durch komplexe Algorithmen herauszufiltern ist. Dafür braucht es - wenn man nicht, wie Franco Moretti, bereits auf ein Stanford Literary Lab zurückgreifen kann - die Kooperation der Übersetzungsforschung mit Informatikern. Und dazu einen so langen Atem, dass man am Ende die gewonnenen Informationen mit einem ähnlich profunden Hintergrundwissen abgleichen kann, wie es Fritz Nies auf jeder Seite seines Buchs zur Verfügung steht. Albrecht Buschmann (Rostock) ------------------ JEAN-MARC QUARANTA: HOUELLEBECQ AUX FOURNEAUX, ESSAI LITTÉ- RAIRE / LIVRE DE CUISINE, PARIS, PLEIN JOUR, 2016, 336 P. Von dem Pariser Verlag Plein jour, der sich auf die „littérature du réel sous toutes ses formes“ spezialisiert hat, wird Jean-Marc Quarantas Buch Houellebecq aux fourneaux als erstes Exemplar eines neuen Genres angepriesen. Tatsächlich tritt hier an die Stelle der mittlerweile bekannten Kombination von Roman und Kochbuch eine Verbindung von „essai littéraire“ und Kochrezept-Sammlung. Konkret sieht das so aus: Das Buch gliedert sich in sechs Kapitel, die jeweils einem von Houellebecqs Romanen gewidmet sind. In einem ersten Teil jedes Kapitels wird die Nahrungsmotivik und -metaphorik des Romans analysiert, in einem zweiten finden sich (kommentierte) Rezepte zu den im Roman evozierten Gerichten. Schon in seinem Vorwort drückt Quaranta unmissverständlich aus, welche Funktion er der Nahrungsmittelmotivik und -metaphorik im Houellebecq’schen Werk zuschreibt. In dieser ganz durch das Ätzmittel einer soziologischen Perspektive