eJournals lendemains 42/168

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Narr Verlag Tübingen
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2017
42168

Geschichtstrauma und Geschichtsschreibung: Édouard Glissants karibische Familiensaga

2017
Natascha Ueckmann
ldm421680023
23 Dossier Natascha Ueckmann Geschichtstrauma und Geschichtsschreibung: Édouard Glissants karibische Familiensaga Sich einschreiben in eine littérature-monde Der Martinikaner Edouard Glissant ist einer der wichtigsten zeitgenössischen Autoren französischer Sprache und prägte als Romancier, Essayist, Lyriker, Dramatiker und Journalist die aktuelle Literaturlandschaft so nachhaltig wie vor ihm sicher nur Aimé Césaire. Bereits in seinem Essayband Le Discours antillais (1981) betont Glissant die Zugehörigkeit der Karibik zum amerikanischen Raum. Er lässt mit diesem Band den Diskurs der Négritude mit seiner Fokussierung auf Afrika und einer weltumspannenden Gemeinschaft der Menschen afrikanischer Herkunft hinter sich. 1 Glissant insistiert auf der Besonderheit der antillanischen Situation. Sein Werk versteht sich zunächst als Illustration eines Discours antillais, der das Postulat einer politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Einheit und Unabhängigkeit des karibischen Raumes beinhaltet. Die Anpassung an französische Normen oder die ‚Ausflucht‘ durch die mentale Reise ins Land der Vorfahren verhindere, dass sich die Antillaner an ihrem realen Ort situieren. Die mangelnde Auseinandersetzung mit dem eigenen Lebensraum und der eigenen Geschichte verleite sie dazu, sich weiter in neokoloniale Abhängigkeiten zu verstricken. Bereits auf der Ebene von Glissants Biographie wird das Ineinandergreifen von Zentrum und Peripherie sichtbar. So betonte er explizit seine Zugehörigkeit zum karibischen Raum und agierte zugleich als Intellektueller in den wirtschaftlich dominierenden Regionen (Europa/ USA ). Auch in intertextueller Hinsicht verortet sich Glissants Werk zwischen antillanischer, amerikanischer und französischer Literatur und Theorieproduktion. Saint-John Perse und William Faulkner bspw. werden von ihm als diejenigen genannt, die seine Poetik maßgeblich geprägt haben: „deux auteurs de Plantation, deux hommes à la limite d’une caste, […] deux békés en fait, mais si marginaux parmi leurs semblables“ (Glissant 1996b: 11). Schaut man sich seine letzten Romane an, gewinnt man den Eindruck, Glissant praktiziert zunehmend eine überhitzte Intertextualität. Allein in Sartorius (1999) springt er von Joël Des Rosiers, Alexandre Pouchkine, Alexandre Dumas père, Aimé Césaire, Abdourahman Waberi, Arthur Rimbaud, Marguerite Yourcenar, Cheikh Anta Diop zu Leonardo Da Vinci oder Albrecht Dürer u. v. a. und sprengt so konventionelle Diskurse in alle Richtungen auf. Für Glissant besteht das höchste Projekt der Literatur in ihrer Anhäufung spezifischer „lieux communs“ und deren Verknüpfung zu einer „pensée-monde“ (Glissant 1996b: 11). Glissants Werk entziehe sich, so Ralph Ludwig, dem Versuch einer bündigen Zusammenfassung, denn seine poetischen Leitbegriffe der Opazität und Akkumulation prägen maßgeblich seine Schreibweise (cf. Ludwig 2008: 115). Jede Form generischer Aufteilung innerhalb seines Werks ist eine provisorische, was seinen Texten nicht selten den Vorwurf 24 Dossier einbringt, schwer zugänglich zu sein. So endet der Roman Mahagony (1987) mit einem Kapitel, welches den Titel „Le Tout-monde“ trägt. Den späteren Roman Toutmonde (1993) schreibt Glissant in dem Traité du Tout-monde (1997) fort, während der Roman schon Textteile der Traktatesammlung vorwegnimmt und das Traktat Passagen umfasst, die mit Titeln seiner früheren Romane versehen sind. Glissant entwirft ein kartographisches, hochgradig hybridisiertes, sprunghaftes, tendenziell unabschließbares Textgewebe. Sein Werk lässt sich mit den einflussreichen poststrukturalistischen Modellen der Rhizomatik und Nomadologie parallelisieren. Glissants offenes, polyzentrisches Œuvre bietet augenzwinkernd eine postkolonialästhetische Übersetzung von Mille Plateaux an: C’est là un choix poétique de Deleuze et de Guattari, et peut-être qu’en ce qui me concerne je m’arrêterais à penser Mille Jungles ou Mille Cyclones, mais le fondement est le même: là où les géographies des idées, des désirs, des créativités, échappent au Territoire, aux systèmes continentaux, et entrent dans les Archipels (Glissant 2005: 137). Es ist kein Zufall, dass Glissant die Mille Plateaux durch Mille Jungles / Mille Cyclones ersetzt und in direkte Verbindung zur Plantage bringt; er ‚erdet‘ und lokalisiert poststrukturalistisches Denken. Philosophische Konzepte wie Nomadologie, littérature mineure oder Deterritorialisierung führt Glissant auf einen konkreten lokalen, geschichtlichen Hintergrund zurück, denn „nomadologie [...] has a history in colonialism“ (Miller 2003: 133). Gleichwohl ist festzustellen, dass seine Romane noch immer weit weniger Beachtung finden als seine Essays. Lothar Baier hält fest: „Glissant genießt im französischen Sprachbereich und darüber hinaus eine merkwürdige Form von respektvoller, mit großzügiger Missachtung seines literarischen Werks untermischter Anerkennung“ (Baier 2000: 1). Daher steht im Zentrum dieses Beitrags sein erzählerisches Werk, welches acht Romane umfasst und sich über einen Erscheinungszeitraum von fünf Jahrzehnten erstreckt. Sein Werk lese ich als eine postkoloniale Chronik der karibischen Gesellschaft. Steht in den früheren Romanen La Lézarde (1958), Le Quatrième siècle (1964), Malemort (1975), La Case du commandeur (1981) und Mahagony (1987) die antillanische Geschichte im Mittelpunkt, gehen die späteren Romane wie Tout-monde (1993), Sartorius. Le roman des Batoutos (1999) und Ormerod (2003) weit über den antillanischen Raum hinaus. Glissant verfolgt ein doppeltes Ziel, einerseits will er mit seinem Plädoyer für die Antillanité eine strategische, positive Ethnizität im Sinne Spivaks begründen (cf. Castro Varela / Dhawan 2015: 308) und andererseits beabsichtigt er, spätestens seit seiner Poétique de la Relation, die Antillen kulturell anschlussfähig zu machen an eine globalisierte Welt, gar impulsgebend auf sie einzuwirken und Konzepte wie Toutmonde und Littérature-monde neu zu definieren. 25 Dossier Literatur als Anamnese der karibischen Gesellschaft Es geht in Glissants Werk um die Darstellungsmöglichkeiten von Literatur nach einem Nullpunkt, der sehr viel früher anzusetzen ist als jener der Shoa, um ein Schreiben über das Trauma von Verschleppung und Versklavung und um ein Schreiben nach dem Trauma, also um die Auseinandersetzung mit dem Ereignis und um den Prozess der Überlieferung. 2 Die Beschäftigung mit seinem Werk läuft für mich auf die zentrale Frage hinaus: Wie kann Sprache/ Schrift traumatische Momente als Spur in sich tragen, wo sich doch Sprache und Trauma bis zu einem gewissen Grad gegenseitig ausschließen? Wie wird erzählt, wenn die Erzählbarkeit von Geschichte selbst in Frage gestellt ist? Wie kann historische Gewalterfahrung, die sich in einem transgenerationellen Trauma manifestiert, dargestellt werden? Glissant spricht mit Blick auf die Karibik, insbesondere der französischen Überseedepartements, von einer „histoire subie comme cheminement d’une névrose“ (Glissant 1997a: 229) und von einer „non-histoire“ aufgrund der ausgelöschten Erinnerung, die das Sich-Aneignen der eigenen Geschichte so problematisch macht: „Ce discontinu dans le continu, et l’impossibilité pour la conscience collective d’en faire le tour, caractérisent ce que j’appelle une non-histoire. Le facteur négatif de cette non-histoire est donc le raturage de la mémoire collective“ (ibid.: 223sq). Das Glissant’sche Œuvre versucht der von ihm diagnostizierten kollektiven Neurose der Antillaner, dieser „misère mentale“ (ibid.: 362) und „dépossession“ (ibid.: 95-139), ausgelöst durch jahrhundertlange und anhaltende Enteignung, Entfremdungsprozesse und Abhängigkeit, eine literarische Anamnese entgegenzusetzen. Sein Werk kreist maßgeblich um die Frage: Wie kann nach der Apokalypse 3 der Sklaverei, nach dieser „violence primordiale“ (Vergès/ Marimoutou 2005: 14), eine neue Genese entstehen? Wie ist aus radikal diskontinuierlichen Lebensgeschichten und zersplitterten Geschichtsverläufen ein identitäres und kulturelles Bewusstsein zu gewinnen? Glissant spricht ausdrücklich von einer „digenèse“ (Glissant 1996b: 267), die aus dem dunklen Bauch des Sklavenschiffs hervorgegangen ist. Das Besondere an seiner Literatur ist in meinen Augen der Umschwung von der Apokalypse zu einer digenèse mittels einer Ästhetik der Sublimierung, Proliferation sowie einer imaginären Zeugenschaft und Historiographie. 4 Wenn die Erzählbarkeit von traumatischer Geschichte selbst in Frage gestellt ist, schlägt Édouard Glissant die Technik die Vergangenheit wahrzusagen vor, eine „vision prophétique du passé“ (Glissant 1996b: 115). 5 Für Glissant ist es die ästhetische Produktion, die Geschichte und Kultur erst erfahrbar macht. Wie sieht demnach eine écriture aus, die nicht in einer Rhetorik der Sprachlosigkeit und des Schweigens erstarrt? Oder anders formuliert: Wie werden dieses Schweigen und der délire verbal narrativ umgesetzt? Angesichts der ausgeprägt intratextuellen Vernetzung und seines zirkulären Systems von Verweisen kann ich hier nur einen Einblick - keinesfalls einen Überblick - über zentrale, wiederkehrende Formen und Funktionen innovativer Erzählstrategien im Glissant’schen Romanwerk geben. Im Zentrum meiner Analyse steht Glissants 26 Dossier achtbändige Saga der karibischen Gesellschaft. Ich spreche hier mit Carminella Biondi (1999: 133) bewusst von einer „saga romanesque“, denn das Glissant’sche Universum basiert auf Familiengeschichten und erschließt sich erst mit der Lektüre mehrerer Romane. Von La Lézarde (1958) bis Ormerod (2003) wird der Leser in ein Labyrinth von stark miteinander verflochtenen Geschichten geführt. Es entsteht ein erzählerisches Netz, dessen Aufhängung vom Leser miterzeugt werden muss. Mit seinem Romanerstling La Lézarde gelang Glissant nach einigen Veröffentlichungen von Gedichten der literarische Durchbruch. Der Roman ist ein deutliches Bekenntnis zur Antillanität und zur Unabhängigkeit Martiniques von Frankreich. Es ist die Geschichte einer Gruppe jugendlicher Aktivisten um Mathieu Béluse, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg für die Unabhängigkeit der Insel einsetzt. Neben Mathieu Béluse und Marie Celat (Mycéa) taucht ein weiteres Paar auf: der Hirte Raphaël Targin (Thaël) und Valérie. Die eigentliche Handlung umfasst die Planung und Ausführung eines Attentats: Garin, der renégat, der Vertreter der Zentralmacht, soll getötet werden. Die jugendlichen Aktivisten beauftragen schließlich das nach Frankreich ausreisende Autoren-Ich, die Geschichte ihres Kampfes zu schreiben und diese in Frankreich mitzuteilen: „Dis que nous disions: là-bas le Centre, pour dire la France. Mais que nous voulons d’abord être en paix avec nous-mêmes. Que le Centre, il est en nous, et que c’est là que nous l’avons cherché“ (Glissant 1997h: 227). Die in die Textur eingewobenen Fäden, die wie der Flusslauf der Lézarde von Strudeln und zahlreichen détours geprägt sind (cf. Blümig 2004: 142), werden in den weiteren Romanen aufgegriffen und insbesondere in Le Quatrième siècle und La Case du commandeur in die Zeit der ersten Deportierten, in die „Mitan du temps“ (so der Titel eines Kapitels im letztgenannten Roman), zurückverfolgt. Die Romane funktionieren wie eine Zeitmaschine, die verschiedene Zeitebenen spiralförmig miteinander verknüpft. Innerhalb seines rhizomatisch angelegten genealogischen Modells lässt Glissant die Figuren jenseits jeder Raum- und Zeitlogik miteinander kommunizieren. Die Texte folgen dabei keinem linearen, chronologischen Modell von Geschichte, sondern bilden ein weit verzweigtes, zyklisch verlaufendes Geflecht einzelner histoires, die jede für sich einen eigenen Plot haben, dabei aber intratextuell ineinander greifen. Die Erzähler sind vervielfacht - Figuren werden überdies zu Erzählern und Erzähler zu Figuren. Die Erzählstränge sind hochgradig verschachtelt, die Beziehungsgeflechte zwischen den Figuren nehmen von Werk zu Werk zu und multiplizieren so zunehmend die Erzählperspektiven. Handlungen werden unaufhörlich in Frage gestellt und neu interpretiert. Somit ist jedes Ende eines Romans nur ein vorläufiges, die Romane bleiben hypothesenhaft. Erst im Modus der Interrogation, indem er die eigene Aussage immer wieder in Frage stellt, gelingt es Glissant, die Unbegreiflichkeit von Verschiffung und Versklavung und die damit zusammenhängenden historischen Leerstellen und Brüche angemessen auszudrücken. Geschichte (re)konstruiert sich - so Glissants durchgängige Methode - erst aus verschiedenen Erzählerstimmen. In Tout-monde bedient sich Glissant zahlreicher Digressionen: Mehrere Erzählerstimmen erläutern Schlüsselbegriffe seiner 27 Dossier kulturtheoretischen Konzepte; es gibt eine Stimme der Antillaner, eine der Franzosen, eine der Italiener, der Afrikaner, der Ost-Europäer, eine der Frauen und Männer. Es tauchen die bereits bekannten Figuren auf wie Mathieu Béluse, Raphaël Targin, Marie Celat, der Quimboiseur Longoué oder die beiden Plantagenbesitzer La Roche und Senglis. Aber der Roman führt auch neue Figuren ein, teils Familienmitglieder, teils Freunde, zu denen Glissant im Anhang Identifizierungshilfen gibt. Er vermischt autobiographische Fragmente mit Reisenotizen und philosophische mit poetologischen Überlegungen. Als Rahmen für seine karibische Chronik wählt Glissant das Modell der Familiengeschichte(n) und greift damit bewusst eine Tradition epischer Helden- und Familiensagen auf. In seinen Romanen wird über ein verzweigtes Netz immer wiederkehrender Figuren die Geschichte mehrerer Familien und Generationen erzählt. Glissant entwirft eine imaginäre Doppel-Genealogie: Einerseits die Familien Béluse, die als Sklaven einen Teil des Plantagensystem bilden, 6 und andererseits die Familien Longoué, die als Marrons und Quimboiseurs Leitfiguren des Widerstands sind und in den Wäldern leben. 7 In einer mehrere hundert Jahre umfassenden Chronik schildert Glissant die getrennten und doch in enger Verbundenheit verlaufenden Wege der beiden Familien Béluse und Longoué. Die Zweiteilung der Familienstammbäume, beginnend um das Jahr 1788 bzw. 1715, weicht zunehmend einem wuchernden, rhizomartigen Geflecht von Geschichten und Figuren, dessen Dichte Glissant mit jedem Roman anwachsen lässt (cf. Blümig 2004: 146sq.). Der kleine Inselraum scheint gar zunehmend überbevölkert (cf. ibid.: 152). Beginnt Le Quatrième siècle noch mit der Ankunft der beiden Vorfahren der Longoué und der Béluse im Jahr 1788, so taucht in dem „Essai de classification sur les relations entre les familles Béluse, Targin, Longoué, Celat“, welcher in La Case du commandeur als Anhang auftaucht, ein möglicher dritter Vorfahre auf, eben jener Odono, der wohl schon um 1715 in die Karibik deportiert wurde. Die Multiplizierung und Streuung der Protagonisten und Erzählinstanzen sowie Glissants Technik, die Urszenen des Romangeschehens immer wieder neu zu variieren, machen es dem Leser schwer, den Überblick zu wahren. Seine von Dekonstruktion, Ambivalenz, Fragmentierung, Wiederholung und Intertextualität gekennzeichnete Schreibweise widersetzt sich fortwährend einer abschließenden Interpretation. Hilfreich ist in diesem Familiengeflecht, dass der Leser häufig auf Paare trifft wie bspw. Mathieu Béluse und Marie Celat bzw. Mathieu Béluse und Papa Longoué, die zueinander in einer spezifischen Relation stehen. 8 Sie setzen sich in der Regel zusammen aus Nachfahren der ehemaligen Plantagensklaven, die die französische Kultur und Geschichte weitestgehend als ihre eigene internalisiert haben und aus Nachfahren der ehemaligen Marrons, die sich der französischen Kultur verweigert haben. Europa und Afrika erhalten so ihren realen Platz in der Geschichte der Antillaner. 9 Europa vermittelt sich durch den logisch-rationalen Diskurs und die französische Geschichtsversion der Archive, mit denen sich Mathieu Béluse auseinander- 28 Dossier setzt. 10 Afrika, „le pays là-bas au-delà des eaux“ (Glissant 1997c: 68), taucht insbesondere über den assoziativen Diskurs des Marron und Quimboiseur auf, in dessen Linie auch Mycéa steht. Glissants Ansatz entspricht nicht der Hegel’schen Dialektik von Herr und Knecht, sondern es geht um die Relation von Sklave und Marron. Es ist eine Reflexion über die eigene Community. Glissant denkt über dichotome Begriffe von Herr und Sklave hinaus und will herkömmliche Oppositionen in einen Raum der Hybridität, der den Blick auf Strategien zur Subversion von Macht freigibt, überführen. Die Rolle des Maître wird bei Glissant auf einen gelegentlichen Auftritt beschränkt. Er wird damit in ähnlicher Weise marginalisiert wie der Kolonisierte/ Versklavte im größten Teil der überlieferten Geschichte. Insbesondere wird der Maître an keiner Stelle zum Erzähler. Ein solches Fehlen kolonialer Protagonisten und Erzähler innerhalb der Figurenkonstellation im postkolonialen Roman ist ein wirkungsvolles Verfahren, westliche Diskurs-Dominanz zu unterlaufen. Glissants asymmetrische Dreieckskonstellation aus Maître, Sklave und Marron rückt die Leidens- und Widerstandsgeschichten der Eroberten und Versklavten in den Vordergrund. Seine verzweigte Saga zeigt, wie das Leben in der Neuen Welt die Ankömmlinge in zwei Gruppen spaltete: Jene, die sich an das herrschende System anpassten, und jene, denen es nach der Ausschiffung oder einer späteren Flucht von der Plantage gelang, in die Wälder zu fliehen. Beide Gruppen bleiben in der Saga verflochten und ambivalent und lassen sich nicht klar voneinander differenzieren. Die Ereignisse der Eroberung, maßgeblich die lokale, subalterne Geschichte des Widerstands, werden bei Glissant polyperspektivisch (re)konstruiert. Widerständige Stimmen wie jene von Ozonzo, Papa Longoué, Liberté Longoué oder Mycéa destabilisieren die okzidentale Histoire totale und die damit einhergegangene francisation der Antillaner maßgeblich. Glissant verdeutlicht die Komplexität einer kreolisierten Geschichtsentwicklung, die zwar von der Asymmetrie der Machtverteilung geprägt ist, deren Dynamik aber auch eigene Lebensformen wie die der Marrons, die eine Art Gegengesellschaft bilden, hervorbringt. Neben die „victimisation tragique“ setzt Glissant bewusst die Figur des „Nègre marron“ als identitätsstiftenden „héros tutélaire“ (Glissant 1997a: 266). 11 Das herkömmliche kulturell verfügbare Repertoire von interpretativen Plots wird gegen den Strich gebürstet. Innerhalb der antillanischen Sklavengesellschaft gab es eine klare Hierarchie. Ralph Ludwig spricht von drei Gruppen: den Haussklaven, den spezialisierten Arbeitern und den Feldsklaven; letztere bildeten mit Abstand die größte Gruppe. 12 Für das Verständnis von Kreolisierungsprozessen sei aber insbesondere die Rolle der Haussklaven zentral gewesen, denn sie seien mehr als die anderen in Kontakt mit Kultur und Sprache der Kolonialherren gewesen und hätten diese Kenntnisse abends in die rue cases-nègres getragen (cf. Ludwig 2008: 37). 13 Die Plantagengesellschaft war wie folgt ausdifferenziert: An der obersten Stelle der Plantagenordnung steht der weiße Plantagenbesitzer, der aber oft die eigentlichen Verwaltungsarbeiten einem gérant überträgt, der ebenfalls aus der Kaste der 29 Dossier Weißen, der békés stammt. Zwischen Sklaven und gérant steht der commandeur, der in der frühen Kolonialzeit ein (mittelloser) Weißer war, am Ende des 17. Jahrhunderts häufig schon ein Schwarzer ist (ibid.). In Glissants Familiensaga repräsentieren die unterschiedlichen Haltungen der Protagonisten zwei entgegengesetzte Strategien von Anpassung und Widerstand, einen je spezifischen Umgang mit Fremdherrschaft und Gewalt. Bei Glissant ist der Marron eine der zentralen Figuren, 14 und etabliert damit einen alternativen grand récit. Diese besondere Aufwertung reagiert auf die frühere abwertende Darstellung im offiziellen Diskurs, die Furcht einflößen und zur Ausgrenzung auffordern wollte. 15 Außerdem kann der Marron die patrilineare Linie fortführen, eine Rolle, die sonst durch den Maître besetzt war. Der Roman Mahagony, der drei Widerstandsgeschichten über- und ineinanderfaltet, geht mit einer Allegorisierung des Marron einher; diese Figuren fungieren als Sinnbild für einen neuen antillanischen Emanzipationsdiskurs. Glissant praktiziert letztlich den von Foucault entworfenen „Aufstand der unterworfenen Wissensarten“ (Foucault 1978: 60), indem er dem Nichtartikulierten zur Sprache verhilft bzw. vom Unsagbaren Zeugnis abzulegen versucht. Glissant erzählt die antillanische Geschichte zudem in zwei Richtungen als doppelte Diasporisierung nach: Einerseits imaginiert er literarisch die Geschichte der Traite und des Marronnage und die damit einhergegangene gewaltvolle Entwurzelung, andererseits referiert sein Werk auf eine zweite Diaspora, sprich die erneute Dispersion des antillanischen Volkes seit Mitte des 20. Jahrhunderts. Gerade sein Roman Tout-monde erzählt die Migration in umgekehrter Richtung, wenn die Romangestalten von den Antillen ausgehend durch die Welt irren, sei es als Soldat, Arbeiter oder Intellektueller, jenseits der beengten geographischen Möglichkeiten der Insel (cf. Blümig 2004: 160). Festzuhalten bleibt: Glissants Familienstammbäume müssen horizontal als Rhizome oder Karten gelesen werden, in denen alle auftauchenden Figuren jenseits von Raum und Zeit potenziell in Beziehung zu allen anderen treten können. Tote, Geister, Phantome, Wiedergänger sind genauso Teil des Figurenensembles wie die Lebenden. Figuren der Diaspora und jene, die auf den Inseln geblieben sind, gehören derselben Gemeinschaft an. Selbst Landschaftsmetaphern verdichten und multiplizieren sich wie die um den Mahagonibaum: „Nous méditons ensemble ce mahagony, multiplié en tant d’arbres dans tant de pays du monde“ (Glissant 1997f: 193). Mit Hilfe zyklischer und anachronischer Erzählverfahren inszeniert Glissant eine schwindelerregende Akkumulation und Zirkularität von Raum und Zeit. Durch diese spatiale und temporale Akkumulation wird Vergangenheit in die Gegenwart projiziert und aktualisiert. Dieses „nicht-lineare Verhältnis zu Zeit und Weg“ (Ludwig 2008: 77) etabliert eine kritische, transversale, kreole, relationale Gegengeschichte der Moderne. Seine karibische Saga bildet eine Art Gründungsgeschichte der Vernichtung und des Überlebens und des damit verknüpften Chaos. 30 Dossier Wiederholungskunst und Akkumulation Wiederholung als Echoeffekt ist ein maßgebliches Strukturelement der Glissantschen Romane. Es handelt sich um eine zirkuläre Narration von Erzählfragmenten, die ihre Struktur durch die Verknüpfung wiederkehrender Themen, Motive und Figuren erhält. Wiederholung und Akkumulation dienen der Annäherung an die diskontinuierliche und fragmentierte Geschichte. Die Wiederholungstechnik fungiert als narratives Verfahren, Verdrängtes in Erinnerung zu rufen. Es ist, wie Glissant in Tout-monde schreibt, ein Weg, „de refuser, par un vertige de multiplication, la mort“ (Glissant 1993: 187). Die Erzähltechniken der répétition bzw. reprise und Akkumulation stehen im Kontext einer von Opazität geprägten Spurensuche und nicht mehr im Kontext eines Césaire’schen retour, wie Glissant schreibt: Car la tentative d’approcher une réalité tant de fois occultée ne s’ordonne pas tout de suite autour d’une série de clarté. Nous réclamons le droit à l’opacité. Par quoi notre tension pour tout dru exister rejoint le drame planétaire de la Relation: l’élan des peuples néantisés qui opposent aujourd’hui à l’universel de la transparence, imposé par l’Occident, une multiplicité sourde du Divers. […] L’intention en ce travail fut d’accumuler à tous les niveaux (Glissant 1997a: 14-17). Seine Wiederholungskunst bringt Glissant mit dem musikalischen Prinzip der Variation in Verbindung („la répétition est un rythme“, ibid.). Die Technik der Collage fungiert als eine Art Ordnungsgröße in der wirbelsturmartigen und opaken Geschichte der Antillen. Als ‚Historiker‘ verweist Glissant auf die spezifische Konstitutionsweise einer zersplitterten Geschichte durch Wiederholung und Variation. Seine Art zu erzählen nimmt auch orale Traditionen auf. Er zitiert nicht wortgenau, was bereits gesagt wurde, sondern es entstehen immer wieder - mit geringfügigen Abweichungen - neue Erzählungen. Die Rhythmisierung der Texte mittels Reiteration akkumuliert das bislang Verdrängte und Vergessene durch Mehrfachthematisierungen aus unterschiedlichen Perspektiven. Aus dem Spannungsverhältnis zwischen Provisorium und Wiederholung entstehen mannigfache literarische Kompositionen, eine Art Bedeutungsüberschuss. Die Wiederholung des nur scheinbar Identischen erzeugt différance. Die Häufigkeit, mit der Glissant ein und dasselbe Ereignis umkreist, verleiht dem Ereignis selbst Gewicht. So wird in Mahagony die Marronnage von drei Figuren, deren Erlebnisse zeitlich weit auseinanderliegen, rhizomatisch ineinandergeschichtet. Der Roman Mahagony verweist schon im Titel auf den Ebenholzbaum, also auf die Wälder, in denen sich die nègres marrons versteckten. Außerdem stelle der Titel das Silbenmaterial für die Namen der drei Protagonisten zur Verfügung: Gani, Maho und Mani (cf. Blümig 2004: 155). Die Spitznamen der drei Hauptfiguren generieren sich somit aus der Vegetation; der Rückgriff auf die Natur verleiht ihnen historische Verankerung. Die drei Männer - „la triple unité de cette histoire“ (Glissant 1997f: 27) - verkörpern „la même figure de la même force“ (ibid.: 20). Außerdem wird die Dreiheit durch den Erzähler Mathieu von einer „autre triple duplicité“ (ibid.: 27) erweitert, bestehend aus den Paaren Gani/ Longoué, Beautemps/ Maho und Mani / Odono Celat: 31 Dossier … que Gani, l’enfant tari à la source, et Longoué, qui porta le même nom que sa nièce, Liberté Longoué, s’étaient succédé en 1831 dans les parages des ébéniers mais que le conteur avait par la suite mentionné - sélectionné - le seul Longoué, homme de lignée, puis que le géreur Beautemps qui marronna vers 1935 ou à peu près avait toujours eu pour nom de voisinage Maho, mais que le conteur avait négligé un fait aussi remarquable; enfin, que le meurtrier Mani en 1978 avait connu Odono Celat, fils de Mycéa et qui eût pu être le mien, ce qui n’était dit nulle part dans l’histoire jadis contée par cet hagiographe des sites, lequel s’attardait volontiers à confondre les habitants, leur descendance, leurs visages, dans une même indistincte et trop puissante identité (ibid.: 27sq.). Mathieu erzählt von einem kollektiv gestammelten, transgenerationellen Schrei im Mahlstrom der Geschichte: J’entendais le cri balbutié par de lointains parents rameutés sur cette terre comme un troupeau rétif, et j’entendais le cri rentré dans la poitrine de Liberté Longoué. Il m’était réservé de connaître bien plus tard le cri de cet autre revenant, […] et que tous alentour avaient nommé Gani. Et de savoir que ce fut même cri (ibid.: 19). Als eine Art spirituelles Medium ist auch die Figur des Papa Longoué angelegt. In seiner barrique befindet sich die akkumulierte Zeit wie wir in Tout-monde erfahren: … il soupesait la barrique et […] il décomptait combien de processions de temps avaient enfourné et concassé dedans: le temps du bateau négrier, (qui avait noyé tous les temps d’avant dans sa soute à grande odeur, le temps d’Habitation […] le temps de l’enfant Gani qui avait marronné […] la barrique n’était pleine que de l’odeur des temps qui tourbillonnaient devant lui […] (Glissant 1993: 129). In Glissants Romanen dominieren Wiederholungsfiguren, Rückbezüge, Verweise, Überschneidungen, Umarbeitungen und Ineinderfaltungen von Ereignissen und Figuren, in denen sich eine verausgabende, unabschließbare Anamnese des „refoulé historique“ (Glissant 1997a: 229) literarisch manifestiert. In Mahagony teilt sich Marie Celat einen Traum mit dem Verwalter: „Mais comment je rêve avec la tête du géreur, dites-moi, d’où vient je rêve? “ (Glissant 1997f: 132). Dieser Traum der Marronnage wird von fast allen auftretenden Personen in Mahagony geteilt: „Gani confie son rêve à Tani qui le rapporte à Eudoxie qui le conte à la veillée. Le rêve est embelli de place en place, d’âge en âge“ (ibid.: 164). Der „mémoire historique [...] raturée“ (Glissant 1997a: 227) wird durch eine rituelle Technik des Erinnerns entgegengewirkt. Der auch als psychopathologisches Phänomen diagnostizierte Wiederholungs- oder Reinszenierungszwang findet bei Glissant seinen narrativen Ausdruck. Dieses Vorgehen ermöglicht, des Traumas zu gedenken und die Wunde(n) zu artikulieren. Das wiederholte Erzählen poliert die Erinnerungen regelrecht. Über einen schmerzhaften Prozess der langwierigen und identitätsstiftenden Erinnerungsarbeit soll die nötige integrale Selbstkonstitution aufgebaut werden, um schließlich politisch und kulturell den Akt der Selbstbefreiung zu wagen. 32 Dossier Intersubjektivität und chorales Erzählen Je ist bei Glissant eine Stimme unter vielen. Wie in vielen postkolonialen Texten schwingt das kollektive nous stets spürbar mit (cf. Ormerod 1994: 193; Richter 2008: 153). Identität kann nur in der Interaktion mit einem sozialen Umfeld konstruiert und stabilisiert werden. So setzt bspw. La Case du commandeur unmittelbar mit der Problematisierung des nous im Kontext des Kapitels „Trace du temps d’avant“ ein: Pythagore Celat [père de Mycéa, N. U.] claironnait tout un bruit à propos de ,nous‘, sans qu’un quelconque devine ce que cela voulait dire. Nous qui ne devions peut-être jamais former, final de compte, ce corps unique par quoi nous commencerions d’entrer dans notre empan de terre ou dans la mer violette alentour […] ou dans ces prolongements qui pour nous trament l’au-loin du monde, qui avions de si folles manières de paraître disséminés; qui roulions nos moi l’un contre l’autre sans jamais en venir à entabler dans cette ceinture d’îles […] ne disons pas même une ombre, comme d’une brousse qui aurait découpé dans l’air l’absence et la nuit où elle dérive, nous éprouvions pourtant que de ce nous le tas déborderait, qu’une énergie sans fond le limerait, que les moi se noueraient comme des cordes, aussi mal amarrées que les dernières cannes de fin de jour, quand le soleil tombe dans l’exténuement du corps […]. Et pourtant chaque moi, devenant je ou il sur l’humide éclat du jour, s’emprisonnait dans un opaque mal assuré, comme d’une île qui se serait enfoncée en des lointains évasifs. [...] l’absence de moi me renferme en moi […] (Glissant 1981: 15sq., Kursivsetzung im Original). Der Erzähler spricht hier von „nos moi“ und „que les moi se noueraient comme des cordes“, doch es ist eine approximative Kollektivität. Das Selbst ist stets „un moi tari “ (ibid.: 16, Kursivsetzung im Original). Ein solches Kollektiv von „non-nous-encore“ bzw. „non-nous-encore-mais-déjà“ (ibid.: 231) ist aufgrund der Geschichte von Verschleppung, Sklaverei und anhaltender Machtlosigkeit und Ausflucht unentwegt von Selbstauflösung und Selbstverlust bedroht: … autant de moi chahutés sur les mornes et les volcans, sur les souches enracinées dans l’océan. [...] Nous débordons de tant de moi solitaires en un seul nous taraudé de savoirs flous (ibid.: 19, Kursivsetzung N. U.). Nous, qui avec tant d’impatience rassemblons ces moi disjoints; dans les retournements turbulents où cahoter à grands bras, piochant aussi le temps qui tombe et monte sans répit; acharnés à contenir la part inquiète de chaque corps dans cette obscurité difficile de nous (ibid.: 239, Kursivsetzung N. U.). Auf narratologischer Ebene zeigt sich die provisorische, auseinandergerissene Kollektivität durch eine Häufung von Intersubjektivitäten. Gemeint ist damit eine in Glissants Romanwerk häufig anzutreffende Identifizierung von zwei oder mehreren Personen. So identifiziert sich bspw. Anastasie, eine Figur aus Tout-monde, mit den Erfahrungen von Mycéa und kommt zu der Überzeugung: „Mycéa, c’est moi. Oui, on peut dire que c’est moi“ (Glissant 1993: 228). Anastasie erzählt ihre Geschichte wiederum einem Mann, der Autor eines Buches ist, dessen Protagonistin Mycéa ist und welches Anastasie gelesen hat. Glissant inszeniert hier ein doppeltes Sprechen / 33 Dossier Erzählen von Geschichte aus weiblicher Perspektive, indem die Zeitebenen und die Figuren einander überlagern. Die Aktualisierung ungleichzeitiger Erfahrungen zeugt von dem konstanten Versuch der Saga, eine Beständigkeit der kollektiven Erinnerung zu stiften. Glissant multipliziert die Geschichte, indem er sie innerhalb der Grenzen des Inselraumes übereinander schichtet, so dass die vermeintliche Geschichtslosigkeit der Antillen und die Begrenztheit des Raumes in extremer Konzentration akkumuliert werden (cf. Blümig 2004: 155). Der Roman Mahagony legt palimpsestartig die drei Zeitachsen 1831, 1935 und 1979 übereinander. Glissant graviert die Geschichte in zirkulärer und zeitübergreifender Weise in die Natur ein. 16 Die Landschaft wird zum Palimpsest, das Rhizom bekommt durch die Verwobenheit der Geschichte(n) eine historische Vertiefung (cf. ibid.: 17). So erzählt Mathieu gleich zu Beginn des Romans vom Ineinandergreifen von Raum und Zeit und von den Wunden und Narben, die mit dieser besonderen Geschichte einhergehen: Un arbre est tout un pays, et si nous demandons quel est ce pays, aussitôt nous plongeons à l’obscur indéracinable du temps, que nous peinons à débroussailler, nous blessant aux branches, gardant sur nos jambes et nos bras des cicatrices ineffaçables (Glissant 1997f: 13). Die Handlung und Erfahrung des Marronnage variiert. Die Verdichtung des Raumes geht mit einer Vernetzung mehrerer historischer Epochen sowie der Multiplikation von Einzelereignissen und Romanfiguren einher. Verdichtungen dieser Art prägen das gesamte Romanwerk. So lässt Glissant in dem Roman Malemort (1975) drei einfache Männer aus dem Volk, Dlan Médellus Silacier, zu einer Person verschmelzen. Die Namensschichtung deutet bereits an, dass sie ein Kollektiv repräsentieren. In Ormerod (2003) erfährt der Leser, dass diese Einheit im Kontext einer unterbrochenen Genealogie steht: „Ces trois-là faisaient un seul corps indissocié sans ascendant ni descendant“ (Glissant 2003: 67). Chancé wendet ein, dass ein solches Kollektiv „porte en triomphe un zombi“, „une communauté zombifiée, c’est ce qu’est devenue la Martinique“ (Chancé 2003: 119). 17 Sind es in Malemort noch drei unterschiedlich klingende Namen, so finden wir in Sartorius fast durchgängig nur noch ähnlich klingende Namen mit einer auffälligen Häufung des Buchstaben ‚O’: Oko, Onkoloo, Okoo, Odono, Odonoo, Okombo, Onoko, Batoutoo, Mahinondoo. Die Kleinheit des Inselraumes und dessen Geschichtslosigkeit wird durch Akkumulation der Namen und selbst der Buchstaben kompensiert (cf. Blümig 2004: 17). Ferner hybridisiert Glissant unentwegt imaginäre und reale Figuren; besonders deutlich wird dies an der Figur des Mathieu Béluse. So gibt es Mathieu, den Vater (geb. 1891) und Mathieu, den Sohn (geb. 1926), der gleiche Name wird also mehreren Figuren zugeeignet. Mathieu Godard war ferner der ursprüngliche Taufname von Edouard Glissant 18 und ist zugleich der Name einer seiner Söhne, was Chancé konstatieren lässt: „le Nom-du-Père a traversé l’État civil et la littérature, pour fonder une paternité. Faut-il se demander qui est Mathieu Béluse ou qui est Mathieu Glissant 34 Dossier via-à-vis d’Édouard Glissant? “ (Chancé 2001: 228). 19 Zweifellos geht Glissant in seinem Werk weit über eine Gleichsetzung von Autor und Figur bzw. Erzähler als alter ego des Autors hinaus. Glissant bezeichnet sich selbst nicht als Autor, sondern wie in Mahagony als „celui qui commente“ oder „signataire de ce récit“ (Glissant 1997f: 175). Er behauptet, dass eine klare Trennung von Informant, Chronist, Figur und Autor unmöglich sei. Glissant ist eine Art Therapeut, der déparleur, der die anderen „compagnons de fiction“ (ibid.: 59) zu Wort kommen lässt, denn das Erzählen von Geschichte obliegt einem wuchernden Kollektiv. Von seinen Figuren, konkret von Mathieu, wird er als „notre commun narrateur“ (ibid.) bezeichnet: „il commente le tout-monde. Parce que son nom est à l’envers de celui du colon Senglis, il croit qu’il a une obligation“ (ibid.: 18). Chaos-monde Wie können die Nachfahren afrikanischer Sklaven ein Bewusstsein von Geschichte, von Herkunft und Kontinuität entwickeln? Für Glissants Werk lässt sich festhalten: Sein Respekt vor dem „tourbillon de mort“ (Glissant 1997c: 68), der eine Auslöschung von Generationen zur Folge hatte, ist im Text verschriftlicht. Schauen wir uns an, was Sabine Broeck für Toni Morrisons Roman Beloved resümiert. Sie spricht von einem „nicht im closure des plot aufgehenden Exzess“ (Broeck 2005: 104). 20 Dieser Exzess äußere sich „durch literarische Verfahren der Spaltung, des Umkreisens, des Kollapses, der Fragmentierung, der Lacunae und des Verlierens, mit denen der Text gegen sich selbst schreibt“ (ibid.: 103). Vergleichbares lässt sich für Glissants Schreibweise konstatieren, so dass sich denkwürdige narrative Parallelen innerhalb der Postplantation Literature (cf. Loichot 2007) auftun. Den Literat/ innen kommt die kriminalistische Aufgabe zu, die zerstreuten, fragmentierten Teile zerstörter Genealogien wieder zusammenzuführen und sie anzuordnen. Dieses Verfahren fungiert einerseits als bedeutungsstiftende Gedächtnis- und Trauerarbeit, andererseits aber verhindert eine solch ‚exzessive‘, ‚kollabierende‘ und ‚löchrige‘ Schreibweise ganz bewusst, das Trauma der Sklaverei vernunftmäßig zugänglich zu machen und abschließend zu erzählen. Glissants Romane führen die Orte der Exklusion und des Vergessens wieder in die Sprache ein, allerdings in Form von Verstörungen. Trotz Inhaltsverzeichnissen oder Datierungen und Diagrammen im Anhang einzelner Werke suggerieren die Texte im Untergrund einen Chaos-monde. Glissants Ablehnung einer souveränen Ordnung kulminiert in einem produktiven Chaos-Begriff: Ayons la force imaginaire et utopique de concevoir que ce chaos n’est pas le chaos apocalyptique des fins de monde. Le chaos est beau quand on en conçoit tous les éléments comme également nécessaires. Dans la rencontre des cultures du monde, il nous faut avoir la force imaginaire de concevoir toutes les cultures comme exerçant à la fois une action d’unité et de diversité libératrices (Glissant 1996a: 71). Im Discours antillais beschreibt er die Funktion seiner ‚chaotischen‘ Schreibweise: 35 Dossier … détrousser le chaos de l’histoire subie. Là aussi les techniques d’expression ne sont pas innocentes. Explorer ce chaos de la mémoire (offusquée, aliénée, ou réduite à un répertoire de repères naturels) ne peut se faire dans la ,clarté‘ de l’exposé consécutif. La production de textes doit être à son tour productrice d’histoire, non en tant qu’elle déclenche un événement mais en tant qu’elle ressuscite à la conscience un pan tombé. L’exploration n’est pas analytique mais créatrice. L’exposé est tremblant de cette création, opaque de ce contenu contradictoire dont la convergence n’est pas donnée d’emblée (Glissant 1997a: 345). Literarische Techniken wie Wiederholungskunst, Fragmentierung, Verausgabung, Akkumulation, démesure oder Desindividuation seiner Figuren zugunsten eines exemplarischen Gedächtnisses prägen Glissants Werk maßgeblich. Insgesamt sind seine Figuren im Spannungsfeld von Marron und Sklave, von Opfer und Überlebendem, von Verräter und Verratenem konsequent allegorisch angelegt. 21 Die literarische Technik des retour des personnages - bei Glissant aber auch die von Leitmotiven, Schlüsselbegriffen, Orten und Ereignissen - erinnert an den realistischen / naturalistischen Roman des 19. Jahrhunderts à la Balzac oder Zola. Der Comédie humaine oder den Rougon-Macquart vergleichbar entwirft Glissant Geschichte als Genealogie. Nur verwendet er den Gattungsbegriff ‚Roman‘ keinesfalls als Synonym für eine wahrheitsgemäße Erfahrung des Wirklichen, die sich mimetisch abbilden ließe. Im Gegenteil, Glissant geht von der Destruktion des Realismus aus und erzeugt, ausgehend von Traumata und Verdrängtem, ein Substitut des Unerzählbaren, das gleichwohl historische Referenz herstellt. Ohne die notwendige Stabilität der Signifikate kann der Text nicht mehr zu einer Repräsentation der außertextuellen Welt werden. Glissants écriture ist eine subversive Form des Realismus. Er fragmentiert die große Erzählung, die Herrschaftsdiskurse der Histoire, in viele Geschichten. Es gibt zudem bei Glissant keine postmoderne, sinnentleerte Suche frei schwebender Zeichen. Es geht ihm vielmehr in retrospektiver Hinsicht um die Unerzählbarkeit von Geschichte, um die Widersprüchlichkeiten des vorliegenden Materials, um das Chaos der Erinnerung und in prospektiver Hinsicht um die Multiplikation von kulturellen Kontakten im Kontext von Beschleunigung und Unvorhersehbarkeit. 22 An die Stelle von Ganzheit, Einheit oder Totalität tritt bei Glissant eine Reflexion über das Fragment, die Grenze, die Differenz und die Absenz. Ferner sieht Glissant sich nicht als aufmerksamer Beobachter, von dem Balzac häufig spricht, sondern als Kommentator, der das Erzählte unaufhörlich in Frage stellt. Glissant geht weit über Balzacs Konzeption einer erklärbaren Welt, die sich in Geschichte verwandeln lässt, hinaus. 23 Bei Glissant treffen wir auf eine Literaturkonzeption, die sich der Diskontinuitäten und Leerstellen von Geschichte bewusst ist, denn „[l]es terres vierges qu’il y a sur la Terre ne sont plus géographiques, elles sont mentales et spirituelles“ schreibt Glissant (1997e: 65). In einem Interview kommentiert er den Unterschied zwischen Balzacs und seiner Schreibweise: Le monde balzacien, c’est un monde homogène [...]. Le monde de ce que j’écris est un monde exclusif, et la seule unité […] c’est l’équivalence entre les divers styles possibles, […] c’est-à-dire la totalité des langages qui expriment le Tout-monde. Il s’agit donc d’une unité explosée […] (Glissant, zit. nach Ludwig 2008: 123). 36 Dossier Glissants Figuren haben in den einzelnen Werken gänzlich unterschiedliche Gewichtungen, vermeintlich einheitliche Ereignisse werden immer wieder aus multipler Sicht erzählt und dadurch unentwegt in Frage gestellt. Er negiert logisch-räumlich-zeitliche Kausalität und die Kohärenz der Figuren und Ereignisse. Die Aufgabe, das Unmögliche zu dichten und zu denken, stellt sich für Glissant nicht in der Weise, dass er sich anmaßen würde, die Deportation und die Sklaverei realistisch darzustellen. Er schreibt vielmehr über das komplizierte Verhältnis von Erzählungen und dem, was in ihnen Verschwiegenes zum Ausdruck kommt, über die sprechenden Zeichen und Bilder, die auf die Lücken, auf das Verschlossene verweisen. Er kommt dem Paradoxon nach, von dem Cécile Wajsbrot spricht, wenn sie die Literatur als ein Bezeugen des „son du silence“ (Wajsbrot 2008) charakterisiert: Ecrire, c’est savoir hériter, c’est-à-dire se situer dans une lignée, dans une chaîne d’événements, en l’occurrence, une succession de livres. Ecrire, c’est savoir se situer dans le temps biographique et le temps littéraire. Mais c’est aussi prendre la parole, rompre le silence et porter témoignage (ibid.: 253). Glissant geht es um eine veränderte Historiographie, wobei er teleskopartig mehrere Zeit- und Raumebenen miteinander verschachtelt sowie Geschichten und Figuren rhizomatisch miteinander vernetzt. Aufgrund der Brüchigkeit, Zersplitterung, der Risse und Leerstellen der antillanischen Geschichte, eben aufgrund des Unvermögens, bestimmte Ereignisse empirisch nachzuweisen, werden die Lücken und Traumata des kollektiven Gedächtnisses in Glissants Literatur vor allem an ihrer Form gespiegelt. Es findet eine Verschiebung auf die Ebene der Darstellung statt; ihr kommt hier nicht nur eine Funktion der ästhetischen Unterstützung des Inhalts, sondern auch die einer autonomen Bedeutungsproduktion zu. Glissant entfaltet literarisch-rhizomatische Ausdrucksformen der Ambivalenz. Die literarische Ästhetik bleibt vom ‚Sturm der Geschichte‘ nicht verschont. Glissant erfindet im Sinne von Deleuze und Guattari eine komplexe nomadologische Geschichtsschreibung und führt den vergessenen lieu commun der Sklaverei in die Sprache wieder ein. Denn die Geschichte der Antillen lässt sich nur bedingt aus F/ Akten und Archiven rekonstruieren. Ihre Übermittlung fordert insbesondere die Imagination heraus, so lässt sich der diagnostizierten dépossession wirksam begegnen. Glissant mahnt im Discours antillais eindringlich: „la dépossession risque d’être mortelle. Scruter cette dépossession, c’est contribuer à lutter contre la déperdition collective“ (Glissant 1997a: 33). Und er schlägt für Martinique folgende alternative Historiographie vor: La Traite, le peuplement. L’univers servile. Le système des Plantations. L’apparition de l’élite, les bourgs. La victoire de la betterave sur la canne à sucre. L’assimilation légiférée-légiférante. La menace de néantisation (ibid.: 270). 37 Dossier Glissant entwirft hier eine Geschichtsschreibung in Form von „tranches historiques, de pans et non pas de période“ (ibid.: 273) und bietet so eine „vision ‚interne‘“ (ibid.: 273) von Martinique an, um der Gefahr einer „néantisation“ zu entgehen. Seine Texte haben nicht unbedingt Bewältigungscharakter, sie gehen über eine konsolatorische Funktion des Erzählens weit hinaus. Durch seine unabgeschlossene, offene Poetik gelingt es ihm, einen potenziellen Raum jenseits von Vernichtung und Tod zu begründen, einen Raum, der stärker von Fragen als von Antworten gekennzeichnet ist. 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Wajsbrot, Cécile, „Le Son du silence“, in: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte, 32/ 2008, 241-254. 1 Der Discours besteht aus einer Zusammenstellung von „repères“, von Artikeln, Vorträgen, Vorworten und Essays, die im Zeitraum zwischen 1962 und 1979 entstanden sind. 2 Trauma bezeichnet eine „extreme Erfahrung psychischer, physischer oder sexueller Gewalt, die vom Einzelnen nicht sofort hinreichend verarbeitet werden kann und symptomatische Leiden nach sich zieht“ (Eggers 2001: 602). Im Kontext dieser Analyse ist wichtig, dass es sich um ein historisches und über die Generationen weitergegebenes, interpersonales Trauma handelt. 3 In Ormerod verwendet er den Begriff der ‚Apokalypse‘ im Zusammenhang mit der antillanischen Geschichte: „un monstrueux raclement des plaques d’en dessous provoque [...] l’apocalypse qui engloutit ces terres et submerge la mer elle-même“ (Glissant 2003: 16). 4 Vertiefend zur Ästhetik des Chaos cf. Ueckmann 2014. 5 Zu seiner „vision prophétique du passé“ cf. Ueckmann 2010. 6 Die Rolle des ersten Béluse, welcher 1788 auf die Antillen verschleppt wird, ist die wenig ehrenvolle eines nègre-étalon, eines Sklaven, welcher für den bel usage - daher der spätere Name Béluse - vorgesehen ist. Die weißen Plantagenbesitzer benötigten nicht nur Arbeitskräfte für die Pflanzungen, sondern auch welche für die Fortpflanzung. Dieses Vorgehen war ‚kostensparender‘ als neue Sklaven einzukaufen, denn Kinder wurden ab vier Jahren als Sklaven eingesetzt. 7 In dem Eintrag „Caraibes ou Cannibales“ innerhalb von Diderots/ d’Alemberts Encyclopédie liest man, dass die Kariben „croyent un premier homme nommé Longuo, qui descendit du ciel tout fait; & les premiers habitants de la terre, suivant eux, sortirent de son énorme nombril au moyen d’une incision“ (Diderot/ d’Alembert 1751-72). So wie ich Glissant einschätze, ist die Namensverwandtschaft zwischen Longuo/ Longoué vermutlich keine Zufälligkeit. 8 Nur in Le Quatrième siècle (1964) und La Case du commandeur (1981) befinden sich Orientierungen, eine „Datation“ und ein „Essai de classification des relations entre les familles Béluse, Targin, Longoué, Celat“. In den nachfolgenden Texten muss die Leserschaft ohne eine solche Orientierungshilfe auskommen. 9 Glissant wird nicht ganz zu Unrecht vorgeworfen, dass er sich vorwiegend auf das problematische Verhältnis zwischen weißen und schwarzen Antillanern oder aber die Relation schwarzer Antillaner zu Afrika beschränkt und damit die multiplen Einflüsse anderer Volksgruppen vernachlässigt. 10 Ist La Lézarde noch ein Roman der geschichtlichen Ermittlung mittels Archivarbeiten seitens des Historikers Mathieu, so stellt Le Quatrième siècle eher einen Roman des kollektiven Gedächtnisses dar, welcher verstärkt die Erzählungen des Quimboiseurs Papa Longoué in den Mittelpunkt rückt und der die Gefahr des Selbstverlustes durch die Verlockungen der abendländischen Kultur klar benennt. Der Sieg der Literalität über die Oralität bringt zwar einen Zuwachs an abrufbarem Wissen, schadet jedoch dem eigenen Erinnerungsvermögen. 40 Dossier 11 An anderer Stelle sagt er, dass „le Nègre marron est le seul vrai héros populaire des Antilles“ (ibid.: 180). Der Nègre marron aufgrund seiner potenziellen Aufrechterhaltung der patrilinearen Linie repräsentiert auch einen sehr männlich potenten Gegensatz zur ‚weiblichen‘ Welt der Plantage, die aufgrund der Enteignung der Männer als „univers matrifocal et matrilinéaire“ (Burton 1997: 24) charakterisiert wird. 12 Wole Soyinka meint, dass die Sklaverei ein Zustand sei, der keine Differenzierung zulasse, außer natürlich der in soziologische Einteilungen wie Haus- oder Feldsklave, cf. Soyinka 2000. 13 La Rue cases-nègres (1950) von Joseph Zobel gilt als einflussreicher Roman, der optimistisch von einer sozialen Integration durch Bildung ausgeht; er wurde 1983 von der martinikanischen Regisseurin Euzhan Palcy verfilmt. 14 Auch Chamoiseau hat mit seinem epischen Roman Biblique des derniers gestes (2002) dem Rebellen Balthazar Bodule-Jules eine Chiffre für den universellen Revolutionär geschaffen. 15 Glissant schreibt in La Cohée du Lamentin (2005: 85): „Le marronnage est une opposition sociale, politique et culturelle, que les historiens colonialistes refusent le plus souvent de considérer comme telle.“ 16 Zum doppelten Trauma in Form von Kolonialismus und Naturkatastrophen im karibischen Raum cf. Febel 2017. Konkret zum Vulkanausbruch des Montagne Pelée in Martinique (1902) cf. Ludwig 2017. 17 Malemort ähnelt einer Autopsie „d’une société zombifiée et totalement sous l’emprise du ‚délire verbal‘“ (Chancé 2002: 6). 18 In Traité du Tout-monde erfahren wir, dass Mathieu der Taufname von Glissant ist, und der Familienname Glissant führt in verdrehter Form zur Namensgebung der Plantage des Béké Senglis (Senglis ist die Besitzung, wohin der erste Béluse nach seiner Ankunft auf Martinique verkauft wird): „Mathieu me fut consigné à baptême […] abandonné ensuite dans la coutume et les affairements d’enfance, repris par moi (ou par un personnage exigeant, ce Béluse) dans l’imaginaire, et il s’est greffé, pour finir ou pour recommencer, en Mathieu Glissant. [...] J’ai supposé naguère que le nom de Glissant, sans doute octroyé comme la plupart des patronymes antillais, était l’envers insolent d’un nom de colon, Senglis par conséquent. L’envers des noms signifie. [...] Je m’appelle Glissant depuis à peu près l’âge de neuf ans, quand mon père me ,reconnut‘“ (1997b: 77). Glissant ist „Sohn eines Plantagenverwalters, eines stolzen, wiewohl mit der kolonialen Ordnung im Konsens lebenden Mannes“ (Ludwig 2008: 115). Erst im Alter von neun Jahren wird Édouard Glissant von seinem Vater als Sohn anerkannt und trägt seitdem dieses Patronym, dem er durch sein literarisches Werk Dauer und Bedeutung verliehen hat. Die ersten neun Lebensjahre trug er den Namen seiner Mutter, Mathieu Godard, cf. Chancé 2009: 15. 19 Chancé kommt zu der Hypothese, „que l’écrivain, ayant reconnu en lui le manque du symbolique, est celui qui désire la loi symbolique tout en la sachant inaccessible. Il ne l’atteint que dans l’imaginaire, dans une ambiguïté qui fait sa fortune et sa folie“ (Chancé 2003: 292). 20 Beloved spalte sich in plot und einen Exzess/ Rest jenseits des emplotments: „Der Kindsmord, das zweite Trauma [nach der Sklaverei, N. U.] und seine traumatischen Konsequenzen für die Mutter als Mörderin und das Kind als Opfer entziehen sich der Narrativisierung, bleiben als abzuspaltender Rest oder Exzess, der nur umkreist, aber nicht ‚durchgearbeitet‘ werden kann […]. Das tote Baby wird von der Geschichte zweimal abgespalten - dies ist der traumatische Preis, den der plot für sein closure bezahlt. Die Existenz eines Narrativs, 41 Dossier einer ‚story‘ für Paul D, Sethe und Denver bedingt geradezu die Abwesenheit des Traumas des Kindes“ (Broeck 2005: 104). 21 Kritisch anzumerken ist Glissants starke Fokussierung auf Europa und Afrika, was sich insbesondere daran zeigt, dass die ethnische und kulturelle Vielfalt der Karibik in seinem Werk stark auf diese zwei Pole eingegrenzt wird. 22 Zur Frage, wie in der Karibik und ihrer Diaspora die Kontinuität der eigenen Geschichtsschreibung gesichert wird und ob die postkoloniale Karibik alternative Modelle des Erinnerns entwickelt cf. Ueckmann/ Febel 2017. 23 Ähnliches lässt sich auch für das Werk von Raphaël Confiant und sein Projekt einer Comédie créole (L’Étang 2012) sagen.