eJournals lendemains 38/149

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Narr Verlag Tübingen
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2013
38149

Gilbert Ziebura als Schrittmacher sozialwissenschaftlicher Frankreichforschung

2013
Roland Höhne
ldm381490125
125 IIn memoriam Roland Höhne Gilbert Ziebura als Schrittmacher sozialwissenschaftlicher Frankreichforschung Gilbert Ziebura (18.03.1924-21.02.2013) war gelernter Historiker. Er studierte Geschichte, wurde mit einer historischen Arbeit promoviert und habilitierte sich über ein historisches Thema. Auch nach seiner Berufung auf eine Professur für Internationale Beziehungen 1964 blieb er der Geschichte treu. Seit seinem Eintritt in den Hochschuldienst an der damaligen Deutschen Hochschule für Politik (DHfP) als Assistent des Politologen Ernst Fraenkel im Jahre 1955 beschäftigte er sich aber auch mit genuin politologischen Themen, so den Institutionen der IV. und V. Französischen Republik. Er orientierte sich dabei an der damals dominierenden Pluralismustheorie. Unter dem Einfluss seiner akademischen Lehrer, insbesondere von Hans Rosenberg, amerikanischer Gastdozent am Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität (FU) Berlin 1949/ 50 sowie Pierre Renouvin, Professor für die Geschichte der Internationalen Beziehungen an der Sorbonne, später auch unter dem Einfluss der erbittert geführten Theorie- und Methodendebatte zwischen Vertretern positivistischer und marxistischer Ansätze am Otto-Suhr-Institut Berlin, löste er sich jedoch mehr und mehr von seiner ursprünglichen Position. An die Stelle der politischen Analyse, insbesondere der öffentlichen Meinung, der Institutionen, der Ideen-, Parteien- und Politikgeschichte trat die gesellschaftliche Analyse politischer Phänomene. Nun suchte er „die Dinge hinter den Dingen“, d.h. die gesellschaftlichen Bedingungsfaktoren politischen Handelns. Gleichzeitig erweiterte er sein Arbeitsfeld. Neben Frankreich trat Europa und schließlich die Weltpolitik. 1 Die entscheidenden persönlichen Voraussetzungen für seinen wissenschaftlichen Werdegang bildete seine „ersten Sozialisation“ durch Familie, Jugendorganisationen, Schule und Kriegserfahrung im NS-Regime und die „zweite Sozialisation“ nach Ende des Krieges durch die Suche nach neuen Orientierungsmustern. Aufgewachsen war Ziebura in einem konservativkatholischen, deutsch-nationalen Elternhaus. Die Eltern stammten aus Schlesien, der Vater war Berufssoldat, der es bis zum Unteroffizier brachte und dann als Verwaltungsbeamter arbeitete. Als Heranwachsender war Ziebura zunächst Mitglied der katholischen Jugend, dann des Jungvolks und der Hitlerjugend. 1943 wurde er zur Wehrmacht eingezogen, erlebte den Krieg an der Ostfront und wurde im November 1943 schwer verwundet. Nach der Entlassung aus der Wehrmacht 1944 begann ein Umorientierungsprozess, der zum völlig Bruch mit dem NS-Regime führte und so den Weg geistig freimachte für die Suche nach neuen Ufern. Er fand sie im westlichen, d.h. demokratischen Wertesystem, hielt jedoch an seinem katholischen Glauben fest. Besonde- 126 IIn memoriam ren Einfluss nahm auf ihn während dieses Neuorientierungsprozesses die Begegnung mit Frankreich und hier besonders mit französischen Linkskatholiken. 2 Wissenschaftlich geprägt hat ihn sein Studium in Berlin zunächst an der Lindenuniversität, dann am historischen Seminar (Friedrich-Meinecke-Institut) der Freien Universität (FU) und in Paris an der Sorbonne sowie seine Lehr- und Forschungstätigkeit an der Deutschen Hochschule für Politik, dem Otto-Suhr-Institut der FU Berlin sowie an den Universitäten Konstanz und Braunschweig. Am historischen Seminar der FU dominierte noch die staatlich-politisch orientierte Sichtweise, vertreten insbesondere durch seinen Doktorvater Hans Herzfeld. Dieser war deutsch-national geprägt und beschäftige sich zunächst vor allem mit den Ursachen des Ersten Weltkrieges, um die alliierte These von der deutschen Alleinschuld am Ausbruch des Krieges zu widerlegen. Seine negativen Erfahrungen im NS-Regime als „Vierteljude“, der 1938 seine Professur in Halle verlor, führten ihn jedoch zu einer kritischen Einstellung gegenüber der traditionellen deutschpreußischen Staatsidee. Er öffnete sich angelsächsisch-amerikanischen Politikvorstellungen, hielt aber an seinem Konzept der Staatengeschichte fest und ging weiterhin vom Primat der Außenpolitik aus. 3 Die Gegenposition dazu vertrat der linksliberale Hans Rosenberg, ein deutsch-jüdischer Gastdozent aus den USA, der 1949/ 50 am Meinecke-Institut lehrte. Er hatte in den zwanziger Jahren bei Friedrich Meinecke eine ideengeschichtliche Doktorarbeit geschrieben, sich dann aber unter dem Eindruck der Weltwirtschaftskrise der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte zugewandt und nach einer Verbindung von politischer Geschichte, Ideengeschichte und Ökonomie gesucht. 4 Er war dabei auf der Suche nach den realen gesellschaftlichen Machtstrukturen. Ziebura stand seinen Ideen zunächst skeptisch gegenüber, orientierte sich aber später stark an ihnen. Rosenberg übte so langfristig einen wesentlich stärkeren Einfluss auf ihn aus als Herzfeld. Er schrieb jedoch bei diesem seine Doktorarbeit über die deutsch-französischen Beziehungen vor dem Ersten Weltkrieg. Dabei ging es ihm nicht um Diplomatiegeschichte, sondern um eine qualitative Analyse der veröffentlichten Meinungen Frankreichs über Deutschland in den letzten Vorkriegsjahren. 5 Er wollte so ergründen, welche Rolle die „Revanche-Idee“ für den französischen Kriegseintritt gespielt hatte. Bei seinem Forschungsaufenthalt in Paris lernte er durch Vermittlung Herzfelds Pierre Renouvin, den Direktor des Institutes für Neue und Neuste Geschichte, kennen, der sich vor allem mit der Geschichte der Internationalen Beziehungen beschäftigte. Er war wie Herzfeld politisch-staatlich orientiert, berücksichtigte jedoch im Gegensatz zu diesem bereits die forces profondes der Außenpolitik. Wie weit sein Einfluss reichte, lässt sich schwer sagen, aber Ziebura beschäftige sich später ebenfalls mit den Tiefenstrukturen der Politik, allerdings mit einem anderen theoretischmethodischen Ansatz. Mit der Promotion im August 1953 beendete Ziebura seine Lehr- und Wanderjahre. Rückblickend schreibt er in seiner Autobiographie, die innere und äußere Freiheit, mit der er sein Studium gestaltete, die Selbstbestimmung über den eigenen Weg, habe er sich zu bewahren versucht. Die Begegnung mit Frankreich habe 127 IIn memoriam ihm seine nationalen, mentalen und ideologischen Scheuklappen genommen und unmittelbar mit dem Drama der europäischen Geschichte konfrontiert. Praktisches Engagement und wissenschaftliche Arbeit hätten ihn schließlich zu der Überzeugung gebracht, „daß die Geschichte der Zukunft zu wichtig ist, um sie der Realpolitik, dem mühsamen [ ] Pragmatismus der ‚kleinen Schritte‘ zu überlassen. Für mich bleibt bis auf den heutigen Tag das Ringen um eine Vision entscheidend, die es erst ermöglicht, der Politik Orientierung und damit innere Legitimität zu verleihen.“ 6 Besonders die Suche nach einer Vision bestimmte seine weitere wissenschaftliche Arbeit und führte u.a. zum Bruch mit seinem langjährigen französischen Gesprächspartner, Alfred Grosser, der die „Politik der kleinen Schritte“ favorisierte. 7 Nach seiner Promotion wechselte Ziebura vom Meinecke-Institut zur damaligen Deutschen Hochschule für Politik, zunächst als Lehrbeauftragter, ab 1955 als Assistent von Ernst Fraenkel. Entscheidend für diesen Wechsel waren neben beruflichen vor allem inhaltliche Motive. Die deutsche Geschichtswissenschaft der fünfziger Jahre privilegierte noch immer die Analyse staatlich-politischer Prozesse und beschäftigte sich nicht wie Rosenberg mit der Realität gesellschaftlicher Machtverhältnisse. 8 Aber eben diesen galt Zieburas Interesse. Offen war für ihn noch die Frage, wie sie sich wissenschaftlich erfassen ließen. Diese Frage stand im Mittelpunkt einer theoretischen Grundsatzdebatte im Kollegium der DHfP. Ihre Protagonisten waren Franz Neumann und Ernst Fraenkel. Neumann, ein deutsch-jüdischer Emigrant aus den USA, der 1936 bis 1942 dem Institut für Sozialforschung in New York angehörte, aus dem nach dem Kriege die „Frankfurter Schule“ hervorging, bemühte sich um eine Synthese zwischen Marxismus und liberaler Demokratie. Er ging von der Überzeugung antiker Historiker aus, dass politische Macht der Ausdruck ökonomischer Macht sei. Die Demokratie erlaube jedoch in begrenztem Maße ihre Kontrolle und zwinge Interessengruppen, über die Vertretung ihrer partikularen Interessen hinauszugehen. 9 Ernst Fraenkel war wie Neumann gelernter Jurist, der sich während seiner Emigration in Großbritannien und den USA intensiv mit der angelsächsischen Demokratie beschäftigt hatte. Aus dieser Beschäftigung entstand seine Neo- Pluralismustheorie, die auf dem Gegensatz von Pluralismus und Totalitarismus beruhte. Ihren Kern bildete die Annahme, die gesellschaftlichen Gruppen hätten in einem demokratischen System grundsätzlich die gleichen Machtchancen, so dass die Bürger in freier Entscheidung über die Verteilung der Macht entscheiden könnten. 10 Rückblickend schreibt Ziebura, bei den Auseinandersetzungen im Kollegium habe es sich um den „Grundkonflikt zwischen einer Auffassung von Politischer Wissenschaft als kritischer Politischer Ökonomie (Neumann) oder als normativer Institutionenlehre (Fraenkel)“ gehandelt. Sie hätten für die Entwicklung des Faches fruchtbar werden können, wenn sie offen ausgetragen worden wären. Dies aber habe der Ost-West-Konflikt bis zur Studentenrevolte 1967/ 68 verhindert. 11 Ziebura, der den theoretischen Hintergrund der Debatte damals nicht kannte, orientierte sich zunächst an Fraenkel. Er befasste sich mit den französischen 128 IIn memoriam Theoretikern des Frühparlamentarismus und den Institutionen der IV. und V. Französischen Republik. Erst im Laufe der Zeit emanzipierte er sich von ihm und entwickelte eigene, sozialwissenschaftlich orientierte Positionen. Im Rückblick wirft er der an der DHfP vertretenen Politikwissenschaft vor, ihren Auftrag, den mündigen, kritischen Staatsbürger als Basis und Voraussetzung der Demokratie zu formen, nicht erfüllt zu haben. Schuld daran sei die dominierende Pluralismustheorie gewesen. Da sie die Analyse von Willensbildungs- und Entscheidungsprozessen privilegierte, habe sie sich als unfähig erwiesen, die Dynamik gesellschaftlicher Machtverhältnisse zu erfassen, weil sie von einer grundsätzlich affirmativen, sich mit den Herrschaftsverhältnissen identifizierenden Position ausgegangen sei. 12 Die aus heutiger Sicht berechtigte Kritik übersieht jedoch die politischen Zwänge, denen die Politische Wissenschaft in den 50er und 60er Jahren im Kontext des Ost-West-Konfliktes in West-Berlin unterlag. Diese verhinderten, dass sich eine um akademische Anerkennung ringende und auf politische Rückendeckung angewiesene Disziplin zum Zentrum von Herrschaftskritik entwickeln konnte, selbst wenn dies seine Repräsentanten gewollt hätten. An der DHfP musste Ziebura in Forschung und Lehre historische und politikwissenschaftliche Fragestellungen verbinden. Daraus ergab sich u.a. sein Quellenbuch zum Regierungssystem der IV. Republik. Es war solide politikwissenschaftlich verfasst, ging aber methodologisch nicht über die von Fraenkel vertretene Position hinaus. In seinem Vorwort zum „Leitfaden“ der Publikation, die von François Goguel stammte und von ihm übersetzt wurde, erläuterte er jedoch, dass mit „régime politique“ mehr gemeint sei als nur „Regierungssystem“, d.h. die politischen Institutionen, sondern zugleich ihr Funktionieren unter dem Einfluss mannigfacher politischer, sozialer und wirtschaftlicher Kräfte des Landes in ihren historischen, geographischen und soziologischen Bedingtheiten. 13 In seiner Habilitationsschrift über Léon Blum bemühte sich Ziebura um eine Verbindung von Ideen-, Parteien- und Politikgeschichte. Als Zugang bediente er sich des politischen Denkens und Handelns Léon Blums, des langjährigen Führers der Sozialistischen Partei SFIO und Ministerpräsidenten der Volksfrontregierung in den Jahren 1936-1938. Er schrieb keine klassische Biographie, sondern zeigte anhand einer führenden Persönlichkeit der französischen Arbeiterbewegung exemplarisch die Problematik der Sozialdemokratie auf, die er als Ausdruck bestimmter gesellschaftlicher Kräfte verstand. 14 Gegenüber seiner Dissertation von 1953 war dies ein entscheidender Schritt auf dem Wege der Zusammenführung von Politik- und Gesellschaftsanalyse. Aus praktischen Gründen (Zeitmangel und unbefriedigende Quellenlage) musste Ziebura auf die Untersuchung der Machtausübung in den Jahren 1936-1938 verzichten, die einen Beitrag zur Praxis der französischen Sozialdemokratie leisten sollte. Bei der Beschäftigung mit dem Übergang von der IV. zur V. Republik modifizierte Ziebura Mitte der sechziger Jahre seine wissenschaftstheoretische Position. Nun versuchte er, Gesellschaft, Wirtschaft, Ideologie und politisches System als Einheit zu begreifen, „als Dialektik von Konsens, der Basis für Dauerhaftigkeit, und 129 IIn memoriam Konflikt, der Notwendigkeit von Veränderung.“ 15 Dies war ein entscheidender Schritt auf dem Wege zur gesamtgesellschaftlichen Analyse. „Rosenberg begann, Fraenkel zu verdrängen.“ 16 Aber noch hatte er den Rubikon nicht überschritten. Der grundlegende Paradigmenwechsel vollzog sich erst Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre. Entscheidend dafür waren seine Erfahrungen als Ordinarius für Außenpolitik am Otto-Suhr-Institut der FU Berlin seit 1964. Um deren Studium theoretisch zu fundieren, machte sich Ziebura wiederum auf die Suche nach neuen Wegen. Die damals aus den USA kommenden Theorien der internationalen Politik interessierten ihn wenig. Er fand sie oberflächlich und positivistisch. Sie legitimierten in seiner Sichtweise lediglich bestehende Herrschaftsverhältnisse, statt diese kritisch zu hinterfragen. Den Neo-Marxismus, der Ende der sechziger Jahre im Gefolge der Studentenrevolte am Otto-Suhr-Institut en vogue war, fand er zu deterministisch und dogmatisch. Stattdessen beschäftigte er sich mit Ansätzen, die sich mit dem Zusammenhang von Gesellschaftssystem und Außenpolitik befassten. Unter diesen begeisterte ihn der Ansatz des linksliberalen Historikers Eckard Kehr. In seinen Arbeiten über den deutschen Imperialismus vor dem Ersten Weltkrieg hatte sich dieser schon in den zwanziger Jahren mit dem Einfluss innergesellschaftlicher Faktoren auf die Außenpolitik des Kaiserreiches beschäftigt. 17 Ziebura war hell begeistert von dessen Ideen. In seinen Augen bewies Kehr, „wie fruchtbar der Rückgriff auf einen flexibel und intelligent eingesetzten Historischen Materialismus als Forschungsmethode sein konnte, der mit dem vorherrschenden vulgärmarxistischen [ ] Dogmatismus nichts zu tun hatte.“ 18 So orientierte sich auch Ziebura ab Ende der sechziger Jahre methodologisch am Historischen Materialismus, wurde aber nie Marxist, sondern entwickelte einen eigenen Ansatz, der Politik und Gesellschaftssystem eng miteinander verknüpfte, ohne in ökonomischen Determinismus zu verfallen. Rosenberg hatte endgültig über Fraenkel gesiegt. Eine wichtige Rolle bei dem theoretisch-methodologischen Reorientierungsprozess spielten die Theorie- und Methodendiskussionen mit den Mitarbeitern zweier Forschungsprojekte, die Ziebura leitete. Das erste Projekt befasste sich seit 1963 am Institut für Politische Wissenschaft, einem Forschungsinstitut der FU Berlin, mit dem Zusammenbruch des Versailler Systems angesichts der Remilitarisierung des Rheinlandes im März 1936. Bei diesem ging es ursprünglich um „Grundfragen demokratischer und totalitärer Außenpolitik“ durch einen Vergleich des außenpolitischen Handelns der damaligen europäischen Großmächte Deutschland, Italien, Frankreich und Großbritannien in den 30er Jahren. Dessen Antriebskräfte wurden sowohl in den Herrschaftssystemen als auch in den internationalen politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen gesucht. Im Verlaufe der Forschungsarbeiten verlagerte sich jedoch das Erkenntnisinteresse immer mehr auf die externen Bestimmungsfaktoren außen- und wirtschaftspolitischer Entscheidungen seit der großen Krise des Weltwirtschaftssystems von 1929. Nun ging es um die Interdependenz von Gesellschaftssystem, internationaler Verflechtung und außenpolitischem Handeln. Die einzelnen Länderstudien wurden zwar nicht von Ziebura zu einem 130 IIn memoriam Abschlussbericht zusammengefasst, sie dienten ihm jedoch zehn Jahre später als Grundlage für seine Arbeit Weltwirtschaft und Weltpolitik 1922/ 24-1931. 19 Das zweite Projekt war am Otto-Suhr-Institut der FU Berlin angesiedelt. Es diente der Vorbereitung eines Antrages auf Einrichtung eines Sonderforschungsbereichs über „Bestimmungsfaktoren der Außenpolitik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts“. In diesem sollten die von Ziebura und seinen Mitarbeitern entwickelten Fragestellungen theoretisch weiter entwickelt und empirisch überprüft werden. In einem langen, intensiven Reflexions- und Diskussionsprozess, an dem sich sowohl Marxisten als auch Nichtmarxisten beteiligten, entstand ein theoretisches Konzept, das in bewusster Abgrenzung von amerikanischen Ansätzen die weltgesellschaftlichen Machtverhältnisse, etwa in Gestalt der ungleichen, „gestuften“ internationalen Arbeitsteilung und der sich daraus ergebenden Interdependenz- und Dependenzverhältnisse, als entscheidende Determinante außenpolitischen Verhaltens in den Vordergrund stellte. Der SFB sollte so einen Beitrag zur Erarbeitung einer Theorie der Weltgesellschaft leisten. 20 Mit dieser Zielsetzung verstieß das Vorhaben gegen das damals im Kuratorium der FU vorherrschende Politik- und Wissenschaftsverständnis und wurde von dessen Vertretern abgelehnt. Wenngleich es daher nicht verwirklicht werden konnte, so hat es doch das wissenschaftliche Denken Zieburas nachhaltig geprägt und damit zu dessen theoretisch-methodologischer Entwicklung entscheidend beigetragen. Der sich seit Mitte der 60er Jahre anbahnende Paradigmenwechsel schlug sich auch in Zieburas Frankreichforschung nieder. 21 In seinem noch vor 1969 geschriebenen Essay über die deutsch-französischen Beziehungen seit 1945 kombinierte er politische Beziehungsgeschichte mit Wirtschaftsgeschichte, untersuchte aber nicht die politischen und sozialen Vermittlungsprozesse zwischen beiden. So erscheinen die deutsch-französischen Beziehungen trotz wachsender wirtschaftlicher Verflechtung noch primär als Werk politischer Akteure, der Elyséevertrag vor allem als Ergebnis der Verständigung von de Gaulle und Adenauer. 22 In seiner zwischen 1968 und 1970 verfassten Untersuchung der internen Faktoren des französischen Hochimperialismus der Jahre 1871-1914 bemühte sich Ziebura dagegen um eine gesamtgesellschaftliche Analyse. Er kam dabei zu dem Ergebnis, dass dieser primär von politischen und nicht von ökonomischen Antriebsfaktoren getragen wurde. Eine „strategische Clique“ aus Politikern, Publizisten und Ideologen habe die Kolonialexpansion als ein Mittel betrachtet, die innere Schwäche der französischen Gesellschaft auszugleichen und so in der europäischen Machtkonkurrenz, insbesondere mit Großbritannien und Deutschland, bestehen zu können. In den Augen ihrer Protagonisten sei sie ein Heilmittel gegen inneren Verfall und Fäulnis gewesen. Damit widerlegte Ziebura die klassischen ökonomischen Imperialismustheorien im Falle Frankreichs, obwohl auch er die ökonomischen Antriebskräfte als wichtig betrachtete. 23 In der gemeinsam mit seinem Schüler Heinz-Gerhard Haupt 1975 herausgegebenen Aufsatzsammlung Wirtschaft und Gesellschaft in Frankreich seit 1789 24 präzisierte er seinen gesamtgesellschaftlichen Ansatz. Sie enthielt wichtige 131 IIn memoriam Forschungsergebnisse französischer Historiker, vor allem der Annales-Schule, um damit die methodologischen und theoretischen Auseinandersetzungen innerhalb der französischen Geschichtswissenschaft dem deutschen Fachpublikum zugänglich zu machen. Die Textauswahl beruhte auf der Überzeugung, „daß eine Geschichte von Wirtschaft und Gesellschaft, die ihrem Anspruch gerecht werden soll, zwangsläufig Totalgeschichte sein muß, da Gesellschaft nur als integrale und integrierte Summe aller ihrer [ ] Segmente denkbar ist. Nur diese umfassende Vision erlaubt den Zugang zu dem, was man sehr wohl das ‚Bewegungsgesetz‘ einer Gesellschaft nennen kann, d.h. die ihr eigentümlichen inneren Strukturen und deren langzeitliche Entwicklungsmodalitäten.“ 25 Ziebura begründete diese Überzeugung mit dem Argument, das zentrale Merkmal moderner, d.h. durch die verschiedenen Etappen der Industrialisierung geprägten Gesellschaften sei die fortschreitende Interdependenz aller Lebensbereiche. Diese ließe sich nur durch einen interdisziplinären Zugang erfassen. Methodologisch legte er sich weder auf einen dialektisch-materialistischen noch auf einen strukturgeschichtlichen Ansatz fest. Entscheidend sei „der von Strukturhistorikern wie von Marxisten geführte „Kampf gegen die sachlich und theoretisch widersinnige Fraktionierung von Realitäten“. 26 Die Suche nach dem ‚Bewegungsgesetz‘ einer Gesellschaft war gewiss das Ergebnis rationalen wissenschaftlichen Erkenntnisstrebens, sie hatte aber auch eine religiöse Antriebskraft, die sich aus Zieburas Sozialisation ergab, die ihm schon früh den Glauben an eine allumfassende Urkraft vermittelte. Allerdings suchte er sie in der Politik nicht hoch im Himmel, sondern tief in der Gesellschaft. Zieburas theoretisch-methodologischer Wandel seit Mitte der 60er Jahre war eingebettet in sein Engagement für eine demokratische Reform von Staat und Gesellschaft, insbesondere der Universität, für eine Intensivierung der deutschfranzösischen Beziehungen und der europäischen Integration, für die Emanzipation der ‚Dritten Welt‘ sowie gegen den amerikanischen Vietnamkrieg. 27 Dies führte zusammen mit seinem Paradigmenwechsel zum Bruch mit seinem akademischen Lehrer Ernst Fraenkel, zum Zerwürfnis mit seinem langjährigen französischen Ansprechpartner Alfred Grosser und zur Entfremdung von seinen Fachkollegen. Es wurde einsam um ihn. Er verließ daher Berlin und zog zunächst an die Universität Konstanz, dann an die Universität Braunschweig. Dort beschäftigte er sich primär mit Weltpolitik. Außer zahlreichen Artikeln zeugen davon vor allem seine Monographie Weltwirtschaft und Weltpolitik 1922/ 24-1931. 28 Er blieb aber auch seiner alten Liebe, Frankreich und den deutsch-französischen Beziehungen, treu. So verfasste er eine Arbeit über die Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft in Frankreich nach 1789 und überarbeitete und aktualisierte seinen Essay von 1970 über die deutsch-französischen Beziehungen seit 1945. 29 Allerdings konnte er sich nicht aufraffen, eine seit langer Zeit von ihm erwartete Geschichte der deutsch-französischen Beziehungen seit 1870/ 71 zu schreiben. Er hatte das Zeug dazu. Es hätte die Krönung seines Lebenswerkes werden können. In seiner 1979 erschienenen Arbeit über die gesellschaftliche Entwicklung Frankreichs zwischen 1789 und 1870 präzisierte er in kritischer Auseinanderset- 132 IIn memoriam zung mit der von französischen Neomarxisten heftig geführten Debatte über den Begriff „Gesellschaftsformation“ seinen eigenen gesamtgesellschaftlichen Ansatz. Er wollte mit diesem „sowohl eine den Blick verengende strukturalistisch-deterministische wie eine an der Oberfläche der Phänomene verharrende positivistische Betrachtungsweise überwinden“. 30 Zentral in diesem war die These, dass die in einer Gesellschaftsformation vorherrschenden Widersprüche als treibende Kraft ihrer Entwicklung in dem durchaus variierenden Zusammenspiel der verschiedenen „Instanzen“ gesucht werden müsste, vornehmlich auf der Ebene der sozialen Verhältnisse als der entscheidenden Vermittlungsebene zwischen Ökonomie und Politik. 31 Ziebura beabsichtigte, auf der Grundlage dieser Konzeption eine Geschichte Frankreichs seit 1789 in drei Bänden zu schreiben. Erschienen ist jedoch nur der erste Band. Er wurde in der Fachwelt heftig kritisiert, in diskreter Form auch von Hans Rosenberg. Besonders dessen kritische Anmerkungen haben Ziebura hart getroffen. Trotzdem wollte er an dem Projekt festhalten. Da er die erforderliche Arbeit aufgrund seiner zahlreichen akademischen Verpflichtungen alleine nicht bewältigen konnte, suchte er einen kompetenten Mitarbeiter. Da er ihn nicht fand, schrieb er mehrere Aufsätze über den Themenbereich. Aus dem Scheitern seines Vorhabens zog er den Schluss, dass er mit seinem hohen theoretischen Anspruch in eine Sackgasse geraten sei. Um aus dieser herauszukommen, vermied er in Zukunft umfassende Großbegriffe, hielt aber an seinem gesamtgesellschaftlichen Anspruch fest. 32 Zieburas Weg von der Institutionenlehre zur Gesellschaftsanalyse war keineswegs so geradlinig, wie es rückblickend erscheinen mag. Gerade in der Übergangsphase Mitte der sechziger bis Anfang der siebziger Jahre hat er hart mit sich gerungen. Er beschäftigte sich kurzfristig mal mit dieser, mal mit jener Theorie, um sie dann jeweils schnell wieder zu verwerfen. Dies machte die Zusammenarbeit mit ihm nicht ganz einfach. Trotzdem hat er nachhaltige Spuren sowohl in der Frankreichforschung als auch in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Weltpolitik hinterlassen. Zur Bildung einer eigenen Schule ist es jedoch nicht gekommen. Zieburas wissenschaftlicher Werdegang war das Ergebnis einer permanenten Suche nach Erkenntnis, bei der Zufälle (Rosenbergs Gastprofessur, Frankreichkontakte), Zwänge (Lehr- und Publikationsverpflichtungen), Chancen (Frankreichaufenthalt und Forschungsprojekte) und Zeitumstände (Studentenrevolte, Theoriedebatten) eine wichtige Rolle gespielt haben. Aber letztlich zu verstehen ist er nur vor dem Hintergrund seiner Jugend im NS-Regime und des radikalen Bruches mit diesem 1944/ 46. Dabei brach er auch mit der Welt seines Elternhauses, hielt aber an seinem katholischen Glauben fest. Gesprochen hat er darüber mit seinen Mitarbeitern kaum. 33 Die radikale Ablehnung des Nationalstaates, die Hinwendung zu Frankreich und Europa, das Ringen um eine Vision, die Suche nach den „Dingen hinter den Dingen“, nach dem „Bewegungsgesetz“ der Gesellschaft, die Beschäftigung mit der Internationalisierung des Kapitals (Globalisierung) und der 133 IIn memoriam Weltpolitik waren Folgen dieses radikalen Bruchs. Öffentlich auseinandergesetzt hat er sich mit ihm erst im Alter. Er selbst war am Ende seines Schaffens fest überzeugt, ein Linksliberaler zu sein. 34 Aufgrund der zentralen Rolle, die der Katholizismus trotz seiner Entfremdung von der Amtskirche auf seine Persönlichkeitsstruktur ausgeübt hat, scheint die Charakterisierung als säkularer Linkskatholik treffender. 1 Cf. Schriftenverzeichnis, in: Hartmut Elsenhans et al. (ed.), Frankreich-Europa-Weltpolitik. Festschrift für Gilbert Ziebura, Opladen 1989, 559sqq. sowie www.gilbertziebura. de/ publikationen.html. 2 Cf. Gilbert Ziebura, Kritik der „Realpolitik“. Genese einer linksliberalen Vision der Weltgesellschaft. Autobiographie, Berlin 2009, 3-163. Fortan zitiert als Autobiographie. 3 Cf. Gerhard A. Ritter, Hans Herzfeld. Persönlichkeit und Werk, Berlin 1983. 4 Cf. Hans-Ulrich Wehler (ed.): Sozialgeschichte heute. Festschrift für Hans Rosenberg. Göttingen, 1974, Einleitung. 5 Gilbert Ziebura, Die Deutsche Frage in der Öffentlichen Meinung Frankreichs 1911- 1914, Berlin 1955. 6 Id., Autobiographie, 116. 7 Cf. ibid., 117-131. 8 Cf. ibid., 131sq. 9 Cf. Franz L. Neumann: Die Wissenschaft der Politik in der Demokratie, in: Schriftenreihe der deutschen Hochschule für Politik, Bd.1, Berlin 1950. 10 Cf. Hubertus Buchstein (ed.), Vom Sozialismus zum Pluralismus. Beiträge zu Werk und Leben Ernst Fraenkels, Baden-Baden 2000. 11 Gilbert Ziebura, Autobiographie, 138. 12 Ibid., 139sq. 13 Das französische Regierungssystem. Leitfaden, Quellenbuch, Köln und Opladen 1956 (Die Wissenschaft von der Politik; 3). 14 Gilbert Ziebura, Léon Blum. Theorie und Praxis einer sozialistischen Politik, Bd. 1: 1872- 1934, Berlin 1963. 15 Id., Autobiographie, 150. 16 Ibid. 17 Eckard Kehr, Schlachtflottenbau und Parteipolitik 1894-1901. Versuch eines Querschnitts durch die innenpolitischen, sozialen und ideologischen Voraussetzungen des deutschen Imperialismus, Berlin 1930 sowie id., Englandhaß und Weltpolitik. Eine Studie über die innenpolitischen und sozialen Grundlagen der deutschen Außenpolitik um die Jahrhundertwende, Berlin 1928. Abgedruckt in: Hans-Ulrich Wehler (ed.), Der Primat der Innenpolitik: Gesammelte Aufsätze zur preußisch-deutschen Sozialgeschichte im 19. u. 20. Jahrhundert, Berlin 1965, 149-175. 18 Gilbert Ziebura, Autobiographie, 244. 19 Id., Weltwirtschaft und Weltpolitik 1922/ 24-1931. Zwischen Rekonstruktion und Zusammenbruch, Frankfurt/ M. 1984 (Neue Historische Bibliothek. Es 1261). 20 Gilbert Ziebura, Franz Ansprenger, Gerhard Kiersch, Bestimmungsfaktoren der Außenpolitik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Forschungsstrategie und -programm eines Sonderforschungsbereichs, Berlin 1974 (Schriften des Fachbereichs Politische Wissenschaft der Freien Universität Berlin, Bd. 4). 21 Hans Manfred Bock, „Zur Konstituierung der sozialwissenschaftlichen Frankreich-Forschung in Deutschland“, in: Lothar Albertin et al. (ed.), Frankreich-Jahrbuch 1990, Opladen 1990, 223-234. Hans Manfred Bock, Adolf Kimmel, Henrik Uterwedde, Vom politi- 134 IIn memoriam schen System zur bürgerlichen Gesellschaftsformation. Gilbert Zieburas Beitrag zur Konstituierung der sozialwissenschaftlichen Frankreichforschung in der Bundesrepublik, in: Gilbert Ziebura, Frankreich, Geschichte, Gesellschaft, Politik. Ausgewählte Aufsätze, ed. Adolf Kimmel, Opladen 2003, 325-338. Adolf Kimmel, Gilbert Ziebura: seine Bedeutung für die deutsche sozialwissenschaftliche Frankreichforschung und seine Rolle in den zivilgesellschaftlichen deutsch-französischen Beziehungen, in: François Beilecke, Katja Marmetschke (ed.), Der Intellektuelle und der Mandarin. Für Hans Manfred Bock, Kassel 2005, 461-479. 22 Gilbert Ziebura, Die deutsch-französischen Beziehungen seit 1945. Mythen und Realitäten, Pfullingen 1970. 23 Id., „Interne Faktoren des französischen Hochimperialismus 1871-1914. Versuch einer gesamtgesellschaftlichen Analyse“, in: Wolfgang J. Mommsen (ed.), Der moderne Imperialismus, Stuttgart 1971, 85-139. 24 Id. (ed.), Wirtschaft und Gesellschaft in Frankreich seit 1789, Gütersloh 1975 (Neue Wissenschaftliche Bibliothek Geschichte). 25 Ibid., 11. 26 Ibid. 27 Cf. Gilbert Ziebura, Autobiographie, 163-273 28 Id., Weltwirtschaft und Weltpolitik 1922/ 24-1931. Zwischen Rekonstruktion und Zusammenbruch, Frankfurt/ M. 1984. 29 Id., Die deutsch-französischen Beziehungen seit 1945. Mythen und Realitäten. Überarbeitete und aktualisierte Neuausgabe, Stuttgart 1997. 30 Id., Frankreich 1789-1870. Entstehung einer bürgerlichen Gesellschaftsformation, Frankfurt/ New York 1979, Einleitung, 22sqq. 31 Ibid. 32 Gilbert Ziebura, Autobiographie, 290. 33 Der Autor dieses Beitrages kannte ihn seit seinem Studium an der Deutschen Hochschule für Politik in den Jahren 1954-1958 sowie als sein Mitarbeiter am Institut für Politische Wissenschaft sowie am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität in den Jahren 1963-1974. 34 Cf. Gilbert Ziebura, Autobiographie, 387sqq.