eJournals lendemains 38/149

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Narr Verlag Tübingen
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2013
38149

Erinnerungen an Rita Schober

2013
Horst Heintze
ldm381490097
97 IIn memoriam Horst Heintze Erinnerungen an Rita Schober Als Schüler Victor Klemperers denke ich an seine beliebte Wendung von den poche ma sentite parole, die Rita Schober wieder aufgriff, als sie ihrem Lehrer die Grabrede hielt. Es war ja sein Wunsch gewesen, dass sie als die älteste unter seinen Schülern und als adiutrix im Amt diese Aufgabe übernahm, und sie mag sich der verba magistri erinnert haben, um damit gewissermaßen als Exordium die Hörer auf das Lob des Verstorbenen einzustimmen. Wenige und gefühlvolle Worte wären wohl die eindrucksvollste Form des Gedenkens gewesen, wenn der Redner nicht die Pflicht hätte, die Verdienste des Toten hervorzuheben und zwar in dem Sinn, die dem Diktum de mortuis nil nisi bene entspricht, was ja nicht heißen soll, nur das bonum zu sagen, sondern eben bene, in guter gerechter Weise. Als einem homme de lettres widerstrebte Klemperer die Feiertagsrhetorik, aber als Literarhistoriker wurde er doch nicht müde, zum Lobe Voltaires zu reden und zu schreiben. Denn wie kann man kurz sein, wenn das Herz den Redner beredt macht? Rita Schober kam auch immer wieder auf ihren Lehrer zurück, von dem sie wusste, was sie ihm schuldig war. Das gilt als ein starkes Argument gegen die Wendung der poche ma sentite parole, deren ironischer Unterton den gläubigen Zweifler und Freigeist verrät, dem das Spiel Montaignes mit der Katze gefiel und der es erfahren hatte, wie schwer es ist, die Menschen mit ihrer inconstance in die Reihe zu bringen - à les r’appiesser et mettre à mesme lustre. 1 Versuchen wir es dennoch mit dem Hallenser Auftakt unserer romanistischen Geschichte. Im Mai des Jahres 1948 empfing die damalige Assistentin des verwaisten Seminars den Professor, um ihm als künftigem Ordinarius, bei dessen Wahl es in der Fakultät Widerstand gegeben hatte, die Räumlichkeiten und die Bibliothek zu zeigen, die sie nach deren Auslagerung wieder hergestellt hatte. 2 Dann saß man zu viert in dem winzigen Direktorzimmer, wo noch das Bild von Karl Voretzsch hing, Victor und Eva Klemperer mit Rita Hetzer und Robert Schober. Dieselbe Szene kann man in den leicht süffisanten Notizen von Klemperers Tagebuch (21. Mai 1948) nachlesen, die das Ereignis aus der Nähe eher trivial erscheinen lassen. Und doch war die Begegnung für beide von weitreichender Bedeutung. Klemperers Entschluss für Halle sollte das traditionsreiche Seminar von einer Hochburg der altfranzösischen Philologie in einen Hort der neueren französischen Autoren verwandeln, die beim alten Voretzsch noch in dem Regal der Unterhaltungsliteratur standen, soweit sie ins triviale 19. Jahrhundert gehörten. Eigentlich kam jetzt erst die Kopie der Houdon-Büste auf dem Regal zwischen den Büchern zur Geltung. Als Klemperer im Herbst-Semester 1948 seine Vorlesungen aufnahm, sprach er so beredt und eindringlich von dem Aufklärer, dass sich der Hörsaal bald mit Hörern aller Fakultäten füllte. Der Assistentin muss es solchen Eindruck ge- 98 IIn memoriam macht haben, dass sie sich Jahrzehnte später dazu bewogen fühlte, Klemperers Voltaire aus dem Dixhuitième mit Nachwort und Anmerkungen als eine Hommage an den Lehrer neu herauszugeben. 3 Freilich konnte die geborene Rita Tomaschek und Witwe des bei Leningrad gefallenen Kunsthistorikers Hetzer nicht die Prager Zeit vergessen, als sie bei den katholischen Schwestern wohnte und an der deutschen Universität studierte, wo sie eine solide sprachwissenschaftliche Ausbildung erhielt. Es waren gewiss dramatische Umstände, unter denen sie zur Promotion gelangte. Klemperer hat ihre Promotion nicht gelesen, wohl aber Werner Krauss. Den Glücksfall in Halle sollte die Assistentin mit Entschiedenheit wahrnehmen. Von ihrer literaturwissenschaftlichen Wende zeugt der Beitrag in der wissenschaftlichen Sammelschrift, den das Staatssekretariat für Hochschulwesen aus Anlass der dritten Weltfestspiele der Jugend und Studenten 1951 in Berlin herausgab: Wissenschaftler kämpfen für den Frieden. Renommierte Fachleute und Nationalpreisträger der DDR wie Theodor Frings, Wolfgang Steinitz, Johannes Herz oder Johannes Stroux waren dort vertreten, wenn sie auch nicht alle auf den aktuellen Anlass einen Bezug nahmen. Anders die Genossin Dr. Rita Schober, Assistentin und wiss. Nachwuchskraft, damals zeitweilig Mitarbeiterin der staatlichen Zentralstelle. Sie hatte sich ihr Thema - „Literaturwissenschaft und Kampf für den Frieden“ - auf die Fahne geschrieben. Die theoretische Weihe sollte ihr auf dem Lehrgang für angehende Dozenten des historischen und dialektischen Materialismus an der Parteihochschule in Klein- Machnow zuteil werden, zusammen mit Georg Klaus und Georg Mende (der mich in der Prüfung über Gegenwartsprobleme beinahe durchfallen ließ) und mit Kurt Hager. Auf der Hakeburg kam die dialektische Erleuchtung über sie: - Ich hatte bisher gelernt, in linearen Kausalketten zu denken, und meine Vorliebe in der Schule für Latein und Mathematik entsprach vielleicht auch diesem Hang zur formalen Logik. - Mit der Dialektik ging es mir wie dem Märchenprinzen mit dem Eisberg. Ich rutschte immer ab. Der Durchbruch kam eigentlich erst, als ich nach mehr als zwanzig Versuchen Hegels Einleitung zur Phänomenologie begriffen hatte. Wer die Energie und den Fleiß ihrer Person kennt, wird der späten Versicherung höchstens eine bescheidene Übertreibung unterstellen. Das Ereignis hob sie noch in der Erwiderung auf die Laudatio zur Verleihung der Ehrendoktorwürde durch die Humboldt-Universität zu Berlin im Jahr 1988 hervor: Das Eindringen in die Schriften der Klassiker hat mir buchstäblich eine neue Welt erschlossen. 4 Ich erhielt die Broschüre mit der Fackel und dem geöffneten Buch von ihr mit der Widmung: Meinem lieben Studienkollegen u. Seminarmitarbeiter. 4.8.51. Die Botschaft vom Freund und Feind im Friedenskampf hörte ich wohl: Auf der Seite des Friedenslagers unter der Führung der Sowjetunion eine Literatur, die mit allen ihr zu Gebote stehenden Mitteln die fortschrittliche, gesellschaftliche Entwicklung ihrer Länder fördert, und in den vom USA-Imperialismus beherrschten Ländern als Ausdruck der herrschenden Klasse eine Literatur, die im letzten alle auf Zerstörung und Vernichtung abzielenden Tendenzen verherrlicht und neben ihr, im Kampf gegen sie, eine fortschrittliche Literatur in diesen Ländern, deren Bedeu- 99 IIn memoriam tung und positive Wirkung von Tag zu Tag zunimmt. Was ich wenn auch weniger geschult mit ihr teilte, war die Begeisterung für das Treffen in der schwer zerstörten Hauptstadt der DDR, bei dem ich die starke französische Delegation als Dolmetscher jene vierzehn Tage - im August, im August blühn die Rosen - begleitete. Wir zogen singend durch die Straßen: Nous sommes la jeune garde. Nous sommes les gars de l’avenir. Auf dem Marx-Engels-Platz begrüßte der alte Präsident Wilhelm Piek die Jugend aller Nationen und bei jeder Gelegenheit ertönte der vielsprachige Gesang, den unser Lehrer als echte Stimme der Völker in Liedern würdigte. 5 Es war die Hoffnung auf eine wahrhaft demokratische deutsche Republik in einer internationalistischen Welt des Friedens, die uns verband, wie verschieden die Propaganda im Osten und Westen das Ereignis auch auslegte. 6 Für einen historisch-dialektisch geschulten Marxisten verstand es sich, dass die Forderung des Tages in einen größeren Zusammenhang gehörte. Also ging die Autorin von der Gegenwart in das französische 19. Jahrhundert zurück und berief sich auf George Sand (die ihr Klemperer zur Habilitation vorgeschlagen hatte). Dieser engagierten Vorkämpferin der Emanzipation stellte sie den Hüter der impassibilité Gustave Flaubert gegenüber, für den die Kunst reiner Selbstzweck bedeute. In beiden sah sie den Gegensatz von Tendenz und L’art pour l’art (ein Thema, das mir Klemperer in der französischen Klausur gestellt hatte) verkörpert. Die Sand sprach ihr aus dem Herzen: Man muss ein Narr an Leichtgläubigkeit sein, um sich über den gewaltigen Einfluss gewisser Dichter auf ihre Zeit zu wundern, während es doch ganz selbstverständlich ist, dass die Zeit ihren machtvollen Einfluss auf ihre dichterischen Hirne fühlbar werden läßt. Es solle sich niemand vor der Tendenz scheuen, wenn sie dem Fortschritt und dem Frieden diente. Der Krieg ist niemals ein Instrument des Lebens. Aber - fährt sie fort -, der Glaube, dass man ihn verhindern kann, ist keine Utopie. Der Traum von der Zusammenarbeit der Völker ist von seiner Verwirklichung nicht so weit entfernt, wie man glaubt. Vielmehr wird sie das Werk des 20. Jahrhunderts sein. Sprach solches Zeugnis für die historische Verwurzelung der Friedensidee, so stellte sich der gegenwärtigen Literaturwissenschaft die Aufgabe, den (bürgerlichen) Theorien vom Selbstzweck der Literatur entgegenzutreten. In diesem Sinn hatte Werner Krauss seine Literaturgeschichte als geschichtlicher Auftrag verfasst, auf die sich die Autorin berief, als sie Benedetto Croce des Idealismus und Ästhetizismus zieh. Der Ästhetiker habe die Bedeutung des Realisten Balzac gröblich verkannt, als er dessen Eugénie Grandet analysierte: Balzacs angeblich künstlerisches Versagen wird mit dem „alle Probleme lösenden Zauberwort“ der „disposizione psicologica“ erklärt. Diese Flucht in einen irrational gefassten Psychologismus kommt einer Selbstaufgabe der Wissenschaft gleich. Ob ihr Lehrer diese Sätze gelesen hat, weiß ich nicht. Er teilte ihre Begeisterung für den Frieden und die Sowjetunion, aber als Literarhistoriker war er doch zu erfahren, um auf die eine einzige Methode zu schwören. Im Glauben an die gesellschaftliche Determiniertheit des Individuums stecke doch auch Metaphysik, erklärte er geradezu verzweifelt. So waren der Meister und Rita in ihrer Methode auf friedliche Koexistenz 100 IIn memoriam angewiesen. Sein sensibles Verhältnis zur Sprache sollte ihr stets ein Beispiel sein, doch in der Auffassung von der Literatur gingen sie getrennte Wege. Er sei eben kein Marxist, räumte sie ein, sondern von der (bürgerlichen) Kultur des 19. Jahrhunderts geprägt. Seinen Hallenser Kreis, zu dem auch Hans Klare gehörte, hat Klemperer mit nach Berlin genommen, als er an die Humboldt-Universität berufen wurde. Dort mussten wir uns auf die Veränderungen einstellen, die durch die II. Hochschulreform in Gang gesetzt wurden. Die Romanisten sollten mit Krauss und Klemperer ein großes literaturwissenschaftliches Institut bilden. Es wäre wohl eine Gelegenheit gewesen, die zwei Koryphäen des Faches in sinnvoller Arbeitsteilung zusammen zu bringen. Aber das sollte selbst Rita Schobers Energie nicht gelingen. Sie erhielt unter Klemperer einen Lehrstuhl und wurde schließlich seine Nachfolgerin, wobei sie es sich zum Ziel setzte, die Romanistik mit allen ihren Fächern auszubauen (was insbesondere für die Lateinamerikanistik galt, aber mir gleichfalls zugute kam - nach dem Tod Klemperers, dem ich in Halle zur Seite stand, rief sie mich nach Berlin zurück und übertrug mir die italienische Abteilung). Im Gegensatz zu Klemperer, der seinen Mitarbeitern völlig freie Hand ließ, ohne sich groß um ihre Angelegenheiten zu kümmern, lenkte sie das Institut mit matriarchalischer Strenge, so dass ich wohl die Liberalität meines Lehrers vermisste, aber doch auch sah, wie sich die einzelnen Fächer entwickeln konnten, die Sprachwissenschaft unter Hans Klare und die Lateinamerikanistik unter Hans Otto Dill und ich mit der kleinen Italianistik. Gewiss förderte das internationale Ansehen der Institutsdirektorin in der SED-Kreisleitung die Ziele des Instituts. Revenons à nos moutons, das heißt auf die französische Literaturgeschichte als Gegenstand des Literaturwissenschaftlers. Die schließliche Habilitationsschrift Emile Zolas Theorie des naturalistischen Romans und das Problem des Realismus von 1954 habe ich zwar gelesen, doch ohne deren methodische und theoretische Tragweite zu würdigen. Gerade Zola, gegen dessen Naturalismus Georg Lukács (und schon Engels) polemisierten, sollte ihr zum Prüfstein für den Realismus- Begriff in sozialer wie in künstlerischer Hinsicht werden. Als Krönung ihrer Analyse kann man die Ausgabe der Rougon-Macquart in deutscher Übersetzung ansehen, die 1967 bei Rütten und Loening und 1975 im Winkler-Verlag erschienen ist. Wie viel geduldige Arbeit hinter einem solchen Unternehmen steckt, wird ermessen können, wer sich je selbst an ein Großprojekt dieser Art gewagt hat, aber es gibt dafür auch kaum eine größere Befriedigung als solch ein Unternehmen im Dienst eines großen Werkes. Die zwanzig Bände haben bei mir in Berlin im Bücherregal gestanden, bis ich sie in ein Antiquariat gab, weil ich meinte, keinen Platz mehr dafür zu haben - bei Dante müsste ich dafür mit den Trägen und Lauen im Purgatorium büßen. 7 Eifriger war ich dagegen bei ihren literaturwissenschaftlichen Arbeiten, die ein kleines Fach im Regal ausfüllen. Den Anfang machten die Skizzen zur Literaturtheorie. 8 Über den Titel habe ich mich mokiert. Verlangte eine Theorie nicht ein geschlossenes Bild, das die Erfahrung aus der Praxis zusammenfasste? Die Autorin meinte 101 IIn memoriam es anders, als eine Art Litotes, rhetorische Herabsetzung, denn die Analyse des Germinal war gewiss keine bloße Skizze. Auch hielt sie eine gewisse Vorsicht für geraten, beim Ausgang vom gesellschaftlichen Standort des Werkes nicht durch polemisches Überbetonen des Sozialen die künstlerische Seite zu vernachlässigen. Wichtig erschien ihr am Germinal vor allem der Nachweis, wie sich im Werk eines Künstlers Wahrheit und Wirklichkeit wechselseitig bedingen. Dem Naturalisten, der die sozialen Probleme vor Augen hatte, korrigierte sich die Vorstellungswelt in Wahrheit durch die Wirklichkeit, auch ohne dass er schon einen Begriff vom wahren historisch und dialektisch bedingten Wesen der Realität hatte. In diesem Sinn konnte der Realismus triumphieren. - Hier hatte der Fahnenträger des französischen Naturalismus ein Werk von so elementarer realistischer Kraft geschaffen, daß darüber seine abwegigen Theorien zerbrachen... Dieses Urteil umschloss die Charaktere so gut wie die Sprache und ihre Klangfärbung, wie sie das Ende des Streikumzugs der Grubenarbeiter mit düsteren Tönen bestimmte: le soleil se couchait, les derniers rayons, d’un poupre sombre, ensanglantaient la plaine. 9 Mich sollte freilich die freundliche Widmung mit herzlichem Dank für die Boileau- Hilfe im Jänner 1957 nicht hindern, meine kritischen Bemerkungen an den Rand des Exemplars zu kritzeln. An der Kennerschaft der Zola-Spezialistin konnte ich nicht zweifeln. Aber mir schien, dass sie um der Theorie willen dem Spontanen und der Einbildungskraft zu wenig Raum gegeben hatte, wie einmal Giacomo Leopardi die deutschen Gelehrten schlechthin kritisiert hatte: Questi tedeschi sempre bisognosi di analisi, di discussione, di esattezza... 10 Nun war die Genauigkeit vielmehr eine Tugend der Hochschullehrerin, die in ihren Analysen durchaus auch das Moment der Empfindung und Vorstellungskraft im Auge gehabt hatte. Mein Widerspruch erklärt sich vielmehr als ein Gegensatz im Stilgefühl. Dem Bedürfnis der Autorin nach exakter Bestimmung widersprach meine Neigung zur Ambivalenz. Beeindruckte mich ihre Intelligenz und analytische Begabung, so stieß ich mich an der Systematik ihrer Schreibweise. Hin- und hergerissen hätte ich mit Catull poetisch sagen können: Odi et amo. Quare id faciam fortasse requiris. / Nescio. Sed fieri sentio et excrucior. Es bedurfte wohl der zunehmenden Gelassenheit des Alters, um einsehen zu lernen, wie gut wir uns im Widerspruch hätten ergänzen können. Bis dahin war die Wetterlage wechselhaft, aber wir haben auch die Tiefs überstanden. Als ich 1956 mit Erwin Silzer die Klemperer-Festschrift Im Dienste der Sprache vorbereitete, standen wir ziemlich weit auseinander. Erst auf die Intervention des Jubilars hin schickte sie einen Beitrag zu den Hauptrichtungen in der modernen vergleichenden Literaturwissenschaft, der ihren weiten Überblick erkennen ließ. Indessen mag ihr der Titel (der vom Verleger stammte und dem Adressaten nicht gefallen wollte) wieder in Erinnerung gekommen sein, als sie ihre Streitschrift wider die Moderne in der Kritik veröffentlichte: Im Banne der Sprache - Strukturalismus in der Nouvelle Critique. 11 Dachte die in Prag linguistisch geprägte Romanistin auch an die eigene Erfahrung? Diesmal ging es um die humanistische Position in der Literaturwissenschaft, die sich gegen die Vorherrschaft von langage und écri- 102 IIn memoriam ture im Schaffensprozess zur Wehr setzte. Erklärte doch Michel Foucault, der Wortführer der Nouvelle Critique, ausdrücklich, man müsse sich des Humanismus als des am meisten belastenden Erbes des 19. Jahrhunderts entledigen. 12 Der Ausdruck mochte einem Bannspruch gleichen. Für Rita Schober kam darin eine Verwechslung zum Ausdruck, die von der bloßen Möglichkeit einer formalisierten Darstellung bestimmter konkreter Vorgänge auf die Aufhebung von Konkretheit schlechthin schloss. 13 In schönster Blüte zeigte sich die konstruktive Seite der Realismus-Theorie in dem letzten Essayband Rita Schobers, der in der noch heilen DDR erschien: Vom Sinn oder Unsinn der Literaturwissenschaft 14 (ich hätte statt der Alternative die Koexistenz gewählt). Wenn „Sinn“ die Weise betrifft, wie wir zu dem Objekt unseres Bemühens stehen, dann musste es für sie bedeuten, dass die von ihr vertretene Sicht der Literaturwissenschaft sinnvoll war. 15 Ich erhielt das Buch, das einen bunt gestrichenen Pegasus zeigt, mit dem Gruß: Meinem Horst zum 65.! sehr herzlich in alter Freundschaft! 13.6.-29.6.1988. Die beiden Geburtstagsdaten markierten für uns gewissermaßen einen historischen Abschnitt, in dem sich die DDR- Verhältnisse noch von selbst verstanden. Die gemeinsam geteilte Vergangenheit reichte bis in die Zeit vor Klemperer zurück, als das Häuflein Hallenser Romanistikstudenten bei Rita Hetzer altfranzösische Lektüre betrieb und die Lais der Marie de France übersetzte (es ist mir peinlich in Erinnerung, wie schlecht ich einmal damit zurechtkam; ich dachte, jetzt müsste sie mich rausschmeißen, aber es blieb bei der freundschaftlichen Atmosphäre). Als Studenten haben wir auch mit ihr über das Ding an sich diskutiert, von dem wir bei dem Kantianer Paul Menzer gehört hatten (dem man schnell einen schmählichen Abgang bereitete). Als die Rita ihren Robert heiratete, zogen die Unentwegten mit einem Handwagen voller Scherben durch die Stadt vor die Wohnung der Verlobten, um ihnen einen Polterabend zu veranstalten. In Berlin setzte sich das eher familiäre Verhältnis zu viert fort, Rita mit ihrem zweiten Mann, der Opfer des Faschismus war und Mitarbeiter des ZK, und ich mit meiner aus beider sudentendeutscher Heimat stammenden Frau Edith. Als Schobers ihre Datsche am See von Prieros erworben hatten, waren wir oftmals zu Gast. Dorthin zogen wir uns auch im Jahr 1965 zu einer Klausur zurück, damit wir in Ruhe die Konzeption der internationalen Dante-Konferenz in Berlin vorbereiten konnten, auf der Rita als Vorsitzende des Dante-Komitees der DDR den Festvortrag im Apollo-Saal der Staatsoper halten sollte. Mit ihr habe ich auch die erste Paris-Reise unternommen. Bei dieser Gelegenheit empfing uns der Kenner des Seizième Antoine Adam in seiner Wohnung im Stil Louis Quatorze. Da waren wir beide noch Neulinge auf dem Feld internationaler Kontakte, aber sehr bald zeigte sie sich bestens auf wissenschaftliche Tagungen vorbereitet. Ich glaube, sie hat noch jedes Mal die Nacht vor ihrem Vortrag mit dem letzten Schliff an der Rede zugebracht. Auch in den Kolloquien war ihre Stimme von Gewicht, so als sie mit ihrem Mitarbeiter-Stab an den Veranstaltungen ihres Freundes Jan Fischer in Prag oder im Schloss von Liblice auftrat - wo 1962 die Kafka-Konferenz stattfand, an 103 IIn memoriam deren Folgen wir lange zu beißen hatten. Daneben unternahmen wir auch zwei größere Urlaubsreisen gemeinsam. Als wir 1968 von der Tatra auf getrennten Wegen zurück fuhren, begegneten wir den sowjetischen Panzern, die gegen den Prager Frühling anrückten. In Berlin kam schließlich die III. Hochschulreform über uns, die zur Auflösung der Institute und ihre Umwandlung in Sektionen führte. Es ist die Institutsdirektorin hart angekommen, mit ansehen zu müssen, wie ihre Partei die akademische Autorität durch bürokratische Zentralisierung ersetzte. War sie doch von deren Würde und Wert überzeugt und wenn sie im Aufzug der Professores durch die Menge der Studenten schritt, stand ihrer eleganten Erscheinung der Talar gut. Manche haben ihr das als Hochmut ausgelegt. Wer indes die Sorge der roten Rita um ihre Mitarbeiter erfahren hatte, der konnte wie Marc Antonius auf der Leichenfeier des berühmten Toten fragen: Wenn Arme zu ihm schrien, so weinte Caesar; die Herrschsucht sollt aus härterm Stoff bestehn, doch Brutus sagt, daß er voll Herrschsucht war... 16 Sie ließ sich nicht unterkriegen und erreichte es schließlich mit ihrem starken Willen, die Romanistik aus der Mammutsektion Philologien- Germanistik herauszulösen. Da war sie schon Dekanin einer ebenso aufgeblähten gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät mit Ökonomen, Juristen und Kriminologen. Man kannte ihren Namen an der Universität so gut wie in den Kreisen der Kollegen. Es hat sie gewiss befriedigt, auf dem Weltkongress für Philosophie 1983 in Montreal einen der Plenarvorträge halten zu können, in dem es um das Verhältnis Zivilisation und Kultur ging, ein Thema, über das wir schon bei Klemperer im Hallenser Seminar diskutiert hatten. Was sie freilich nicht ändern konnte, war das Problem der Ausgrenzung. Wir waren die Privilegierten, die ins kapitalistische Ausland fuhren. Für die meisten Mitarbeiter und Studenten aber galt, was Goethes Faust in einem etwas anderen Sinn meinte: Nach drüben ist die Aussicht uns verrannt; Tor, wer dorthin die Augen blinzelnd richtet..., denn der konnte noch nicht wissen, dass drüben der Westen bedeutete. 17 Als es mit der DDR zu Ende ging und sich die Sonne senkte, aber glücklicherweise nicht blutig rot, machte jeder auf seine Weise die Erfahrung mit der neuen Realität. Die Philosophen, so hatte es deren einstiger Student seiner Berliner Universität in denkmalgeschützten Lettern an die Wand des Foyers geschrieben, hätten die Welt nur verschieden interpretiert, es käme aber darauf an, sie zu verändern. Wie immer man den Satz auslegen mag: Die Welt veränderte sich und ihre Interpreten mussten sie anders interpretieren. Als die Veränderungen eintraten, die wir die Wende nennen (bei Klemperer gehörte das Wort zur LTI), waren wir beide schon emeritiert, aber ziemlich auseinander geraten. Mich belastete die Erinnerung an die Zeiten der ‚internen Aussprachen‘. Sie beklagte meine mangelnde Solidarität. Traurig war es für beide Seiten, als wir uns am Grab ihres zweiten Mannes wiedersahen, den der Rücktritt des ZK und seine Folgen bitter getroffen haben musste. Es ist müßig, scheint mir, im Nachhinein das bonum und malum auf die Waage der Gerechtigkeit legen zu wollen. Sie fand gute Freunde, die ihr mit Verständnis 104 IIn memoriam begegneten, und eine getreue Lebensgefährtin, die in das Haus am Fritz-Erpenbek-Ring einzog, und sie brachte die Kraft auf, ihre Studien und Analysen fortzusetzen. Als ein brillantes Zeugnis dafür steht das programmatische Alterswerk von 2003, die Essay-Sammlung Auf dem Prüfstand. Zola-Houllebecq-Klemperer. Der Prüfstand galt der eigenen Methode und sollte sich an Zola und am activisme destructeur eines der Neusten unter den Franzosen bewähren. Winfried Engler hat dazu eine Einleitung geschrieben, die gedrängt auf die wesentlichen Aspekte des Werdens und Ausdauerns im Streben der engagierten Literaturwissenschaftlerin hinauslief. 18 Er wird mir verzeihen, wenn ich ihm nicht immer folgen kann. Ich bekam ein Exemplar, dessen Widmung die eingenommene Distanzierung erkennen ließ: Für Horst Heintze mit den herzlichsten Glückwünschen zum 80. Geburtstag - „con molti auguri“ für die erfolgreiche Vollendung der Morgante-Übersetzung. Freilich sind wir auch über diese ‚Spätlese‘ kaum ins Gespräch gekommen. Zu ihrem 90. Geburtstag, zu dem ihm die von ihr mitgegründete Leibniz-Sozietät und ihre Schüler Hans-Otto Dill und Gerhard Schewe eine würdige Feier im Senatssaal bereiteten, konnte ich nicht mehr als ein Sonett für die Festschrift beitragen, die ihr als Einzelexemplar überreicht wurde. Reminiszenz Wir kennen uns seit einundsechzig Jahren und ganz am Anfang war die Poesie, als wir die Verse lasen der Marie de France und deine ersten Schüler waren. Mit Dir sind wir nach Budapest gefahren, nach Prag, Paris und Leningrad sowie nach Prieros in die Laubenkolonie, als wir mit Kräften brauchten nicht zu sparen. Und wir uns leisten konnten ohne Hektik das Alte mit dem Neuen zu verbinden, den Spuren folgend Marxscher Dialektik und was Methode heiße zu ergründen, auch wie die Kunst vereinbar mit der Technik, und ob das Nirgends irgendwo zu finden. Es ist ihr danach bitteres Leid nicht erspart geblieben. Die Last des Alters, der Abschied von vertrauten Mitarbeitern und Weggefährten und unfasslich die Krankheit und der Tod ihres einzigen Kindes. Wir haben an alledem Anteil gehabt, so wie sie an unserer Arbeit, den erheiternden Morgante. Als wir von Berlin aufbrachen, um nach Thüringen zu ziehen, protestierte sie heftig dagegen. So blieben uns zur Verbindung nur noch die Korrespondenz und das Telefon. Zweimal konnten wir sie noch in ihrem Haus in Pankow besuchen, das letzte Mal im vergangenen Sommer. Da saßen wir mit ihr und Ilse Ennig auf der Terrasse und führten friedvolle Reden. 105 IIn memoriam Sie sprach über ihre Sorge, dass uns die Sprache, die den Gedanken formt, erhalten bleibe. 19 Ich verstand es im Sinn eines Humanismus, dem die gestaltende Kraft der Rede am Herzen liegt, sogar einer geheime Liebe zur Poesie jenseits aller wissenschaftlichen Analysen. Welche Kraftanstrengungen sie über die Jahre aufgebracht hatte, um sich auf den Prüfstand zu stellen, darüber hat Winfrid Engler an ihrem Begräbnis, zu dem ich nicht kommen konnte, nicht nur die poche ma sentite parole gesprochen. Mir scheint es dem eigenen Decorum zu entsprechen, der Trauer in der biblisch-antiken Totenklage des Dichters Angelo Poliziano Ausdruck zu geben, die er zum Tode seines Lorenzo Magnifico verfasste, auch wenn, wie mir Wolfgang Asholt schrieb, nicht mehr viele Lorbeerbäume übrig geblieben seien: Quis dabit capiti meo aquam, quis oculis meis fontem lachymarum dabit, ut nocte fleam, ut luce fleam? Sic turtur viduus solet sic cycnus moriens solet, sic luscinia conqueri. Heu miser, miser! O dolor, dolor! Laurus impetu fulminis illa illa iacit subito .... Diese Trenodia hat Heinrich Isaac vertont und sie wurde in der Kirche Santa Reparata aufgeführt. 20 Ich denke, sie hätte der Verstorbenen gefallen. Ist es ein Wunder, wenn der Mensch im hohen Alter zu den Eindrücken und Gefühlen seiner Kindheit und Jugend zurückkehrt? Rita Tomaschek ist katholisch getauft und gefirmt. Sie hätte sich eine Bestattung nach lateinischem Ritus gewünscht. So holt die Vergangenheit das erfüllte Leben ein. 1 Michel de Montaigne, Essais, Livre second, Chapitre I. 2 Siehe dazu die Darstellung in dem Klemperer gewidmeten Teil von Auf dem Prüfstand: Zola-Houellebecq-Klemperer, Berlin, edition tranvía, 2003, 303sqq. 3 Victor Klemperer, Voltaire, Berlin, edition tranvía, 2004. 4 In: Günter Hellriegel (ed.), Realität, Fiktion und Realismus in der französischen Literatur des 20. Jahrhunderts, Berlin, Humboldt-Universität, 1989 (Gesellschaftswissenschaften; 1,8). 5 Wahrhaft weltumspannende Lieder sind bei dem friedlichen Treffen der Jugend und Studenten aller Nationen in Berlin oder beim Weltstudentenkongress erklungen, heißt es in dem roten Büchlein Der alte und der neue Humanismus. Siehe auch den letzten Absatz 106 IIn memoriam von „Französische Lyrik der Gegenwart“, in: Victor Klemperer, Vor 33 - nach 45, Berlin, Akademie-Verlag, 1956, 218-223. 6 Einen geheimen Schatten sah ich freilich auf das schöne Bild fallen. Zur Gruppe der Betreuer gehörte auch ein Angehöriger des MfS. 7 O gente in cui fervore aguto adesso / ricompie forse negligenza e indugio / da voi per tepidezza in ben far messo (Purgatorio, Canto XVIII). 8 Berlin, Deutscher Verlag der Wissenschaften, 1956. 9 Vergleiche Rimbauds A noir, E blanc, I rouge, U vert, O bleu in den „Voyelles“. 10 Siehe Alessandro Costazza, „Questi tedeschi sempre bisognosi di analisi, di discussione, di esattezza. Leopardi und die deutsche Philosophie und Ästhetik des 18. Jahrhunderts“, in: Ginestra 12/ 2002, 9-28. 11 Halle/ Saale, Mitteldeutscher Verlag, 1968. Mit der Widmung: Meinem lieben Horst in sehr herzlicher Freundschaft. 12 Michel Foucault, „Absage an Sartre. Interview mit Madeleine Chapsal. Mai 1966“, in: Günther Schiwy, Der französische Strukturalismus, Reinbek, Rowohlt, 1969, 205sq. 13 Wir waren im Rahmen eines Seminars zur wissenschaftlichen Weiterbildung am Romanischen Institut an den Diskussionen beteiligt. 14 Halle/ Leipzig, Mitteldeutscher Verlag, 1988. 15 Siehe Herbert Schnädelbach, Was Philosophen wissen und was man von ihnen lernen kann, München, C. H. Beck, 2012. 16 Shakespeare, Julius Caesar, III, 2. 17 Zweiter Teil, V. Akt. 18 „Von Spätlesen und anderen Genüssen“ (Auf dem Prüfstand: Zola-Houellebecq- Klemperer, loc. cit., 7-14). 19 Siehe dazu Herbert Schnädelbach: Tatsächlich ist im Erkenntnisbereich die Wortsprache unhintergehbar, denn nur sie sichert die Verständlichkeit und Überprüfbarkeit von Erkenntnisansprüchen (loc. cit., Ende Kapitel 7). 20 Siehe Jean-Louis Charlet, „Le Thrène de Politien pour la mort du Magnifique (Ode 11 in Laurentium Medicem)“, in: Protrepticon. Studi di letteratura classica e umanistica in onore di Giovannangiola Secchi Tarugi, hg. v. S. Prete, Mailand, Istituto Francesco Petrarca, 1989, 29-34.