eJournals lendemains 38/149

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Narr Verlag Tübingen
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2013
38149

"L'autofiction [...] un geste politique"? Poetik und Politik der Autofiktion im Zeitalter des Storytelling

2013
Martina Stemberger
ldm381490029
29 DDossier Martina Stemberger „L’autofiction [ ] un geste politique“? Poetik und Politik der Autofiktion im Zeitalter des Storytelling Einleitung: Von Schriftstellern und Storytellern „Aujourd’hui il y a des histoires partout [ ]“, konstatiert Frédéric Beigbeder (zit. Durand 2008: 64): „Il y a trop d’histoires fausses qui nous ennuient: toute la journée, partout, des fictions tentent de nous arracher à notre torpeur“ (Beigbeder 2008: 48) wobei er auch die Frage nach Status und Funktion der Literatur im Zeitalter der universalisierten Narratomanie aufwirft: „Quelle est la place du roman [ ] dans cette époque qui croule sous le ‚storytelling‘? “ (Beigbeder 2011: 14; cf. auch Durand 2008: 64). Eine gewisse Irritation angesichts der mit dem Phänomen Storytelling (Salmon [2010: 222sq.] zufolge „un concept multiforme et nomade“, ein Ensemble diskursiver Praktiken bzw. eine Technik der Diskurs-Formatierung, aber auch ein Dispositiv im Sinne Foucaults) verbundenen Ausweitung der narrativen Kampfzone, ein gewisser Überdruss angesichts einer ungeahnten Inflation von non-literarischen Stories ist auch bei anderen Protagonisten der zeitgenössischen französischen Literaturszene unverkennbar. Kein Geringerer als Michel Houellebecq meldet sich als Anti-Storyteller zu Wort: „ça m’a toujours fait chier de raconter des histoires, je n’ai absolument aucun talent de conteur (de storyteller, pour reprendre un mot plus récent)“ (Houellebecq/ Lévy 2008: 266). Kurz: Die Literatur bleibt von der „nouvelle doxa narrative“ (Salmon 2007: 99) nicht unberührt. In der Ära des StoryTelling - StorySelling (cf. Posner-Landsch 2007) stellt sich die brisante Frage, ob die literarische Fiktion gegenüber den „fictions utiles“ (Salmon 2010: 88) aus Politik, Wirtschaft und Werbung über Strategien gesellschaftlich potentiell relevanter Kritik oder sogar des Widerstands verfügt, ob die kritische „contre-narration“ (ibid.: 213) nicht ihrerseits vereinnahmt zu werden droht. Auf das gute Geschäft mit der menschlichen „Fiktionsbedürftigkeit“ (Iser 1993: 16) scheint die Literatur des extrême contemporain mit einer Problematisierung der allzu gut gemachten Story, der narrativen Autorität und der Erzählinstanz zu antworten; mit Strategien metadiskursiver Reflexion, die explizit auf die massive Narrativisierung der Gesellschaft außerhalb des literarischen Feldes reagieren. Autofiktion: Mainstream oder Anti-Storytelling? Gerade die Autofiktion als nach wie vor kontroverses Genre 1 sieht sich im Zeitalter des Storytelling mit erhöhtem Selbstreflexions- und -legitimationsbedarf konfrontiert, zwischen der Selbsterzählung als Befriedigung eines hegemonialen Narrato- 30 DDossier Konformismus und dem seit Doubrovsky im Diskurs der „écrivains autofictionnaires“ 2 präsenten Anspruch auf ‚Transgression‘ und ‚Subversion‘ (cf. Jeannelle 2011: 57, 62) - kurz, mit der Frage: (Sich) erzählen, mit dem oder gegen den Mainstream einer per se narratophilen Epoche? Die Ambivalenzen sowohl des Storytelling als auch der Autofiktion scheinen einander zu potenzieren, wobei Letztere auch in diesem neuen Kontext als mögliche Praxis diskursiven Widerstands reflektiert wird. Doch wie ist es tatsächlich um das subversive Potential der Autofiktion in der Ära des Storytelling bestellt? „Exhibition. Étalage. Narcissisme. Nombrilisme. Individualisme. Égocentrisme. Prétention. Repli sur soi. Sclérose. Indifférence au monde. Indolence face aux choses sociales. Désaffection du politique. Autofiction: syndrome néolibéralisme, sœur aînée processus télé-réalité“ - so fasst Chloé Delaume (2010: 28) die Litanei jener Vorwürfe zusammen, die gegenüber der Autofiktion artikuliert wurden und werden. Bei allem Streben nach Défense (et illustration) eines als ‚narzisstisch‘ verschrienen Genres übersieht auch Vilain (2005: 44sq.) nicht den heiklen Status autobiographischen bzw. autofiktionalen Schreibens in der „société reality-show“, die Problematik der Selbstnarrativisierung in einem gesellschaftlichen Kontext, der ebendiese favorisiert, ja verlangt (cf. ibid.: 10). Auch Forest (2011a: 13) diskutiert die Frage, wie weit die Autofiktion sich als „une sorte de néo-naturalisme de l’intime“ womöglich komplizenhaft in eine exhibitionistische Erzählkultur einschreibt. Er kritisiert seinerseits eine Literaturkritik, die der Autofiktion ihren „nombrilisme“ vorhält und statt dessen eine - selbst den Gesetzen des „imaginaire télévisuel“ unterworfene - world fiction privilegiert (ibid.: 16); auch hier wird schließlich die écriture de soi zum Hort des Widerstands „contre le mensonge du discours partagé, contre la fausseté de la fiction ordinaire“ stilisiert (Forest 2011b: 89). Camille Laurens (2011: 141) identifiziert unter Berufung auf Foucault den erzählend reflektierten „rapport de soi à soi“ als Basis potentieller ‚Subversion‘; Delaume (2010: 77sq.) versteht autofiktionales Schreiben als Form narrativer résistance gegen die „fictions collectives“. Audeguy (2011: 69sq.) dagegen spottet über die Pseudo-Heroen autofiktionaler Erfahrungsliteratur, „soldats de l’authenticité [ ] soulignant pudiquement, les yeux baissés, leur immense courage“ und deren absurden ‚revolutionären‘ Anspruch: „Comment une telle production ose-t-elle se réclamer d’une quelconque subversion, dans un monde dominé par l’ego tripping? “ Mit einem Wort: Die Diskussion um das ‚mauvais genre‘, das nach wie vor beträchtliches Provokationspotential besitzt, geht weiter. „Mauvais genre, genre mauvais“: Annäherungen an ein anrüchiges Genre „Mauvais genre, genre mauvais. [ ] Mauvais genre, genre mauvais.“ (Delaume 2010: 12) Es ist hier nicht der Ort, um auf die theoretische Debatte um die Autofiktion im Detail einzugehen bzw. die ‚Karriere‘ des Terminus seit seiner Einführung durch Dou- 31 DDossier brovsky nachzuzeichnen. 3 Die Autofiktion - in diesem Sinne „victime de son succès“ (Vilain 2005: 203) - erscheint heute mehr denn je als vages, unscharf abgegrenztes Konzept; „ce mot un peu fourre-tout“ (Burgelin 2011: 42) wird von verschiedenen Protagonisten der literaturtheoretischen Diskussion sehr unterschiedlich (weit) gefasst: „tout le monde utilise le vocable à sa façon [ ] au point que les interprétations contradictoires du mot autofiction pourraient remplir une anthologie“ (Colonna 2004: 15). Wohl auch dank seiner „viscosité sémantique“ (Gasparini 2008, zit. Jeannelle 2011: 63) hat sich der Begriff erfolgreich gegen die terminologische Konkurrenz behauptet (cf. Gasparini 2004: 309sq.). Vielleicht ist es jedoch gar nicht entscheidend, die ‚definitive‘ Definition der Autofiktion zu liefern; es gilt vielmehr die Frage zu reflektieren, warum gerade dieses Konzept - „catalysateur“ sui generis (Philippe Lejeune in Doubrovsky/ Lecarme/ Lejeune 1993: 9, zit. Colonna 2004: 238) - für so heftige Kontroversen zu sorgen vermag (Jeannelle 2011: 54sq.). Die (Debatte um die) Autofiktion ist auch ein Epochensymptom: „on peut dire qu’‚autofiction‘ est aussi le nom d’une mutation culturelle“ (Gasparini 2009). Autofiktion, so Gasparini unter Rekurs auf Colonna, fungiert als „mot-récit“, das (s)eine eigene Geschichte erzählt: „Mot-test, mot-miroir, il nous renvoie les définitions que nous lui assignons“ (ibid.). Rund um das „Mode-Phänomen“ Autofiktion (Forest 2011a: 12) konzentrieren sich einige zentrale Fragestellungen der zeitgenössischen Literaturtheorie, wobei es auch marktstrategische Aspekte zu berücksichtigen gilt: Der Autofiktions-Hype kann auch als Versuch der literarischen Rehabilitation der Autobiographie interpretiert werden (Vilain 2005: 8sq.); 4 nicht zuletzt auf Wunsch der Verleger werden autobiographische Texte als ‚Romane‘ etikettiert (Audeguy 2011: 69) - unter diesem Label gelangt der traditionelle „roman autobiographique“ zu neuer „légitimité littéraire“ und „visibilité éditoriale“ (Forest 2011a: 11). Das Genre bleibt jedoch ‚anrüchig‘; die Abgrenzung von den „radotages de l’auto-fiction“ (Duteurtre 2008: 54), der „bruyante ego-littérature“ (Audeguy 2011: 70), scheint aktuell im literarischen und literaturkritischen Milieu zum guten Ton zu gehören. 5 In den Augen mancher Autofiktions-Skeptiker kommt es geradezu einer Geste der Selbst-Nobilitierung gleich, die eigene (Familien-)Geschichte nicht zu autofiktionalen Zwecken zu verwerten (cf. etwa ibid.: 74). Anerkannte Schriftsteller, die sich auf das verminte Terrain der Autofiktion vorwagen, sehen sich mit der Frage konfrontiert, ob sie dergleichen denn nötig hätten. 6 Das Genre wird als regelrechte Falle wahrgenommen, aus der ein Autor sich kaum mehr zu befreien vermag: „Ce qui me fait très peur dans l’autofiction, c’est de ne plus pouvoir en sortir. Si après ça on veut persuader les autres qu’on écrit des romans, bon courage! “ (Virginie Mouzat, zit. Neuhoff 2010). Nicht nur theoretische Diskurse zum Thema, soweit sie von Adepten des autofiktionalen Projekts stammen, fallen durch ihren defensiven Gestus auf; AutorInnen deklarierter Autofiktion sehen sich einem konstanten Legitimationsdruck ausgesetzt, der Notwendigkeit, die Literarizität des Genres zu verteidigen (Laurens 2011: 134). So konstatiert Vilain (2005: 8sqq.) den historisch widersprüchlichen Umgang 32 DDossier mit Praktiken der Selbsterzählung und versucht, die „parole de soi“ - „ce genre compromettant“, von dem sich Schriftsteller, „soucieux de maintenir leur texte dans les quartiers respectables de la Littérature“, nach Möglichkeit fernhalten - gegenüber den Vorwürfen des Narzissmus, des Exhibitionismus, der bloßen ‚Schreibtherapie‘ etc. zu rehabilitieren. Überaus misstrauisch betrachten das Etikett ‚Autofiktion‘ selbst AutorInnen, deren Œuvre eine unübersehbare Affinität zu ebendieser aufweist; so problematisiert Christine Angot die entsprechende Kategorisierung ihrer Werke mit dem Argument, diese stelle die literarische Qualität eines Textes in Frage und sei dazu angetan, die Aufmerksamkeit des Publikums vor allem auf die biographische Pikanterie zu lenken (cf. Angot 2011; Delaume 2010: 58sq.). ‚Klassische‘ Autofiktion bleibt, so Angot (2011: 38sq.), dem „processus mental collectif“ verhaftet, wohingegen es doch um die Demontage präfabrizierter Narrationen gehe: „L’écrivain [ ] doit tuer le discours [ ]“. Aber auch Delaume, die eine Poetik einer komplexen Autofiktion mit politischem Impetus entfaltet, zeigt sich ablehnend gegenüber literarisch anspruchsloser, unter dem Aspekt der Gesellschafts- und Diskurskritik irrelevanter „autofiction sordide“ (cf. Minh Tran Huy 2001). Kurz: Die emotionale Aufladung der Debatte ist ebenso offensichtlich wie aufschlussreich; die Inszenierung einer schriftstellerischen Persona funktioniert in der aktuellen französischen Literaturszene nicht unwesentlich über die (vorzugsweise kritische) Positionierung gegenüber der Autofiktion. Gerade in Frankreich spielt der diesbezügliche Diskurs auch eine Rolle bei der (De-)Konstruktion einer ‚nationalen‘ literarischen Identität; von Schriftstellern wie Literaturkritikern wird die autofiction als französischer Spleen belächelt. „L’autofiction, une passion française“ titelt Assouline (2011); aber auch Beigbeder, selbst dem „jeu avec le je“ (Beigbeder 2005: 133) nicht abgeneigt, spottet über das französische Faible für das Genre: „il faut admettre qu’il y a là une spécificité de notre littérature hexagonale“ (Beigbeder 2008: 47). Entsprechend sind die Advokaten der Autofiktion bemüht, deren Internationalität zu betonen (cf. etwa Forest 2011a: 13; Colonna 2004: 195). Gewiss ist Autofiktion kein exklusiv französisches Phänomen; doch wird sie in Theorie und Praxis in Frankreich mit einer Intensität betrieben wie kaum anderswo. Auch vor diesem Hintergrund scheint es von besonderem Interesse, eben am Beispiel der zeitgenössischen französischen Literatur die Metamorphosen der Autofiktion im Zeitalter des Storytelling zu reflektieren. Der ‚Dämon‘ der Theorie: Autofiktion als Labor und als Diskursgenerator „Un néologisme hante l’Empire des lettres, de l’Europe aux Amériques.“ (Colonna 2004: 11) Die theoretische Literatur rund um die Autofiktion ist in den Jahrzehnten seit Doubrovskys ‚Erfindung‘ 7 zu wahren Textgebirgen angewachsen. Von spöttischen Gegnern wird das aus ihrer Sicht eklatante Missverhältnis zwischen theoretischem 33 DDossier Aufwand und literarischem Output thematisiert: Assouline (2011) mokiert sich über „la fameuse question dite de l’autofiction, dont la fortune théorique est inversement proportionnelle à la qualité de ses fruits“; Jeannelle (2011: 55) konstatiert aber auch eine gewisse Diskrepanz zwischen „investissement polémique“ und „rendement conceptuel “. Es ließe sich freilich die Frage stellen, ob die Bedeutung des Konzepts ‚Autofiktion‘ - und des ritualisierten Autofiktions-Bashings - nicht gerade auch in dieser Funktion als Diskursbzw. Theoriegenerator zu sehen wäre; „Le démon de l’autocommentaire“ (ibid.: 63), der die Autofiktion seit ihren Anfängen heimsucht, hat auch seine Meriten. Autofiktion stellt nicht nur ein Experimentierfeld metaliterarischer Selbstreflexion dar; nicht zu Unrecht erklärt Beigbeder (2008: 47sqq.), dass eben die Autofiktion dazu beigetragen habe, auf dem Umweg über das ‚Ich‘ einen neuen Blick auf die extra-romaneske Realität zu eröffnen: „Le roman post-Nouveau roman revient donc au réalisme par le truchement du ‚moi‘. [ ] Après l’autofiction, place à l’autoréalité“. Auch Forest (2011a: 15) versucht sich an einer Rehabilitation der Autofiktion als neuer Version eines „réalisme romanesque“: „Un ‚nouveau réalisme‘? Si l’on veut.“ Autofiktion wirft die Frage nach einem stets problematischen Ich, nach dem (multiplen, instabilen) Subjekt und dem narrativen Charakter von Identität auf. Die autofictionnaires üben sich in der lustvollen Dekonstruktion der ersten Person Singular: „Et si le moi est insaisissable, pourquoi cesser de le poursuivre? Et si je n’existe pas, pourquoi le taire? “ (Laurens 2011: 139). Laurens charakterisiert den autofiktionalen Text als „une quête d’identité in progress“, als labyrinthisches Verwirrspiel, das auch die Lesenden mit einbezieht (ibid.: 136). In Burgelins Interpretation (2011: 45sq.) wird das autofiktionale Ich zum „ideologisch verdächtigen“ (Non-)Subjekt, „figure même du refus et de l’insoumission“. Insofern besitzt die Autofiktion in einer Zeit, die das Individuum dazu auffordert, zum Manager seiner Story, zum narrativen Produzenten seines norm- und marktkonformen ‚wahren‘ Ich zu werden, durchaus kritisches Potential (cf. Forest 2011a: 19). Autofiktion als per se hybrides Genre, „genre de l’entre-deux“ (Genon 2007), problematisiert die Relation zwischen ‚Realität‘ und ‚Fiktion‘. Angesichts einer Kultur des Storytelling, die ‚falsche‘, maskierte Fiktionen generiert (cf. Salmon 2007: 37sq.), fungiert sie als Schule des Misstrauens nicht nur gegenüber dem klassischen autobiographischen Narrativ, sondern auch gegenüber sonstigen Erzählungen: „L’autofiction [ ] amène le lecteur à interroger, à soupçonner ce qui lui est donné à lire“ (Genon 2007). In der Tradition Doubrovskys betrachten auch zeitgenössische Autofiktionäre ihr Genre als ‚demokratisches‘ Projekt, das eine elitäre Sichtweise der Literatur konterkariert und das ‚gewöhnliche‘ menschliche Leben als der Literarisierung würdigen Gegenstand anerkennt (Vilain 2005: 93sqq.). Die Frage einer literarischen Ethik stellt sich in der Domäne der Autofiktion mit besonderer Virulenz, da der/ die Andere hier konkret auf dem Spiel steht (Delaume 2010: 69). „Moi, j’aime bien l’autofiction des autres. Je ne le ferais pas, parce que c’est dangereux. [ ] C’est une violence à la personne à qui ça arrive“, erklärt Virginie 34 DDossier Despentes (zit. Neuhoff 2010); Vilain (2005: 47sqq.) setzt sich mit den Ambivalenzen eines „genre sans éthique“ auseinander. Autofiktion wirft die Frage nach der Relation von Narration und Macht, nach den Verfügungsrechten über die Lebensgeschichten anderer Menschen auf - eine Frage, die im Zeitalter der Reality show längst keine exklusiv literarische mehr ist. 8 Von der Brisanz dieser Problematik zeugen auch die diversen juristischen Nachspiele autofiktionaler Publikationen (cf. Gasparini 2004: 237), die die französische Literaturszene in der jüngeren Vergangenheit erlebt hat, von Angot bis Laurens. Letztere konstatiert (selbst-)illusionslos den grenzenlosen „Egoismus“ des schreibenden Subjekts, das sich fremdes Lebensmaterial zu Zwecken des literarischen Recycling aneignet: „L’égoïsme des écrivains est infini“ (Laurens 2006: 38). Die Erzählerin in Ni toi ni moi kommentiert ironisch die Perspektiven eines neuen, offenbar auf Erfolgskurs befindlichen Genres, des „Hassromans“: „Nouveau genre littéraire: le roman de haine! “ (ibid.: 33). Mit der pikanten Gattung der „Histoires d’ex“ („De Justine Lévy à PPDA“) beschäftigte sich ein Dossier des Nouvel Observateur (cf. Bui 2011); auf literaturtheoretisch interessanterem Level bewegte sich die Kontroverse um Marie Darrieussecqs angebliches „psychisches Plagiat“ an Laurens’ autofiktionalem Text Philippe. 9 Während Audeguy (2011: 71) in anderem Kontext über die „fétichistes du vécu“ spottet, verleitet die Valorisierung einer problematischen ‚Authentizität‘ Forest (2011b: 93) dazu, dem Vorwurf des „plagiat psychique“ eine gewisse Plausibilität zuzubilligen. Wie auch immer: Die im pro-autofiktionalen Diskurs inflationär präsente Metapher des (literarischen, philosophischen, gesellschaftskritischen) ‚Labors‘ hat in diesem Sinne ihre Berechtigung. In einer „ère de débâcle théorique et de régression critique“ bleibt die Autofiktion ein privilegierter Ort der literatur- und gesellschaftstheoretischen Reflexion; ein „laboratoire“ (Forest 2011a: 16sq.; cf. auch Burgelin 2011: 41), in dem ein sich selbst fraglich gewordenes Ich sich in allen erdenklichen Modalitäten erprobt. Eine Poetik des Widerstands? Die ‚Politik der Autofiktion‘ zwischen Anspruch und Realität Das Genre lädt also dazu ein, etliche zentrale Problematiken der Literatur und darüber hinaus der Gesellschaft der Gegenwart zu reflektieren, wie nun an einigen konkreten Textbeispielen illustriert werden soll. Anderen gleichfalls vielversprechenden Spuren kann aus Platzgründen nicht weiter nachgegangen werden; in Vilains „métaphysique de la timidité“ (2010: 60) - nicht zuletzt als (Auto-) Fiktionsgenerator (120sq.) - wird der „timide“ in einer Epoche der „Hyperkommunikation“ (34) zur Figur des Widerstands gegen eine Kultur des Storytelling bzw. des verlogenen „positive thinking“ (36), zur Figur, die die Funktionsweisen von Sprache und Erzählung fundamental in Frage stellt (176). Auch Laurens (2011: 140) betont die gesellschaftliche Relevanz der Autofiktion; diese reflektiere die andernorts ge- 35 DDossier leugneten „violences insupportables“, denen das Individuum sich ausgesetzt sieht. Ein Text wie Ni toi ni moi problematisiert die Erzählbarkeit menschlicher Existenz; hier artikuliert sich eine prinzipielle Skepsis gegenüber einer Narration, die das Leben zu vereinnahmen droht (Laurens 2006: 22, 35sqq.). 10 Laurens rekurriert auf die Metapher des Palimpsests, um die Non-Linearität einer nur mit Verlusten narrativisierbaren Wirklichkeit zu verdeutlichen (ibid.: 23); ihre Protagonistin, Opfer einer Sprachkrise von Lord Chandos-Dimensionen, reagiert allergisch auf die „Plastikwörter“ (cf. Pörksen 1988) des öffentlichen Diskurses, einer manipulativen, mortifizierten Sprache - Autofiktion, wie sie hier betrieben wird, darf auch als diskursanalytisches und -kritisches Projekt gelten (cf. etwa Laurens 2006: 120). Catherine Cusset (1999: 42) wiederum meditiert über die autobiographische Basis jeglichen Schreibens („on n’invente rien: on déplace et on transpose, c’est tout“) und über die Autofiktion als ‚mauvais genre‘, das - „la nouvelle mode chez les universitaires“ (285) - akademische Karrieren zu kompromittieren vermag (77) Im Folgenden sollen einige grundsätzliche Fragen rund um Selbstverständnis, Selbstinszenierung und kritisches Potential der zeitgenössischen Autofiktion ausgehend vom Werk Chloé Delaumes 11 diskutiert werden. Letzteres, angesiedelt in der Tradition des Oulipo und des formalistischen Experiments (cf. Minh Tran Huy 2001), steht für eine anspruchsvolle „autofiction expérimentale“ (cf. Genon 2010). Delaume verfasst hermetische Texte mit prononcierter metalinguistischer Dimension, mit komplexer, ja manierierter Syntax, voll von Wortspielen, extrem verdichteten intertextuellen Allusionen, extravaganten Neologismen, aber auch ausgesuchten Archaismen; Texte, die es den Lesern alles andere als leicht machen und gezielt eventuelle naiv voyeuristische Lesarten decouragieren (Delaume 2010: 66). Kurz: Ihr Werk ist besonders dazu angetan, die Unterstellung zu widerlegen, Autofiktion habe nichts als banalen Alltags-Exhibitionismus in anspruchsloser Form zu bieten. Delaume positioniert sich als Advokatin einer ‚schwierigen‘ Literatur, wobei ihre Diabolisierung der bloßen ‚Unterhaltungsliteratur‘ (cf. etwa ibid.: 17) 12 ihr eine gewisse Häme eingetragen hat (cf. etwa Galakof 2009); auch als Leiterin der Reihe Extraction (Verlag Joca Seria) betreibt sie eine pro-experimentelle Literaturpolitik. Der formalistische Anspruch verbindet sich jedoch mit einem ausgeprägten Bewusstsein für die eigene gesellschafts- und medienkritische ‚Mission‘ 13 - wobei die Frage legitim ist, inwieweit diese Texte ein relevantes Publikum zu erreichen vermögen. 14 Delaumes Poetik ist auch insofern besonders aufschlussreich, als Autofiktion hier zur Kunst „multi-supports“ wird (Delaume 2010: 62). 15 Die Schriftstellerin thematisiert auch andere (inter-)mediale Manifestationen des Genres (etwa „l’autofiction en BD“ oder „[l]es nouvelles formes numériques de l’autobiographie fictionnalisée, les blogs“ [ibid.]) und experimentiert selbst mit unterschiedlichen Medien. 2002 initiiert sie ihr Projekt Corpus Simsi (cf. Delaume 2003), dessen Titel eine ironische postmoderne Passionsgeschichte verspricht. Autofiktion als Computerspiel: Auf Basis von Les Sims™ kreiert die Autorin ihre virtuelle Doppelgängerin; Chloé Delaume, „personnage de fiction sans domicile fixe“, 16 redigiert ihren eige- 36 DDossier nen Blog („Autofiction en ligne, une variation“ [Delaume 2010: 87 [A] ]) und lädt die Leser bzw. User zur kreativen Interaktion ein. Die Ko-Autoren können die Sims- Figur ‚Chloé Delaume‘, als narratogenes „Virus“ definiert und eingekleidet von Christian Lacroix, in ihr jeweiliges Spiel integrieren (cf. Delaume 2003: 125); das Ich wird zum kollektiv autorisierten Konstrukt. 17 Auch in anderen Texten entfaltet Delaume ein Programm zur multimedialen ‚Aktivierung‘ der Rezipienten; 18 mit La Nuit je suis Buffy Summers (Delaume 2007b), „livre-jeu [ ] livre-je“ (Delaume 2010: 91 [A] ), legt sie einen ‚interaktiven‘ Roman vor, der das Imaginarium der TV- Serie rund um Vampirjägerin Buffy 19 aufgreift und die Leser zum Spiel mit dem „Je élastique“ der Autofiktion einlädt (ibid.: 92sq. [A] ). Ausgehend von Delaumes Werk lässt sich aber auch besonders gut die Frage reflektieren, wie weit autofiktionales Schreiben, will es einen gewissen Grad von Intensität und Relevanz erreichen, auf die Exzeptionalität des autobiographischen Materials angewiesen ist. Degeneriert die Autofiktion unweigerlich zur „consignation d’un quotidien quelconque“ (ibid.: 28), wenn der ‚Motor‘ der individuellen Leidenserfahrung hinter der Selbst-Fiktionalisierung fehlt? Wenn Audeguy (2011: 72) die Absenz von „autofictions jubilatoires“ in der zeitgenössischen französischen Literatur beklagt, so ist in der Tat nicht zu übersehen, dass etliche der ‚interessanteren‘ autofictionnaires überdurchschnittlich problematische Lebensgeschichten aufzuweisen haben. Delaume bestätigt diese Affinität der Autofiktion zur privaten Katastrophe; doch gerade diese konstituiere auch ein subversives Potential - nicht umsonst suche man dieses ‚anrüchige‘ Genre aus dem narrativen „biotope commun“ zu verbannen (Delaume 2010: 71). Autofiktion, lapidar als „une négociation de la douleur“ definiert (51), sei jedoch keinesfalls auf die para-literarische „auto-thérapie“ (74) zu reduzieren: „L’autobiographe écrit sur sa propre vie. L’autofictionnaliste écrit avec“ (20). Kaum jemand dürfte besser geeignet sein als Delaume, um derlei Fragen am eigenen Leib zu reflektieren. Die Geburt der Autofiktion aus dem Geist der Familientragödie: Delaumes Werk verarbeitet die desaströse Kindheitsgeschichte eines bedrohten Ich, das Zuflucht in der Sprache sucht (cf. etwa id. 2001: 53), das Schreiben als Überlebens- und Rachestrategie kultiviert (cf. etwa id. 2010: 13, 73, 93 [A] ). Ein fragmentiertes Subjekt, dem die eigene Biographie zum ‚(auto-)friktionalen‘ Text gerät (id. 2001: 110), 20 erfindet sich in einem performativen Schreib-Akt (cf. id. 2012: 14) als „personnage de fiction“ neu. 21 Delaumes Werk ist vor allem auch insofern von Interesse, als die Autorin Autofiktion explizit mit einer gesellschaftskritischen ‚Mission‘ ausstattet - dabei aber zugleich eine gewisse ironische Distanz wahrt. In La Règle du Je ist das erzählende und theoretisierende Ich soeben dabei, seine neuesten Reflexionen zum Thema ‚Politik der Autofiktion‘ zu rekapitulieren, als sich - in einer der für Delaumes Texte charakteristischen polyphonen Sequenzen - die kritische Stimme des Lebensgefährten einmischt: „Peut-être aussi que d’un point de vue philosophique Chloé on pourrait Chloé envisager Chloé l’autofiction comme Chloé n’en fais pas trop quand même hein, l’autofiction ça va pas sauver le monde, ma chérie“ (Delaume 2010: 57). 22 37 DDossier Die Welt als Wille und Videodrome: Von der ‚Verfügbarmachung‘ des Subjekts „Peut-on rester au monde quand on a habité dans la télévision [ ]“ (Delaume 2006: 128) Bei Delaume bleibt es nicht bei der bloßen Theorie einer gesellschaftskritischen Autofiktion; besonders eindrücklich illustriert dies ihr aus aktuellem medienpolitischem Anlass entstandenes TV-Projekt. Patrick Le Lay, PDG von TF1, sorgte im Jahr 2004 für Empörung, als er erklärte, das Fernsehen verkaufe seinen Werbekunden im Wesentlichen „le temps de cerveau humain disponible“. 23 Le Lays Statement, auf das u.a. Storytelling-Theoretiker Salmon mit seinem Pamphlet Verbicide. Du bon usage des cerveaux humains disponibles reagierte, fungierte auch als Initialzündung für Delaumes J’habite dans la télévision (cf. Delaume 2010: 89 [A] ), „un projet multi-supports, portant sur la confrontation des fictions individuelles face au formatage de la fiction collective imposée par la société spectaculaire“. 24 Im Rahmen einer „expérience totale“ (ibid.: 90 [A] ), die 22 Monate Intensiv-Fernsehen samt minutiöser Dokumentation von Körperreaktionen, Gedanken und Gefühlszuständen vorsieht (Delaume 2006: 42), 25 wird an eigener Person getestet, was es mit der „mise en disponibilité du cerveau“ auf sich hat: „S’écrire dans ce réel qui nous fictionnalise. Se réapproprier sa propre narration“ (Delaume 2010: 90 [A] ). In Form eines parodistischen TV-psychiatrischen Protokolls verzeichnet Delaume die Spuren, die der televisionäre Exzess an Psyche und Physis hinterlässt. So geht die Konfrontation mit Dauerreklame für Kartoffelchips am fernsehenden ‚Versuchstier‘ auf zwei Beinen nicht spurlos vorüber; im Munde Delaumes werden die „chips Lay’s“, die die Erzählerin durch ihre TV-induzierten nokturnen Fressorgien begleiten (Delaume 2006: 66), zum hochideologischen Junk food, als ‚Studienobjekt‘ verglichen mit dem Produkt professionellen Polit-Marketings: „Nous entendrons par objet absolument tout ce que l’on veut, Nicolas Sarkozy ou un paquet de chips“ (ibid.: 71). Delaume karikiert die pseudo-elitäre Pose jener, die sich von der Unterschichts- und Bildungsverlierer-Problematik TV-Manipulation nicht betroffen glauben (ibid.: 12), einen Kultursnobismus, der dem ‚vulgären‘ TV den Konsum von Erzählungen „sur support papier“ vorzuziehen vorgibt (16). 26 Sie thematisiert den Selbstbetrug des vermeintlich mündigen Medienkunden, die Ambivalenzen eines ‚kritischen‘ Fernsehens („Un programme qui vous apprend que Patrick Le Lay vend à Coca- Cola du temps de cerveau humain disponible“ [18]) ebenso wie die Illusion des „métalangage protecteur“ (20). Der Text - intertextuelles Patchwork - verarbeitet u.a. statistisches Material über das TV-Konsumverhalten der französischen Durchschnittsbevölkerung (12), Informationen über die französische Mediengeschichte (53sq.) wie naturwissenschaftliche Erkenntnisse aus den kommerz-affinen Domänen des „neuromarketing“ bzw. der „Neuroeconomics“ (31sq.). Schlüsselsätze des Medien-Machers werden als Refrain in den Text eingearbeitet, so in 38 DDossier einem regelrechten Wechselgesang zwischen Le Lay, der Erzählerin und dem Petit Robert (14sqq.). Der Rekurs auf die Autorität des Wörter-Buchs ist bei Delaume eine zentrale Strategie; die Macht des Wortes wird als Instanz der Résistance beschworen: „Le Verbe est le pouvoir. Ne l’oubliez jamais. [ ] Français encore un effort si vous voulez rester humains“ (88sq.). Die Autorin analysiert die „Kolonisierung“ (cf. Oliver 2004) des menschlichen Bewusstseins; nach einem TV-Trimester hat das ‚sujet‘ zu denken aufgehört, sich in eine diskursive Recyclingmaschine verwandelt (Delaume 2006: 104sqq.). Ebenso wie in Beigbeders 99 francs (cf. Beigbeder 2000) werden Parallelen zwischen zeitgenössischen Marketingbzw. TV-Manipulationstechniken und den Faschismen des 20. Jahrhunderts hergestellt (cf. Delaume 2006: 34sq.), aber auch religiöse und publizitäre ‚Gehirnwäsche‘ assoziiert (cf. 37sqq.). In einem Akt der Tele- Fusion löst das dauerexponierte Ich, dem Simulakrum der TV-Realität verfallen, sich in einem abstrakten Wir auf (110). 27 Delaume reflektiert den téléréalisme - „une phase décisive de l’autophagie capitaliste“ (164) - im sozioökonomischen Kontext ebenso wie den (televisionären und sonstigen) Terror der Geschichten, den Trend zur universellen Narrativisierung als ‚totalitäres‘ Phänomen. Menschen werden in Stories transformiert, die in der „grande fiction collective“ aufgehen; „les fictions individuelles“ solange bearbeitet, bis sie sich in die Lüge einer glatten TV- Welt einfügen (165). Das (In-)Dividuum 28 wird zum Statisten im perversen „Märchenbuch“ jenes mythischen „Ogre“ (166), der - Wörter- und Wörterbuchfresser (90), Narrato-Terrorist der „kollektiven Fiktion“ (117) - als unheimlicher Wiedergänger durch Delaumes Werk geistert. Delaume formuliert hier bereits ihre Poetik der Wachsamkeit und des Widerstands, die Weigerung, sich gehorsam ‚schreiben‘ zu lassen: „je renonce aux grands livres des fictions collectives, je refuse d’être écrite“ (ibid.: 95). Ein Stück erzähltes Leben wird gegen jene „kollektive Fiktion“ in die Waagschale geworfen (146), wobei das Ich seine Skepsis gegenüber Geschichten aller Art bekundet (45); die Reaktion auf die Kultur des Storytelling oszilliert zwischen dem Entwurf hyper-reflexiver Gegen-Narrationen und der Verweigerung der Erzählung überhaupt. Den medialen Techniken des „formatage d’individus“ (148) gegenüber weniger resistent als erhofft, verschwindet jenes Ich schließlich in einer virtuellen Parallelwelt; lediglich ein Polizeiprotokoll zeugt von der rätselhaften disparition einer gewissen Chloé Delaume (152sqq.). Dieses prekäre Ich, das die Chronik seiner angekündigten Auflösung signiert, aber dennoch auf seiner eigenen „narration“ insistiert, lanciert einen finalen Appell an eventuell noch vorhandene Adressaten, ihre Geschichte zu retten (168). „Man wird nicht als Ich geboren“: Selbst-Fiktionalisierung als Subversion? La Règle du Je schildert vor dem Hintergrund eines ausführlichen theoretischen Panoramas „Les aventures de Chloé Delaume au pays de l’Autofiction“ (Delaume 39 DDossier 2010: 15); 29 der Text - zwischen Essay und Fiktion angesiedelt 30 - richtet sich gezielt gegen die aktuelle Tendenz zur Devalorisierung des Genres. Die Autorin, die sich als „Praticienne de l’autofiction“ definiert (ibid.), verbindet akademischen Diskurs und literarische Reinszenierung der existenziellen Not eines Ich, das sich an das rettende Konzept „Autofiktion“ klammert (13); vor allem jedoch artikuliert sie hier explizit ihr Programm einer „Politique de l’autofiction“ (77sqq.). Delaume operiert wiederum mit Techniken der Montage aus unterschiedlichen Diskursfragmenten; das heikle Sujet Autofiktion wird in einem kritischen Polylog, in dem Partner, Leser, Literaturtheoretiker und Wörterbücher, Freunde und/ als Feinde bunt durcheinander sprechen, reflektiert. Ein anonymes ‚ils‘ formuliert - Chor einer postmodernen Tragikomödie - nicht nur allerlei idées reçues darüber, wie man zu leben und zu schreiben habe, sondern fungiert auch als Sprachrohr für diverse dem Projekt Autofiktion gegenüber skeptische bis negative Positionen (cf. etwa ibid.: 68sq.). Die Autorin bezieht einen Standpunkt strategischer Marginalität (die freilich die erfolgreiche Kommerzialisierung nicht scheut: Delaume distanziert sich ausdrücklich vom nicht mehr zeitgemäßen Mythos der „artistes maudits“ [cf. Minh Tran Huy 2001]). Hier spricht ein Ich, das die eigene ‚Abnormität‘ bewusst für sich reklamiert („La prostitution, le meurtre, la psychose, le deuil, le suicide. La mort, l’aliénation. C’est de ça que je parle, c’est de là que j’écris“ [Delaume 2010: 66, cf. auch 69] 31 ); Theoriebildung ist von der narrativen Sorge um ein in seiner Integrität bedrohtes Selbst nicht zu trennen (und zwar über die Rhetorik der genrespezifischen „Lieux de sincérité“ [cf. Gasparini 2004: 231sqq.] hinaus). Der Gipfel der Auto-Marginalisierung ist dort erreicht, wo das Ich hinter dem Text sich selbst zur Fiktion erklärt: „Tout ceci doit être considéré comme dit par un personnage de roman“ (Delaume 2010: 15). Autofiktion erscheint als existenzielles ästhetisches Projekt (ibid.: 56), dessen Ziel nicht (nur) ein Werk (und erst recht die ambivalente Perspektive der Œuvres complètes), sondern auch bzw. vor allem ein gelingendes Leben ist: „Je ne cherche pas à faire œuvre, mais surtout à faire vie“ (7). Es bleibt jedoch nicht bei einem Konzept der Autofiktion als mehr oder minder erfolgreicher Lebensbewältigung. Aus dem privaten Trauma entfaltet sich eine auch intersubjektiv relevante Reflexion über die Konditionierung des Individuums im Sinne der Foucaultschen ‚Gouvernementalität‘. Die ‚Mythomanie‘, und sei sie auch psychopathologischen Ursprungs, wird zur Geste des Widerstands (52). Die „fictionnalisation de soi, lucide“ (19) ermöglicht nicht nur die Distanzierung vom (un-)heimlichen „roman familial“ (6), sondern richtet sich auch gegen die „fictions collectives“ aller Art, nicht zuletzt - unter Rekurs auf Foucault - gegen psychiatrische (und psychoanalytische) Narrative; auch hier sieht sich das rebellische Ich mit einer repressiven „fiction extérieure“ konfrontiert (23). Jenem Chor der kritischen Stimmen, der Autofiktion als Substitut für die sprichwörtliche Couch ridiculisiert (ibid.: 75), setzt Delaume - unter Berufung auf Foucault und auf Christian Salmon - ihre „Politik der Autofiktion“ entgegen: „Je répète: fictions collectives. Familiales, culturelles, religieuses, institutionnelles, sociales, 40 DDossier économiques, politiques, médiatiques: je me refuse aux fables qui saturent le réel. [ ] L’autofiction, une piste. Une forme littéraire parfaitement subjective, où le Je se libère des fictions imposées“ (77). Die écriture du je wird zur Widerstands- und Überlebensstrategie in einem System, das die Geschichten seiner ‚Insassen‘ (vor-)schreibt und kontrolliert: „L’autofiction un geste, un geste politique. [ ] Écrire le Je relève de l’instinct de survie dans une société où le capitalisme écrit nos vies et les contrôle“ (78). Der intimen - bzw. ‚extimen‘ (cf. Vilain 2005: 89sqq., Colonna 2004: 13) - Fiktion wird überindividuelle Relevanz zugeschrieben; der Kurzschluss zwischen privat und politisch ist Programm: „Travailler sur l’intime, parce que, lettres capitales: Le privé est politique“ (Delaume 2010: 66; cf. auch id. 2012: 81). La Règle du Je, eigenwilliges Portrait of the artist, reflektiert auch den Werdegang einer jungen Schriftstellerin, die sich zunächst um den Segen diverser ‚Koryphäen‘ für ihr autofiktionales Schreiben bemüht; die Auseinandersetzung mit deren ‚autoritären‘ Narrativen mündet jedoch in die selbstbewusste Neubestimmung der eigenen literarischen Identität. Der Text dokumentiert auch diesen theoretischen Parcours, an dessen Ende das Ich die Definitionsmacht über seine Version der Autofiktion und über seine Lebens-Geschichte/ n (zurück-)gewonnen hat (Delaume 2010: 6). 32 Die Auto-Fiktionalisierung erscheint als Akt der diskursiven Selbstermächtigung eines Subjekts, das „maître de mon destin“ zu bleiben bzw. zu werden gedenkt - woraus sich mit mathematischer Präzision die Formel von der Politizität des Ich ergibt: „L’autofiction = un pas de côté = réappropriation de sa vie par la langue = mon Je est politique“ (81). Durchaus politisch ist auch Delaumes Versuch, den literarischen Schaffensprozess zu ‚demokratisieren‘: Die Problematik narrativer Autorität wird kontinuierlich thematisiert, in das eigene autofiktionale Projekt involvierten Personen eine Form limitierter Ko-Autorschaft zugestanden: „À leur fictionnalisation je veux qu’ils participent“ (ibid.: 68). 33 Am Ende steht wiederum der Appell an den Adressaten, der mit der Frage nach seiner eigenen Geschichte konfrontiert, zu deren kritischer Reflexion aufgefordert wird (82); auch an die Lesenden richtet sich jenes performative Programm, das Delaume in Abwandlung der mittlerweile x-fach geflügelten Maxime des Erasmus von Rotterdam bzw. - in der feministischen Version - Simone de Beauvoirs proklamiert: „On ne naît pas Je, on le devient“ (8). 34 (Provisorische) Conclusio Autofiktion im Zeitalter des Storytelling, zwischen Komplizenschaft und Résistance: Angesichts zweier kontrovers diskutierter Problematiken der Literatur- und Kulturwissenschaft, deren Interrelation in diesem Beitrag reflektiert werden sollte, ist es aus der Perspektive der Zeitgenossenschaft kaum angebracht, eine definitive Conclusio zu formulieren. Wenn die Literatur des extrême contemporain nicht umhin kann, auf den Trend des Storytelling zu reagieren, so vollzieht sich diese Reaktion aus Gründen, die hier deutlich geworden sein dürften, in der Do- 41 DDossier mäne der gerade in Frankreich heiß umstrittenen Autofiktion mit besonderer Intensität. Keinesfalls sollte an dieser Stelle jener bei Delaume treffend parodierte Anspruch reinszeniert werden, Autofiktion als Form widerständiger Selbsterzählung könne quasi ‚die Welt retten‘; illustriert werden sollte jedoch, dass die Autofiktion - in der literarischen Praxis, aber auch als Stimulans theoretischer Diskurse - trotz aller (teilweise nicht unbegründeten) Skepsis gegenüber dem ‚mauvais genre‘ nach wie vor ein gewisses kritisches Potential besitzt. Anders, Günther, Die Antiquiertheit des Menschen, vol. I: Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution [1956], München, Beck, 1992. Angot, Christine, „Acte biographique“, in: Forest (ed.) 2011, 31-40. 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Gasparini 2004: 240. 5 Die Devalorisierung der Autofiktion im literaturkritischen Diskurs hat auch eine genderbezogene Komponente; sie geht oft genug mit deren ‚Feminisierung‘ einher. So konstatiert der Verfasser einer Studie über Sexe et littérature aujourd’hui eine spezifische ‚weibliche‘ Affinität zum Genre, wobei die „autofictionnaires“ ein weiteres Mal gegen die „vraies romancières“ (deren Fehlen in der zeitgenössischen Literatur der Autor beklagt) ausgespielt werden, cf. Bessard-Banquy 2010. 6 So wurde Emmanuel Carrère als „vrai et estimable fictionniste français“ der ‚Sündenfall‘ seines Roman russe („autofiction outrancière“) übelgenommen, cf. Berton 2007. 7 Zur Kontroverse um die ‚Vaterschaft‘ des Konzepts Autofiktion cf. Vilain 2005: 169sqq. 8 Mittlerweile existiert auch in Frankreich eine „association des victimes de la téléréalité“, cf. Delaume 2006: 126. 9 Cf. Laurens 2007. Darrieussecq setzt sich auch literaturtheoretisch mit den Plagiatsvorwürfen auseinander, mit denen sie zwei Mal im Lauf ihrer Karriere konfrontiert war (cf. Darrieussecq 2010); ebenso wie Salmon (1999) betont sie, wie sehr Plagiatsvorwürfe als (nicht nur literatur-)politische ‚Waffe‘ fungieren können. 10 Cf. zu dieser Problematik Thomä 2007: 94. 11 Es handelt sich um ein von Boris Vian und Antonin Artaud inspiriertes Pseudonym, cf. Delaume 2010: 5sq. 12 Auch in punkto Musik positioniert sich Delaume (2007: 61) gegen das bloße „divertissement“. 13 Von 2005 bis 2007 betreute Delaume neben ihrer literarischen Tätigkeit das Forum von Daniel Schneidermanns Arrêt sur images, cf. Grell 2009; Delaume 2006: 126. 14 Delaume ist sich über dieses Dilemma im Klaren; sie treibt ein raffiniertes Spiel mit ihren Lesern, deren potentielle Reaktion, ja möglicher fluchtartiger Ausstieg aus dem Text ironisch antizipiert wird, cf. etwa ibid.: 11. 44 DDossier 15 Zur Relevanz des Konzepts ‚Autofiktion‘ abseits der Literatur cf. auch Colonna 2004: 199. 16 Cf. die Rubrik ‚Simsologie‘ auf der Website der Autorin. 17 Delaumes Angebot virtueller Ko-Narration wurde angenommen: In La Règle du Je berichtet die Autorin, wie ihr diverse Screenshots von den aktuellen Abenteuern ihres Avatars zugeschickt werden, Delaume 2010: 87 [A] . 18 In J’habite dans la télévision wird im Text auf ein dazugehöriges Audio-Dokument auf der Website der Autorin verwiesen (cf. Delaume 2010: 90sq. [A] ); auch in Dans ma maison sous terre (Delaume 2009) referieren die Kapitel jeweils auf akustische ‚Paralleltexte‘ (cf. Delaume 2010: 93 [A] ). In La Dernière Fille avant la guerre werden literarischer „pacte de lecture“ und musikalischer „pacte d’écoute“ parallelisiert (Delaume 2007a: 99); schließlich reflektiert Delaume Perspektiven einer „musikalischen“ Autofiktion (Delaume 2010: 93 [A] ). 19 Buffy the Vampire Slayer, in der französischen Fassung Buffy contre les vampires. 20 Doubrovsky selbst rekurriert bereits spielerisch auf die Variante „autofriction“ (Doubrovsky 1977: 4 e de couverture). Den Begriff ‚friktional‘ gebraucht Ette (2001: 43sqq.) in anderem Kontext. 21 Als rituelle Formel kehrt die Proklamation der eigenen ‚Fiktivität‘ in Delaumes Texten, leicht variiert, immer wieder, cf. etwa Delaume 2010: 5, 21, 79, 82; Delaume 2007a: 8, 63, 103; Delaume 2012: 13, 17, 113. 22 In La Dernière Fille avant la guerre mokiert sich die autofiktionale Erzählerin über die Versuchung der „rébellion [ ] mignonne“, der „subversion Haribo“ (ibid.: 60), der ihr Alter ego zu verfallen droht. 23 Die AFP-Depesche vom 9. Juli 2004 wurde von Libération unter dem Titel „Patrick Le Lay, décerveleur“ (10./ 11. Juli 2004) kritisch aufgegriffen, cf. Salmon 2007: 16, 57sq. 24 Website, Rubrik „Chantiers sonores“, J’habite dans la télévision. 25 „[ ] je n’habitais pas mon corps mais la télévision toute l’année 2005“, Delaume 2007a: 108. 26 Der Text als potentiell subversives Denkstimulans wird mit dem Buch als kulturellem Konsumobjekt und Statussymbol kontrastiert: „Vous ne lisez pas des textes mais vous achetez des livres“ (Delaume 2006: 17). 27 An jenem Punkt, an dem das Ich unrettbar erscheint, die Geschichte eines erfolgreich verfügbar gemachten Gehirns mit Worten vermeintlich nicht mehr erzählt werden kann, verweist Delaume auf jene auf ihrer Website abrufbare Aufzeichnung ihrer Gehirnfrequenzen - enzephalogrammatischer Kommentar zur medialen ‚Kontamination‘ des Subjekts, ibid.: 110sq. 28 Cf. Anders’ (1992: 135, 141) Reflexionen über das moderne Individuum als ‚Divisum‘ sowie Deleuzes (2009: 244) Konzept des ‚dividuel‘, Produkt der postmodernen „sociétés de contrôle“. 29 Der Text entfaltet ein plastisches topologisches Imaginarium; auch Delaume (2010: 15) zitiert die durch Michel Houellebecqs jüngsten Roman zu neuer Popularität gelangte Korzybski-Formel „La carte n’est pas le territoire“. Die Autofiktion ist ein imaginäres ‚Land‘, das Staatsbürgerschaftsprätendenten den „pacte délibérément contradictoire propre à l’autofiction“ (Genette 2004: 161) als quasi-bürokratische contrainte auferlegt (Delaume 2010: 18); schließlich (ibid.: 61) wird sie zur „utopie“ im strengen Sinne des Wortes erklärt. 30 Cf. Genon 2010: „Cet essai [ ] est une fiction Dans le sens que toute théorie est une fiction. Ou une autofiction qui théorise l’autofiction.“ 45 DDossier 31 Einer ähnlichen Strategie der gezielt ‚marginalen‘ Selbstverortung bedient sich auch Virginie Despentes, cf. etwa Despentes 2006: 9. 32 Delaume transformiert die autofiction („genre de magie noire“, Delaume 2012: 136), Doubrovskys Formel variierend, spielerisch zur autofixion: „Réel, d’événements et de faits strictement fictifs. Si l’on veut, autofixion“ (ibid.: 138). 33 Ähnlich evoziert auch Carrère (2009: 323) seine Vorbzw. Rücksichtsmaßnahmen bei der literarischen (Re-)Inszenierung von D’autres vies que la mienne. 34 Cf. auch den appellativen Schluss von Une femme avec personne dedans, Delaume 2012: 139sq.