eJournals lendemains 34/136

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2941-0843
Narr Verlag Tübingen
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2009
34136

Bericht vom 6. Franko-Romanisten-Kongress in Augsburg (24.-26.09.2008)

2009
Henning Krauß
ldm341360049
49 Colloques Bericht vom 6. Franko-Romanisten-Kongress in Augsburg (24.-26.09.2008) „Normes - Normen“ Henning Krauß Das Thema Normes / Normen mag in Zeiten, die vom mainstream des anything goes bestimmt sind oder bestimmt scheinen, überraschen. Gestatten Sie mir den Versuch, unser erkenntnisleitendes Interesse kurz am Kongressplakat zu exemplifizieren, dessen Vorlage übrigens aus den reichen Beständen der Oettingen-Wallerstein-Bibliothek in der Universitätsbibliothek Augsburg stammt, die Sie besichtigen können. Die häufig publizierte Darstellung der thronenden Nation / République versucht nicht weniger, als einen gerade erst eingetretenen, in seiner Fortexistenz keineswegs gesicherten, welthistorischen Umbruch durch seine Allegorisierung als gerechtfertigt, sanktioniert darzustellen, seine Unumkehrbarkeit zu demonstrieren. Vor Augen geführt wird der radikale Bruch mit dem für die damalige europäische Werteordnung selbstverständlich und unantastbar scheinenden Prinzip der Herrschaft von Gottes Gnaden und der sich aus ihr herleitenden, also auch transzendental abgesicherten ständisch-hierarchischen Gesellschaftsform. In ihr konnten nur diejenigen, die in den selben Stand hineingeboren waren, adäquat miteinander kommunizieren. Die Herren besitzen exklusiv den Verstand, so dekretiert Leibniz 1689, die Knechte nur dumpfe Körperkraft. Und was geschieht hundert Jahre später? Der deutsche Revolutionsbeobachter Johann Heinrich Campe beschreibt enthusiasmiert, dass ein unendlich buntes und vermischtes Publikum von Lastträgern und feinen Herrn, von Fischweibern und artigen Damen über Affichen und Bekanntmachungszettel, fliegende Blätter und Broschüren des Tages, in dicken, aber immer friedlichen und fast vertraulichen Haufen debattiert. Der Bruch mit den traditionellen ständischen, politischen, gesellschaftlichen Normen, der noch für unser aktuelles citoyen-Bewusstsein konstitutiv ist, führt auch zum veränderten Gebrauch der Sprache und zur Kreation neuer Medien, zu einem radikalen Strukturwandel der Öffentlichkeit. Neue Normen sind nie eine creatio ex nihilo. Sie müssen zu ihrer Legitimation mit vor-vergangenen Traditionen verknüpft werden, sich als Vollender von deren noch uneingelösten Verheißungen gewanden. Die Liktorenbündel und die Jakobinermütze, das bonnet phrygien der freigelassenen römischen Sklaven, verweisen zurück auf demokratisch-republikanische Ansätze in der Antike. Neue Normen sind aber auch nie sofort ausgereift, in sich abgeschlossen. Unter den erkenntnisleitenden und handlungsanleitenden Schlüsselwörtern fällt aus unserer Perspektive der Nachgeborenen sofort das Fehlen der FRATERNITÉ unter LIBERTÉ und ÉGALITÉ auf. FRATERNITÉ, aus dem Entwurf zur Déclaration des droits de l’homme 1789 noch getilgt, in der revolutionären Neufassung 1793 durch die Begriffe sûreté und propriété ersetzt, gewinnt erst im 34. Paragraphen der Constitution von 1793 die Würde eines normativen Kardinalbegriffs. Aber ist gerade fraternité nicht jene Norm, die historisch am wenigsten eingelöst wurde, vielleicht gar uneinlösbar ist? Normen fordern zur dauernden Auseinandersetzung mit ihnen heraus. Bewusst stehen sie auf unserem Plakat nicht gerade, sondern seitlich nach unten geneigt. Gegenstand unseres Faches - ich betone es gern immer wieder - ist das anspruchsvollste Langzeitgedächtnis der Menschheit. Die französische Literatur hat - in sich ständig wandeln- 50 Colloques dem Sprachgebrauch, in neuen Gattungen und Medien - wie kaum eine andere humane Leitbilder gegen knechtende Normen entworfen: Fin’amor, courtoisie, honnêteté, tolérance, liberté, égalité, fraternité, Leitbilder, deren Faszinationskraft - wie Erich Köhler sagt - der Tatsache zu verdanken ist, „dass sie wirkliche Entdeckungen sind, Entdeckungen, die ähnlich denjenigen der Naturwissenschaft, Stadien des Fortschritts sind. Sie sind somit Wesenselemente, die den Sinn der Geschichte mitkonstituieren - wenn es einen solchen gibt - und die daher ein verbindliches Erbe darstellen.“ Wissenschaft deutet die Vergangenheit für die jeweilige Gegenwart neu. Die von ihr vorgenommene Auswahl aus der Fülle des überlieferten Materials, ihre kritische Abstandnahme von Traditionen und ihre historische Anbindung an Traditionen ist weltanschaulich bedeutsam. Zentral thematisiert wird dieses Faktum in der Sektion unseres Kongresses, die die Situation unseres Faches im Jahr 1968 mit derjenigen 2008 vergleicht, also die Revision einer kulturellen Formation untersucht. Adaption und Subversion ehtischer und ästhetischer Normen bilden den Gegenstand gleich dreier Sektionen - von der frühen Neuzeit über die décadence bis hin zu den neuen Lebensdiskursen und Tendenzen zur Rückkehr romanesker Normen im französischen Gegenwartsroman. Zwei weitere Forschergruppen gehen bisher zu wenig diskutierten Fragen nach: Wie revolutionieren postkoloniale Forschungsansätze die traditionellen Diskurse über den Raum, und wie läßt sich der Anteil des offiziell nicht zur Francophonie gehörenden Israel in der frankophonen Literatur revalorisieren ? Folgt man dem Wunschdenken der Académie Française und konservativer Kulturpolitiker, so gilt - oder sollte noch immer gelten - die monozentrische Norm eines geographisch und soziokulturell verankerten bon usage für alle Französischsprecher weltweit. Gerade die Untersuchung aus nicht hexagonaler Perspektive erlaubt interessante Einblicke z. B. in die Entwicklung der syntaxe de l’oral, in die hybridation linguistique in der Frankophonie und deren mögliche Rückwirkung auf die Metropole. Von großer Bedeutung für die Zukunft unseres Fachs dürfte der Umgang mit den neuen Medien sein. Deshalb bin ich besonders gespannt auf die Ergebnisse der Sektion Le cyberspace francophone - kultur- und medienwissenschaftliche Perspektiven und die von Hans-Jürgen Lüsebrink geleitete Podiumsdiskussion Romanistik und Neue Medien. Das kurz beschriebene Kongressprogramm bietet Ihnen, liebe fachdidaktische Kolleginnen und Kollegen, eine breite Palette an Angeboten. Da Lehrpläne traditionellen Normen relativ nahestehen, müssen Sie - neben der Diskussion neuer Konzepte in ihrem genuinen Bereich - ihre kritische Auswahl treffen aus - wie der Untertitel einer Sektion heißt - Trends, Normen, Querdenken. Wir alle wissen, dass die Qualität der künftigen Studierenden der Franko-Romanistik kehr als mittelbar von Ihrer Arbeit abhängt. Noch ein letztes Wort - ein politisches - zu Normen. In Demokratien wird häufig dem Durchschnitt normative Qualität zugerechnet. Durchschnittlich liegt die Zahl der Französischlerner in der Bundesrepublik (nach Angaben des Statistischen Bundesamts) bei 21,4 %, in Bayern, dem Schlusslicht aller Bundesländer bei 9,6%. Möge dieser Franko-Romanisten-Kongress als Leistungsschau und möge die Arbeit des künftigen Vorstands zu einer Verbesserung beitragen!