eJournals lendemains 38/150-151

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2941-0843
Narr Verlag Tübingen
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2013
38150-151

Concordia discors: Das Wissen der Kritik

2013
Pablo Valdivia Orozco
ldm38150-1510044
08: 55 44 AArts & Lettres Pablo Valdivia Orozco Concordia discors: Das Wissen der Kritik Eine (Re-)Konstruktion mit Jean Starobinski 1 Im Epigraph der folio-Ausgabe von Montaigne en mouvement werden Jean Starobinskis Arbeiten wie folgt dargestellt: Professeur à l’université de Genève, Jean Starobinski a acquis, par ses travaux critiques qui ont renouvelé la notion même de littérature, une réputation internationale (Starobinski 1993 [1982]: 8). Nicht die „reputation internationale“ soll hier befragt werden - auch wenn dies eine eigene und lohnenswerte Frage einer mehr als bloß deutsch-französischen Rezeptionsgeschichte darstellt -, sondern jene geradezu monolithische Aussage, die im Zentrum dieses Satzes steht. Demnach sind es die „kritischen Arbeiten“ des Schweizers gewesen, die den Literaturbegriff erneuert haben. Klarerweise sind damit bewegte Debatten aufgerufen - man erinnere etwa an die Auseinandersetzungen um die Nouvelle Critique 2 -, die im Zuge einer „Erneuerung des Literaturbegriffs“ nicht zuletzt auch zu institutionellen Grundsatzdebatten führten. Und auch Starobinski selbst stellt in der zweiten Fassung 3 seiner Einleitung zu La relation critique eine solche Fragestellung an den Anfang: „Qu’il y ait de la littérature, que des études littéraires fassent partie de la culture, voilà ce qui commence à requérir un questionnement“ (Starobinski 2001: 11). Doch das ist zu weit und zu schnell auf ein anderes Terrain geschaut. Gleich zweierlei ist damit noch nicht verstanden. Zum einen: In welchem Sinne ist „critique“ oder auch kritische Arbeit dazu imstande, eine solche Umdeutung des Literaturbegriffs zu leisten? Zum anderen: Wogegen artikuliert sich dieser Literaturbegriff in Jean Starobinskis Studien, was verbindet sich bei ihm mit dem Begriff der Kritik, was revidiert er? Ich meine, dass es durchaus lohnenswert ist, auf diese Frage etwas ausführlicher einzugehen und sie aus der Evidenzrhetorik von Klappentexten und Lagerpolemiken zu herauszuführen. Was die Frage des Literaturbegriffs betrifft, wird man im zeithistorischen Kontext schnell fündig. 1966 kulminiert die Polemik zwischen Raymond Picard und Roland Barthes in dessen Buch Critique et vérité. Es sind die jeweils anders ausfallenden Literaturbegriffe der ‚ancienne critique‘ und der ‚nouvelle critique‘, die Roland Barthes hier charakterisiert. Dass dabei am Literaturbegriff mehr als bloß eine Bestimmung des Literarischen verhandelt wird, zeigt sich nicht zuletzt an der Metapher der Polizei, die Barthes für jene ‚ancienne critique‘ anbringt und mit der er ganz offenkundig eine institutionelle Ordnungsmacht anprangert, die qua literari- 45 AArts & Lettres scher Deutungshoheit Wahrheiten, Evidenzen und Normen gesellschaftlich höchst relevanter Fragen und Frageweisen verwaltet. Sucht man nun eine solche grundlegende Revision bei Jean Starobinski, wird man allenfalls in Ansätzen fündig. In der ersten, von 1970 stammenden Fassung der Einleitung von La relation critique steht obiges Zitat gerade nicht, wenngleich mehr oder minder explizit auf diese Polemik verwiesen wird, die sich, so der Schweizer, im besten Falle als eine Art reinigendes Gewitter herausstellen sollte (cf. Starobinski 1970: 20). In La relation critique, jenem Buch, das man durchaus als ein Parallelbuch zu Critique et vérité verstehen kann, findet sich ansonsten vieles und auch Grundsätzliches über Kritik, Text, Verstehen und auch Methode, auch über Wahrheiten, aber zunächst relativ wenig über den Begriff der Literatur selbst. Überhaupt fällt in diesem Kontext auf, dass Starobinski vielleicht der Intellektuelle seiner Generation ist, dem am wenigsten an einer Explikation (s)eines Literaturbegriffs gelegen war. Man denke etwa an Jauss’ Literaturgeschichte als Provokation oder auch Derridas L’écriture et la différence (beide 1967), um nur zwei zeitnahe Texte zu nennen, die den Begriff der Literatur bzw. Literarizität mit Emphase im Sinne einer Erneuerung problematisieren bzw. radikalisieren und ihrem Selbstverständnis nach durchaus eine wenn nicht epochale, so doch wesentliche Wende markieren, bei der, was die erkenntnistheoretischen Implikationen betrifft, keinesfalls eine nur literarästhetisch bedeutsame Frage verhandelt wird. Für Starobinski hingegen, der einen harten Bruch mit der Vergangenheit zumindest nicht als theoretisch-methodologisches Manifest vorgelegt hat, gilt nicht nur in einem stilistischen Sinne, was er über allzu detaillierte Ausführungen zu Methode und Theorie gesagt hat: „Il est plus élégant, assurément, d’en faire de l’économie“ (Starobinski 2001: 14). Dies wiederum unterscheidet ihn auch von einem ihm theoretisch durchaus nahestehenden Literaturwissenschaftler wie Jean-Pierre Richard, der in vielen Monographien und Aufsätzen sich explizit zum Status des literarischen Textes aus der Perspektive der critique thématique geäußert hat. Hat also oben zitierte Kürzestvorstellung zu viel versprochen? Mitnichten. Auch wenn sich bei ihm keine strengen Definitionen eines neuen Literaturbegriffs finden lassen, ist Starobinski weit entfernt davon, ein anti-systematischer Denker zu sein, auch - und ich würde sagen: gerade - weil er in einer gut helvetischen Position sich weder durch allzu weit reichende Explikationen hervorgetan noch in einer allzu aufgeladenen Rhetorik der epochalen Umbrüche aufgerieben hat. So hat er schon in seinen frühesten Arbeiten eine sehr grundlegende Fragestellung entwickelt, die ich hier als die Frage nach dem Wissen der Kritik umschreiben und vorstellen möchte. Jedoch: Nachzuzeichnen, welche kritische Arbeit welchen Begriff der Literatur erneuert hat, sich also in jene Explikation zu begeben, die Starobinski wohlweislich vermied, kann nun nicht bedeuten zu sagen, was Starobinski hätte sagen sollen oder können und einfach nicht gesagt hat. Vielmehr geht es mir darum, durch das, was sich als das Kennzeichen seiner kritischen Arbeit profilieren lässt, einen Begriff von Kritik und ein Wissen der Kritik zu entwickeln, deren erneuernde Dynamik sich sehr grundlegend der Arbeit an und 46 AArts & Lettres mit literarischen Texten verdankt, im literarischen Text ihr Paradigma findet und deren Ziel zumindest nicht in erster Linie die Bestimmung der Literatur, nicht einmal von Literarizität in einem engeren Sinne war. Dermaßen offen und unbestimmt formuliert, ist offenkundig, dass ich in dieser Erneuerung nicht einfach eine auf Literatur zu begrenzende definitorische Leistung sehe, sondern ein Kennzeichen von kritischer Arbeit überhaupt, sofern diese sich gar nicht anders artikulieren kann als im Gestus und auch im Vollzug einer Erneuerung. Ganz in diesem Sinne ist auch dieser Aufsatz als Kritik einer Kritik ein Vollzug der erneuernden Dynamik von Kritik selbst. So eng ich mich also bei meiner Argumentation an Starobinskis Text halten werde, handelt es sich nicht um eine Exegese, sondern um eine Artikulation und Transformation eines Diskussions- und Begriffsstandes von Kritik, den ich für die geradezu konstitutiv gewordenen Debatten um das Fach Literaturwissenschaft fruchtbar machen möchte. Dass Transformation im Sinne einer Erneuerung nicht notwendigerweise einer Absage an das Transformierte gleichkommt und dabei dennoch mehr sein kann als eine bloße Aktualisierung, ist nicht zuletzt auch ein Kennzeichen kritischer und hier: metakritischer Arbeit. Wenn einerseits nicht die Definition des Literarischen der eigentliche Motor der Erneuerung ist, sondern geradezu umgekehrt Literatur das Paradigma für einen Gegenstand darstellt, der der Erneuerung bedürftig, ja ohne diese nicht denkbar ist und wenn andererseits die dieser Erneuerung korrespondierende Praxis Kritik sein soll, stellt sich natürlich die Frage nach dem Verhältnis von Literatur und Kritik. Dass die Differenz zwischen Literatur und Kritik eine bestehende, aber doch keine wesenhafte ist, wird Starobinski fast zeitgleich zu Paul de Man (wenngleich auch anders motiviert) festhalten. Literatur und Kritik (bzw. critique und criticism, zwei durchaus und anders als im Deutschen klarerweise auch disziplinär konnotierte Begriffe) sind trotz aller Differenz doch nur zwei Seiten einer Medaille, sofern - frei nach dem auch von Starobinski in La relation critique (2001: 50) zitierten Baudelaire - jeder Poet früher oder später, „naturellement, fatalement“, Kritiker wird und sofern - so Starobinksi (2001: 55) ebendort - die Kritik selbst Ereignis, ja Werk wird. Ohne dass dieses double bind von Literatur und Kritik damit schon evident wäre, ist hier doch eine andere Perspektive eingenommen als die der Starobinski ja bestens und auch persönlich bekannten Rezeptionsästhetik der Konstanzer Schule, die jene immer wieder zu leistende Erneuerung der Literatur ihrerseits zum Anlass genommen hat, den Literaturbegriff zu revidieren, die Erneuerung am Literaturbegriff selbst auszuhandeln, statt das Prinzip (oder besser: den ja nicht selbstverständlichen Ausgangspunkt) der Erneuerung selbst zu befragen. Es geht mir also um eine am (idealtypischen) literarischen Text (ebenfalls idealtypisch) zu veranschaulichende ‚Situation‘, die eine Erneuerung qua Kritik auf den Plan ruft. Diese zeitliche Komponente wiederum, die sich in dem Gebot zur Erneuerung andeutet und auf die ich weiter unten wieder zu sprechen kommen werde, halte ich für jenes Element, das eine solchermaßen verstandene Kritik von Theorie oder Methode unterscheidet. Die Explikation dessen, was kritische Arbeit sein kann, ist 47 AArts & Lettres also auch im Spannungsfeld der Trias Theorie, Methode und Kritik zu verorten - eine für die Disziplin Literaturwissenschaft zweifelsohne begründende Konstellation. Theorie und Methode sind dabei nicht per se abzuwerten, sondern funktional und auch rhetorisch auf einer anderen Ebene anzusiedeln. So bleibt die Disziplin der Literaturwissenschaften ihrer nicht zuletzt deshalb bedürftig, da es die Debatten um eben Theorie und Methode sind, die gewissermaßen den Stand der Disziplin und ihres Wissens innerhalb des akademischen Fächerkanons markieren. Nur folgerichtig ist dieser Bedarf an Statik, an Stabilisierung und Absicherung - eine den immerzu Bewegungen studierenden Starobinski wohl kaum faszinierende Fragestellung - daher eher der Theorie und Methode zu unterstellen, als es hier mehr um eine - zwar selbst immer wieder zu erneuernde - Absicherung des Gegenstandes als wissenschaftlichen Gegenstand geht denn um die Erneuerung aus dem Gegenstand selbst. Ohne dass Starobinski selbst eine immerzu scharfe oder gar systematische Unterscheidung dieser begrifflichen Trias vornimmt, ist sie doch immer wieder spürbar und als diskret-ironische Spitze besonders in folgender Aussage auszumachen: „Je me limiterai à une réflexion générale concernant la théorie et les méthodes qui prennent pour objet la littérature, et qui cherchent aujourd’hui à se définir comme des disciplines sûres de leur propos“ (2001: 11). Man muss nicht sehr gegen den Strich lesen, um in der Beschreibung der Literatur als „Objekt“ und vor allem im erklärten Ziel von Theorie und Methoden, vor allem sich selbst zu etablieren, eine Situation der „allgemeinen Reflexion“ zu erkennen, in der die Erneuerung qua kritischer Arbeit nicht oberstes Ziel ist und die obendrein ziemlich genau das Gegenteil dessen beschreibt, was ich mit Starobinski als das Projekt einer Kritik und ihrer ‚Situation‘ entwickeln möchte. Dass eine solche Explikation nicht notwendigerweise im Gegensatz zu der für Starobinski zweifelsohne charakteristischen Eleganz der Ökonomie steht, begründet sich zum einen damit, dass auch diese Explikation als eine erneuernde Transformation zu verstehen ist, als ein Versuch, jene Situation der Kritik qua Kritik lesbar zu halten, sofern auch Starobinskis Arbeiten uns als ‚Texte‘ entgegentreten. Zum anderen ist das Ökonomiegebot - erst recht im Kontext seiner Zeit - gerade nicht als Auftrag zur Vermeidung von (meta-)theoretischer Reflexion zu verstehen. Worum es in diesem Ökonomiegebot geht, ist vielmehr die Sorge, qua Methode den Gegenstand zu ersetzen, gewissermaßen in der „allgemeinen Reflexion“ zu verharren. Einer solchen Lektüre wäre der Gegenstand lediglich Durchgang zu einer Methode oder Theorie, die dann als eigentlicher Erkenntnisgewinn zu verbuchen wären. Das, was den Gegenstand auszeichnet, wäre sodann in einer „allgemeinen Reflexion“ aufgehoben, ja ‚erfolgreich verdrängt‘, um es hier nicht unpassend mit einem psychoanalytischen Begriff auszudrücken. In der späten Einleitung zu La relation critique nimmt Starobinski sich dieser Problematik an, indem er Begriff der „relation“ auch in einem wörtlichen und gerade deshalb ja auch metaphorischen Sinne 4 für eben jene Situation der Kritik expliziert; wenn die glückliche Beziehung der Kritik die nur schwer zu überset- 48 AArts & Lettres zende „conjugalité“ (Starobinski 2001: 52) sein soll, dann entspricht, die Metapher weiter ausbuchstabierend, ihr als Gegenpol die Einsamkeit: „La solitude est aussi grande quand l’œuvre est abordée à seule fin de prouver le bien-fondé d’une théorie [ ]“ (51). Die Metapher der partnerschaftlichen, ja ehelichen Beziehung, so expliziert es Starobinski selbst an anderer Stelle, nimmt zentrale Metaphern und Begriffe der deutschsprachigen Hermeneutik auf und lässt sich in diesem Sinne durchaus als eine Metapher für den hermeneutischen Zirkel begreifen: Dialog und Veränderung des Selbst, Verstehen aus dem Leben heraus etc. Eine entscheidende Differenz jedoch ist just an diesem letzten Begriff auszumachen. Sich auf die spezielle Zeitlichkeit des hermeneutischen Zirkels beziehend, stellt Starobinski zunächst einmal klar, dass diese als ontologische zu denken ist und außerhalb seines Fragehorizonts liegt. 5 Eine absichernde Bescheidenheitsformel, der ich aber doch eine andere Pointe unterstellen möchte: Das Leben, jener Begriff, der hier den Platz des Ontologischen einnimmt, ist bei Starobinski nicht aus der Tradition der ontologischen Fragestellung heraus formuliert, sondern als ein Erleben im psychoanalytischen Sinne entworfen. Auf die Kritik hin bezogen, kann dies nur heißen, dass die Situation der Kritik nicht von der Geschichtlichkeit des Seins abzuleiten ist, sondern eine sehr spezifische Geschichtlichkeit beschreibt, die sich vor allem symbolisch und im weiten Sinne textlich vermittelt. Die Wendung „L’empire de l’imaginaire“, Titel des zweiten Teils von La relation critique, gibt hiervon eine Ahnung. Die Beziehung zum Text wird hier jedenfalls nicht als eine zu einem mehr oder minder abstrakten oder idealtypischen ‚Anderen‘ entworfen, sondern - und auch hier zeigt sich die weitgehende Implikatur der Metapher - als die zu einer Person des realen Zusammenlebens. 6 Im „Dialog“ verhandeln und explizieren sich nicht nur Vorurteile des (eigenen) Verstehens, sondern insbesondere die möglichen Imaginationen einer Beziehung. Anders gesagt: Das Verhältnis von Alterität und Identität wird gerade nicht externalisiert, sondern in einem Verstehenden verortet, der in sich selbst das Verhältnis von Autonomie und Heteronomie auszutarieren hat. Wie das „aussi“ es ja schon anspricht, droht die Einsamkeit ebenso im anderen Extrem. Auch eine rein immanente Lektüre bzw. eine nur auf der Ebene der Artikulation verharrende Lektüre vermag das Wesentliche nicht zu erkennen. Das Wesentliche - ein starker Ausdruck, der hier nicht einem Wesen des Werkes geschuldet ist, sondern der Ereignishaftigkeit der kritischen Lektüre, die anders als die rein immanente Lektüre insofern eine glückliche Beziehung zu etablieren weiß, als sie in ihrer Ereignishaftigkeit der des Werkes antwortet und ihr entspricht, aber dabei ein anderes Ereignis bleibt bzw. wird und gerade deshalb nicht mit dem Werk identisch sein kann: En sauvegardant la conscience de sa différence - condition de sa relation - le critique écarte le risque du monologue. Car, d’une part, prolongeant l’œuvre, trop soumis à sa loi, abondant dans le sens du livre qu’il vient de lire, il parlerait encore seul et ne renverrait qu’à lui-même (Starobinski 2001: 50). 49 AArts & Lettres Zur Debatte steht, wie mit einem Gegenstand verfahren werden soll, der von einer eigentümlichen Mischung aus Positivität und Negativität geschlagen ist; positiv, sofern es immer um bedeutungstragende, strukturierte und materiell vorhandene, mit einer ‚verführerischen‘ 7 Eigenlogik ausgestattete Gegenstände geht und negativ, sofern ihr formkonstitutives Moment eine selbst nicht restlos positiv zu vergegenwärtigende Negativität ist, die Starobinski ausgehend von seinen Spitzer-Lektüren mit dem Terminus „écart“ 8 bezeichnet. Entscheidend ist also das Doppel, die concordia discors: „Pour nous qui la confrontons à ce qui l’environne, l’œuvre est une concordia discors, doublant la positivité des rapports qui constituent sa forme matérielle par une négativité qui en excite l’essor illimité“ (Starobinski 1970: 22). Man sieht leicht, welche Extreme in diesem Doppel der concordia discors enthalten sind und welche Verkürzungen drohen, wenn man sie nicht zugleich im Blick behält bzw. wenn man im Textbegriff der Kritik (dessen Genese noch zu bestimmen sein wird) nicht dieses Doppel mitdenkt: Sich nur auf die Struktur eines (literarischen) Textes zu beziehen, mag zwar einer Theorie der Bedeutung und der Struktur förderlich sein, wird aber kaum jene Form von oftmals widerständiger, der Form eingelassener, aber nicht einmal implizit sich markierender Negativität zu erfassen erlauben, durch welche der (literarische) Text erst in einem sehr spezifischen Sinne historisch (und sodann auch mehr als bloß historisch) wird. Eine Lektüre, die wiederum nur die Widerständigkeit, die Idiosynkrasie eines Textes behandelt, ihn also nicht auch im zurückgewiesenen oder auch überstiegenen Kontext begreift, wird schwerlich anderes leisten können als eine Paraphrase, wie im Grunde auch jene Lektüre, die den Text restlos kontextualisiert und dabei nur eine andere, schon woanders ausgemachte These paraphrasiert. Aus dem Dualismus von Theorie / Methode einerseits und der Idiosynkrasie des Werkes andererseits scheint nur ein Wissen der Kritik zu weisen, das sich nicht in einer propositionalen Aussage über einen Gegenstand bzw. in einer prozeduralen Anleitung zu dessen Erschließung erschöpft, sondern im Zuge ihrer Bewegung sich selbst als Relation vergegenwärtigt: Assurément, si la critique est un savoir [ ], elle doit tendre, à travers le savoir du particulier, à la généralisation de ses découvertes: du même coup, elle doit en arriver à se comprendre elle-même, ou, mieux encore, à se déterminer elle-même en fonction des fins qui lui sont propres. Chacun des ouvrages particuliers auxquels elle s’attache n’est qu’une transition vers une connaissance à la fois plus différenciée et plus intégrative de l’univers de la parole littéraire: elle s’achemine vers une théorie (au sens de theoria, contemplation compréhensive) de la littérature. Toutefois cette généralisation du savoir critique reste en perpétuel devenir: la critique gagne à se tenir pour inachevée, voire à revenir sur ses pas, à recommencer son effort, faisant en sorte que toute lecture reste une lecture non prévenue, une rencontre simple, sur laquelle aucune préméditation systématique, aucun préalable doctrinal ne fassent d’abord ombre (Starobinski 1970: 12-13). Statt einer quasi-sakralen Erhöhung des literarischen Textes, statt einem Fetisch des Einzelfalls zu frönen, findet sich hier, als die Spannung zwischen dem Besonderen und dem Allgemeinen formuliert, ein erster, durchaus systematischer Hin- 50 AArts & Lettres weis darauf, dass sich am literarischen Text ein Problem der Methode, welches immer auch eine Frage der Erkenntnis ist, exemplarisch verhandeln lässt. Die Unmöglichkeit einer systematischen Vor-Gabe und auch die Zeitlichkeit eines andauernden „Werdens“ („devenir“) verdanken sich offenkundig auch jenem anfänglichen und begründenden „refus“, der das literarische Werk „ungleichzeitig“ macht und den die Kritik in einer Art Wiederkehr des Gegenstandes („revenir“) aufzuarbeiten hat. Es ist also jener erste „écart“ des Werkes selbst, jene bei Montaigne 9 und Rousseau 10 von Starobinski ja als konstitutiv ausgemachte Haltung, die im literarischen Text - und ich würde präzisieren: im neuzeitlichen Verständnis von literarischer Fiktion als kontextueller Eigensinn 11 - ein Paradigma findet und so die ‚Situation‘ der Kritik präfiguriert: [ ] le langage d’une œuvre littéraire et le langage de la culture environnante ne sont pas consubstantiels et ne peuvent pas être anastomosés bout à bout, pour livrer passage à un système unitaire et cohérent de significations. Il n’est pas besoin de rappeler que la plupart des grandes œuvres modernes ne déclarent leur relation au monde que sur le mode du refus, de l’opposition, de la contestation (Starobinski 2001: 21). Die Rede von „œuvres modernes“ verrät bereits, dass Literatur nicht einfach im Sinne eines nicht-faktischen Symbolsystems gemeint ist, sondern für eine historische Situation einsteht, die sich immer schon als eine solche historische weiß und in diesem Selbstbezug transgressiv sein kann: [ ] dès l’instant où la parole poétique, cessant de se réduire au seul jeu réglé, cesse d’être l’exorcisme de la transgression pour devenir elle-même transgressive - une dimension d’histoire s’introduit dans la culture, dont un structuralisme généralisé peut malaisément rendre compte (Starobinski 2001: 20sq). Das Zeitalter der Kritik wird so denkbar als ein Zeitalter der Literatur und seine besondere Historizität ist auch die der Literatur (im jeweils neuzeitlichen Sinne): „Avant la ‚littérature‘, il y a eu très longtemps des emplois forts du geste et du langage qui n’admettaient aucune critique. Ce furent des rituels. Ils marquent un degré nul de la critique“ (Starobinski 2001: 17sq). Dass die Form die Transgression selbst sein kann - um auf das vorletzte Zitat zu sprechen zu kommen -, benennt eine historische Situation, in der die Form nicht das Vehikel einer inszenierten und sodann befriedeten Transgression ist, sondern als Form selbst die Transformation vollzieht. Es ist nur folgerichtig, dass Starobinski in seinen beiden vielleicht grundlegenden Arbeiten, denen zu Montaigne und Rousseau, zwei Denker behandelt, bei denen er als zentrale Frage die der Transformation ausmachen kann und genauer: die Transformationen von Transformationen, die, sofern es hier ja auch um textliche, ja textgeschuldete Transformationen geht, sich an und mit der Form selbst vollziehen. Er mag an diese beiden gedacht haben, wenn er schreibt: „un homme, en devenant l’auteur de cette œuvre, s’est fait autre qu’il n’était auparavant“ (Starobinski 1970: 23). 51 AArts & Lettres Dass Kritik eine historische Situation voraussetzt, die von einem „structuralisme généralisé“ nicht erfasst werden kann, macht die Ausnahme, den „écart“ zur historischen Regel. Das Wissen über den Menschen, das den „sciences humaines“ eigen ist, hat sich nicht nur an dem „comportement moyen“ zu messen, sondern auch und womöglich vor allem an dem, „ce que l’homme a de plus libre et plus inventif“ (1970: 30). Freiheit und Erfindung stehen hier nicht unbedingt für die individuelle Freiheit und die uneingeschränkte Erfindungskraft. Vielmehr handelt es sich um einen soziohistorischen Zustand von Kultur, der eine Vielfalt an Beziehungen und Ungleichzeitigkeiten zulässt, ja notwendig macht. Dies zumindest lässt sich ex negativo aus der durchaus differenzierten Beschreibung eines dem „structuralisme généralisé“ gemäßen Zustandes ableiten, der für den écart keine Verwendung hat: [ ] cherchant ainsi à dissoudre l’œuvre dans la culture et dans la société, non point pour discerner derrière les œuvres un déterminisme particulier, mais pour tenter de mettre en évidence un logos d’une culture et d’une société données. [ ] Cette méthode est en droit d’attendre son plein succès toutes les fois qu’elle aura affaire à des cultures stables, quasi immobilisées, et dont tous les éléments entretiennent entre eux des rapports fonctionnels de même nature, contribuant à fixer et à perpétuer l’équilibre culturel établi (Starobinski 2001: 19-20). Diese quasi-mythische, sicherlich zu einem guten Teil konstruierte Ausgangssituation einer stabilen und statischen Kultur hat insofern kein Problem der Form als Form, sofern die Form nur artikulierendes Oberflächenphänomen des kulturellen „Logos“ ist. Nur in dieser Situation ist es sinnvoll und denkbar, Erscheinung und Essenz zu unterscheiden - eine wirkungsmächtige Unterscheidung, die in der Philosophie und ihrer Ästhetik eine illustre, oftmals problematische Karriere gemacht hat. All dies mag allzu offenkundig, der Explikation kaum wert erscheinen, bereitet aber die zentrale Pointe aller Bewegungs-Lektüren Starobinskis vor, jener Bewegung, die jedwede Rede von Erneuerung erst einsichtig macht. Es ist nämlich jene Form selbst Transgression, die das, was sie artikuliert, nur als Form und qua Form artikulieren kann: La „forme“ n’est pas le vêtement du „fond“, elle n’est pas une apparence derrière laquelle se dissimulerait une plus précieuse réalité. Car la réalité de la pensée consiste à être apparente; l’écriture, loin d’être le truchement douteux de l’expérience intérieure, est l’expérience même (Starobinski 2001: 18). Kritik, als Diskurs des Wissens, der selbst der Form bedürftig ist, sich selbst in seiner Form zu thematisieren hat und das weiß, ist deshalb dezidiert keine Explikation einer Essenz und hat somit notwendig teil an jener Transgression, die sie im Gegenstand erkennt. An dieser Stelle kommt die Doppelfunktion des écart zum Tragen: So beschreibt er zum einen, dass der Gegenstand als ein nicht durchschnittlicher stets ein auch aus seinen eigenen Beziehungen heraus zu deutender ist. Zum anderen jedoch bedient er sich, in einem aber stets historisch konnotier- 52 AArts & Lettres ten ‚refus‘ stehend, einer Sprache, die nie nur ganz seine ist, so dass er mit sich als Struktur oder auch Aussage nicht vollends identisch sein kann bzw. allenfalls in der stets höchst spezifischen und strukturell nicht notwendigerweise durchschlagenden Bewegung des ‚refus‘. Genau an dieser Stelle zeigt sich das grundlegend psychoanalytisch geprägte Verständnis von Starobinskis ‚Identitätsbegriff‘. Explizit und in nuce im Montaigne-Buche findet sich, was statt der Essenz zu erwarten ist: [ ] l’inspection du moi, quelle que soit sa progression intérieure, n’acquiert jamais rien d’autre que la connaissance musculaire du mouvement même de l’inspection. Ce que Montaigne nous communique, ce n’est pas le détail mieux connu d’une réalité confuse sur laquelle sa saisie cherche à s’appliquer, mais les aspects toujours plus riches d’une conscience et d’un corps qui s’apprêtent à l’acte de saisir. On peut sans doute rappeler ici la notion de sens musculaire, ou de la sensibilité proprioceptive [ ], dont se servent les physiologistes pour designer l’information qui, à partir de l’état de contraction des masses musculaires, nous avertit de la posture de notre corps. [ ] La connaissance de soi, pour Montaigne, c’est la sensation proprioceptive „exquise“ du mouvement par lequel il s’élance vers la connaissance de soi (Starobinski 1982: 272). Und eine Seite später als allgemeine These formuliert: Peut-être n’avons-nous rien de plus important à découvrir: notre vrai moi n’est pas la réalité obscure et inconsistante vers laquelle se tend l’effort inachevé de la connaissance, il est cette tension et cet inachèvement mêmes (Starobinski 1982: 73). Vor dem Hintergrund eines solchen ‚Identitätsbegriffs‘ ist es nur konsequent, die Transgression im Werk selbst und nicht in einem vorgängigen „moi“ zu verorten. Das gilt selbstredend auch für das, was man in diesem Sinne die Identität der Kritik nennen könnte. Hier lässt sich ermessen, welche Rolle dem Thema zukommt und in welchem Sinne und bis zu welchem Grade Jean Starobinski der critique thématique zugerechnet werden darf. Das Thema nämlich ist genau jene Instanz, in und an der sich jene selbstreflexive Bewegung artikuliert. 12 Doch liegt die besondere Pointe des Themas bei Jean Starobinski darin, dass es reichlich unthematische Themen sind, die er kommentiert. Das Zentralmotiv der Bewegung etwa, das vollkommen zutreffend den ihm gewidmeten Band Starobinski en mouvement tituliert hat, ist ja keines, das lediglich eine Phänomenologie der Bewegung zum Thema hätte, sondern benennt ein Prinzip, durch welches die Spezifik eines Textes sich mit seinem Kontext vermittelt und gleichzeitig von diesem abhebt und abgrenzt. So sehr also die Bewegung eine immer auch literal zu verstehende Frage darstellt, bezeichnet es zugleich ein Prinzip, durch das sich eine Bewegung hervorbringt, die selbst keine Positivität zu verbürgen hat, sich von keiner Ur-Essenz ableiten lässt. Es ist der Form folglich stets eine Metakinesis eingelassen, der eine bestimmte Nicht-Identität konstitutiv eigen ist bzw. deren ‚Identität‘ allenfalls die Bewegung selbst ist und nicht anders nachvollzogen werden kann denn durch Transformation qua Form. 53 AArts & Lettres Inwiefern ist dies eine Ausgangslage, die Kritik auf den Plan ruft, einen Wissenstypus Kritik notwendig macht? Ohne an dieser Stelle ausführlicher auf das Verhältnis von écart und Thema einzugehen, möchte ich doch anführen, dass diese reflexive Bewegung nicht nur eine bestimmte Qualität des Gegenstandes beschreibt, sondern wie bereits angedeutet auch die Arbeit der Kritik als eine Arbeit am Text präfiguriert. Diese Bewegung setzt sich nun gerade nicht dadurch fort, dass etwas im Verstehen sich bewahrt und sodann artikuliert - ein grundlegendes Verstehen ist vorausgesetzt und auch gar nicht die eigentliche Frage -, sondern dadurch, dass es zur Form gelangt, die weder eine ganz eigene noch eine ganz andere ist. Das meint: Form ist gerade nicht die nachträgliche Explikation. Genau dieses ‚Formwerden‘ ist die entscheidende Gemeinsamkeit zwischen kritischem Diskurs und künstlerischem Werk. Das Verfahren als ein besonderes das Wissen der Kritik besteht nun darin - sich in diesem Punkt vom Werk nur bezüglich der Vorgaben unterscheidend -, eben diese Bewegung selbst in einer Lektüre, ja einem Text zu explizieren, der selbst, indem er die Bewegung zum Thema hat, eine Bewegung vollzieht, die Dinge verrückt. Denn die Erkenntnis eines Werkes kann sich für einen Leser wie Starobinski nicht nur in der Binnenlogik eines Textes erschöpfen, sondern verlangt, dass man auch die Bewegung des Textes nach-vollzieht, also die Transformation einer Transformation, die Transgression einer Transgression. Kritik ist hier in einem auch ganz wörtlichen Sinne eine Praxis, die auf Text nicht verzichten kann. Was aber leistet diese Transformation zweiten Grades? Was passiert mit dem écart im ja nicht unmethodischen Vorgehen der interprétation critique? Bis zu einem gewissen Grad darf man hier zu Recht von einer qua Kritik erfolgten (Re-)Integration („récupération“) sprechen: „[ ] écart qui trouve sa forme superlative dans l’excès déréglé de certaines œuvres extrêmes - mais que la culture récupère ou tente de récupérer pour le langage commun, par la voie (notamment) de l’interprétation critique“ (Starobinski 1970: 25). Offenkundig stellt sich die Frage: „la généralisation du discours critique ne faitelle pas apparaître un autre risque? “ (ibid.). Die Verflachung der Assimilation droht, wenn Kritik die Integration als Auflösung der Differenz begreift und die Transformation in einer abgeschlossenen Übersetzung erfasst sieht, sich der provisorischen Zeit des Werdens entledigt. Sich explizit gegen eine hegelsche Integration der Negation, des refus, stellend, deshalb auch eine andere Geschichte als die der Annäherung oder auch Vervollkommnung erzählend und immer auch auf sehr spezifischen, die Negation nicht formalisierenden Zusammenhängen bestehend, macht Starobinski diese Differenz als Differenz zum Thema von Kritik: Nous aplanissons. L’irrégularité turbulente, le scandale, la contradiction dans les œuvres et entre les œuvres, l’altérité deviennent les thèmes d’une parole cohérente et calme qui abolit dans la compréhension les déchirures dont elle rend compte. [ ] Mais la compréhension critique ne vise pas à l’assimilation du dissemblable. Elle ne serait pas compréhension si elle ne comprenait pas la différence en tant que différence, et si elle n’étendait pas cette compréhension à elle-même et à sa relation aux œuvres. Le discours critique se sait, en 54 AArts & Lettres son essence, différent du discours des œuvres qu’il interroge et explicite. Pas plus qu’il n’est le prolongement ou l’écho des œuvres, il n’en est le substitut rationalisé. (Starobinski 1970: 25sq.). Auch im Montaigne-Buch findet sich dieser Einwand gegen eine sich geschichtsphilosophisch nennende Totalintegration, wenn es gilt, das Phänomen des Einzelnen nicht unter eine große Geistesgeschichte zu subsumieren und so gleichzeitig - so ein Kommentar zu Artaud - einer Widerständigkeit zu entkommen, die Gefahr läuft, selbst institutionalisiert zu werden: La réhabilitation des phénomènes (le „phénoménisme“), la valeur extrême conférée à l’instant, le recours à l’expérience sensible sont les conséquences bien connues du doute sceptique. Aussi bien, en milieu chrétien, le fidéisme. On peut lire cela dans les histoires de la philosophie. Et l’on pourrait croire dès lors que le terme final où accède le mouvement de Montaigne est défini d’avance. Mais on ne peut le désigner sous cette forme qu’au prix d’un schématisme extrême (Starobinski 1982: 8sq). Gibt es für das Verstehen eine andere Zeitlichkeit als die einer abstrakten, integrierenden Zeit? Welche zeitliche Dynamik prägt das Wissen der Kritik, die, obgleich nicht reine Singularität, doch nicht auf einen „schématisme extrême“ zielen kann? Auch hier bietet es sich an, in Abgrenzungen zu argumentieren: Während die Integration durch Theorie im engeren Sinne eine eher antizipierende Bewegung ist - „La théorie, en un sens, est une hypothèse anticipatrice sur la nature et les rapports internes de l’objet exploré“ (Starobinski 1970: 9) - und die Integration der Methode eine tendenziell nachträgliche Figur ist - „Elle [sc. la réflexion méthodologique, PVO] ne s’explicite que véritablement qu’en postface“ (11) -, zeichnet Kritik ein besonderes Präsens aus, das sich eben diesem der Form eigenen Doppel von Positivität und Negativität verdankt und das deshalb nur als Erneuerung wissbar ist, da es sich notwendigerweise in einer neuen, anderen Form artikuliert. Methode und Theorie haben in diesem Sinne keinen Bedarf an einer solchen Form, die sich auch in ihrem Formwerden selbst reflektiert. Diese doppelte Zeitlichkeit - das Werk wird Präsenz im Präsens der Kritik - zeigt sich in der besonderen Lektüre, um nicht zu sagen: ‚Methodik‘ von Kritik. Sie ist selbst integrativ, aber nicht im Sinne von Passung und Versöhnung, sondern eher von Übergängen, Parallelen, Perspektivierungen, Versetzungen oder auch Arrangements oder - um es gemäß der räumlichen Metaphorik des écart-Begriffs zu sagen - eines „déplacement“: 13 Quelle que soit l’importance que nous pouvons attribuer à certaines techniques, force est bien de constater qu’aucune méthode rigoureuse ne régit le passage d’un plan à l’autre, c’est-à-dire de la compétence d’une technique à la technique d’une autre technique. [ ] il [sc. le progrès de la recherche, PVO] n’est pas seulement constitué par l’inventaire scrupuleux des parties de l’œuvre et par l’analyse de leurs correspondances esthétiques; il faut qu’intervienne de surcroît une variation de la relation établie entre le critique et l’œuvre - variation [ ] grâce à laquelle aussi la conscience critique se conquiert elle-même, passe de l’hétéronomie à l’autonomie (Starobinski 1970: 13sq). 55 AArts & Lettres „[L]’écriture [ ] est l’expérience même“ (Starobinski 2001: 40), und ebenso ist auch Kritik erst dann eine historisch Sinn stiftende Transformation des Werkes - und das meint: eben auch eine eigene, autonome Form -, wenn sie sich selbst als Form in dieser Konstellation von Schauplätzen verfasst und artikuliert. Der Kritik wird eine Autonomie verleihende Ereignishaftigkeit zueigen, die sie - wie das Werk - ebenso historisch wie mehr-als-bloß-historisch macht, nicht die, sondern eine Geschichte in sich verdichtend. Überlegungen dieser Art finden sich in einem Text wieder, der - womöglich gerade weil er nichts Literaturtheoretisches zu explizieren hat - unter dem Gewand des Historischen sich der Metapher des literarischen Textes bedient. Entscheidend ist dabei, dass diese Metapher sowohl die materielle Seite des Textes meint - er steht immer in einem anderen Kontext als dem, den er selbst evoziert - wie auch die Logik der Narration und Komposition. Die Rede ist von Starobinskis Revolutionsbuch, wo er die alles andere als evident-kausale Beziehung der Französischen Revolution zu ihrer Kunst bzw. Formsprache zum Anlass einer kritischen Lektüre des Jahres 1789 nimmt: Mais la pure coïncidence [sc. des œuvres d’art et de la Révolution, PVO], ici, n’est pas dénuée de signification. La Révolution, elle aussi, procède d’une pensée et d’un climat moral antécédents: elle en est l’affleurement à ciel ouvert. L’histoire de l’année 1789, sanction véhémente d’une transformation sociale préparée et déjà partiellement accomplie de longue date, développe une série d’évènements spectaculaires, enchaînés comme les scènes d’une tragédie, éclairés par un rayon d’une rare intensité: plus que pour tout autre moment de l’histoire, nous avons l’impression qu’un texte s’offre à nous (Starobinski 2006 [1973]: 196, Hervorhebung PVO). Im Komplementärbuch zu Les emblèmes de la raison, dem 1964 erschienenen Buch L’invention de la liberté, findet sich erneut die Metapher der zu lesenden Form. Hier ist die Rede von einer Figur, die natürlich Werk der Kritik ist, so wie zuvor die Integration der Übergänge zwischen den verschiedenen Niveaus eines Textes eine Leistung der kritischen Lektüre war: Le dessein de ce livre est de raviver l’attention à ce qui s’est manifesté au XVIII e siècle dans les domaines conjoints des beaux-arts et de la pensée philosophique. J’ai tenté de percevoir et de comprendre, selon leur mode d’apparition, les expériences qui ont pris figure au long du siècle et lors de la crise révolutionnaire. Comme on lit une physionomie, j’ai voulu attribuer sens historique aux diverses mises en spectacle élaborées par les artistes (Starobinski 2006 [1964]: 7, Hervorhebung im Original). Im Text-Bild, der Text-Figur, die die kritische Lektüre somit produziert, erweist sich die Lektüre als eine interästhetische Praxis, deren entscheidender Einsatz nicht Wahrheit ist, sondern ein gewisser „sens historique“, der nun weder im Präsens der Ereignisse liegt noch in dem der Lektüre. Dieser Sinn lässt sich unter nicht mehr mythischen Bedingungen am ehesten an einer spannungsgeladenen Form ablesen, sofern die Form gerade nicht mehr unmittelbarer Ausdruck einer Zeit ist, 56 AArts & Lettres sondern durch die Brechung eines „refus“ Historizität als Ungleichzeitigkeit zu begreifen und bewahren erlaubt. Die entscheidend historische Frage der Kritik lautet nicht, was die Sachen an sich waren, sondern in welche jeweils erneuerte Konjektur sie sich fügen. Nicht der Ur-Text, um im ‚Bilde‘ zu bleiben, ist Aufgabe der Kritik und ihrer Situation, sondern der historische Sinn sowie der Sinn für das Historische. Damit ist auch der Gegenstandsbereich der Kritik umschrieben. Nur solche Dinge sind mit historischem Sinn zu versehen, die auch der Form bedürftig sind, in eine Form gebracht, als Form verhandelt werden können und das meint: nur qua Form vermittelbar sind. Ein hierfür klassisches, bei Starobinski immer wieder auftauchendes Problemfeld sind die Anfänge, die vermeintlichen Ursprünge nicht nur des Schreibens, sondern auch unserer Geschichte. Das betrifft nicht zuletzt auch die Kritik selbst. Wenn Starobinski eine Geschichte der Kritik andeutet, die, wie wir sahen, auch eine Geschichte der Literatur ist, unterwirft er diese Geschichte einer konjekturalen Logik und präsentiert sie als eine Form, als „fable“: „Toute évocation des commencements est conjecturale et incite à construire une fable. Je propose donc un récit sommaire des âges de la critique“ (Starobinski 2001: 19). Die „fable“ als solche zu bewahren, bedeutet, sie revidierbar, sie als Form lesbar zu halten. Man sieht, wie Starobinski die Lehren der Revolution für das mit ihr ja so verquickte Projekt der Kritik gezogen hat. Die Revolution wie auch die Aufklärung, die ein für alle Mal die Erneuerung durchsetzen wollten, musste sich in diesem Anspruch gegen sich selbst richten, die Fabel wieder in Mythos umschlagen. Einen Anfang als absoluten bewahren zu wollen, mündet in den Terror. Was bringt nun eine solche Profilierung des Kritikbegriffs? Weder geht es mir darum, eine bestimmte historisch gewordene Konstellation theoretischer Positionskämpfe mit und aus dem Lichte der Spätergeborenen zu rekonstruieren und zu beurteilen, noch beabsichtige ich eine stets anders zu begründende Aktualisierung des chronischen Methodendisputs in jener Diskursformation, die man gemeinhin Literaturwissenschaft nennt und die in den romanischen Sprachen wesentlich vieldeutiger mit Critique umschrieben wird. Der Mehrwert einer solchen Geschichte und Theorie der Kritik kann darin bestehen, eine andere Perspektive auf diesen Disput freizulegen. Denn es stellt sich die Frage, was bleibt, wenn weder die Rekonstruktion noch die Aktualisierung erklärtes Ziel sind oder anders gefragt: Welche andere zeitliche Logik können wir mithilfe eines solchen Kritikbegriffs auch für das von Literaturwissenschaften aufzubereitende Wissen formulieren? Wenn die Methodendiskussion der Literaturwissenschaften eine geradezu chronische ist, die sich in immer neue Konjunkturen einschreibt und sich immer wieder neuen Herausforderungen und Bringschulden zu stellen hat, dann liegt dies nicht nur an ihrem Gegenstand, der selbst schon von komplexen Zeitlichkeiten zeugt. Die bedeutsame und bedenkenswerte Tatsache, dass - so Starobinski im vollen Bewusstsein um die Konnotationen seiner Formulierung - „le désir de savoir et de comprendre n’était pas encore pourvu des moyens les plus adéquats“ (Starobinski 2001: 12), meint nicht nur die Situation eines beständigen Provisoriums, in welcher 57 AArts & Lettres der Wissensdrang - und wörtlich: das Begehren zu wissen - einfach nicht die rechten Mittel findet. Es mag auch und vor allem bezeugen, dass die Literaturwissenschaften gar keine andere Möglichkeit haben, ihren Gegenstand zu bewahren, als durch einen methodologischen und theoretischen Disput, der durch die Arbeit der Kritik (und das wäre die rhetorische Seite der Literaturwissenschaften) auch ein echter Disput bleibt und somit mehr als eine Evaluierung. Es gilt jedoch, diesen nicht ausschließlich als einen Disput um den Gegenstand zu deuten, sondern, positiv gewendet, auch als Kennzeichen des Wissens einer grundsätzlich kritischen Arbeit. Denn der Text als Gegebenheit erfordert immer bessere Mittel (und das meint: Theorie und Methode) ja nicht nur um ihrer selbst willen; vielmehr artikuliert sich im steten und vor allem stets gegenwärtig erfahrenen Ausbleiben der rechten Mittel das Verlangen, sich eines (sodann zu begehrenden) Wissens zu versichern, das einen historischen, weil in der Transformation verfügbar gewordenen Sinn verspricht. Anders formuliert: Wenn es einen „sens de la critique“ (9) gibt, dann besteht dieser darin, jene historische, an Literatur ausgezeichnet auszumachende Potenz von Prä-, Kon- und Postfiguration, jenen Widerstand der Form gegen die Regel, jene concordia discors unserer Geschichte immer wieder und für jede Form kulturellen Wissens lesbar und verfügbar zu halten. Collot, Michel, „Le thème selon la critique thématique“, in: Communications, 47, 1988, 79-91. Starobinski, Jean, La relation critique (L’œil vivant 2), Paris, Gallimard, 1970. Starobinski, Jean, Montaigne en mouvement, Paris, Gallimard, 1993 [1982]. Starobinski, Jean, L’œil vivant II. La relation critique, édition revue et augmentée, Paris, Gallimard, 2001. Starobinski, Jean, L'invention de la liberté 1700-1789; suivi de 1789, les emblèmes de la raison, édition revue et corrigée, Paris, Gallimard, 2006 [1964, 1973]. Valdivia Orozco, Pablo, „Lecture et critique chez Jean Starobinski“, in: Bulletin du Cercle d'études internationales Jean Starobinski, 4, 2011, 13-17. 1 Dieser Aufsatz darf als komplementäre Arbeit zu meinem 2011 erschienenen Aufsatz zu Jean Starobinskis Lektürebegriff verstanden werden. Einige grundlegende Überlegungen sind zudem Zwischenergebnisse meines Habilitationsprojekts, das sich mit der Genese des Kritikbegriffs aus literaturhistorischer und literaturästhetischer Perspektive beschäftigt. 2 Geradezu beispielhaft hierfür ist die Polemik zwischen Roland Barthes und Raymond Picard. 3 Wollte man, durchaus im Sinne einer critique génétique, die Rezeptions- und Diskussionsstände dieser Debatte nachvollziehen, so böte es sich an, eine enge vergleichende und hier ansatzweise erfolgende Lektüre der beiden Einleitungen zu La relation critique von 1970 und 2001 zu leisten. Die mitunter sehr diskreten Veränderungen geben einen Eindruck davon, wie sich die Akzente in der Debatte verschoben haben. 58 AArts & Lettres 4 Dass Metapher und Literalität einander bedingen und nur im gegenseitigen Verweis zu verstehen sind, hat schon Ricœur in seiner kanonischen Metaphernstudie aufgezeigt. Seine Aristoteles-Interpretation legt überzeugend dar, dass nicht die wörtliche, sondern die gängige Bedeutung der Gegenbegriff zu Metapher ist. 5 Cf. hierzu die geradezu lakonische Feststellung aus der Spitzer-Studie, die in Heideggers Sein und Zeit eine wesenhafte Zeitstruktur formuliert sieht, aber den Fragehorizont doch etwas konkreter fasst: „Une anticipation mise à l’épreuve de la ‚chose elle-même‘: l’apport heideggerien réside assurément dans cette façon de fonder la compréhension dans la temporalité du Dasein. La question que nous poserons ne concerne pas cet aspect du problème, mais, plus, modestement, la manière dont la ‚chose‘ (pour reprendre le terme hégélien auquel heidegger [sic] a eu recours) se définit pour nous“ (Starobinski 2001: 95). 6 Es böte sich in einer metaphorologischen Fragestellung an, diese „conjugalité“ mit der hermeneutischen Metapher des Dialogs noch weitergehend zu konterkarieren. Wenn beiden die Einsamkeit als Ausgangssituation und auch als Gefahr gemeinsam ist, so scheint mir die kleine Differenz unter anderem das Bild einer Horizontverschmelzung (die ja, wie schon Blumenberg in der Matthäus-Passion feststellt, ein Widerspruch in sich ist) unter einen gewiss nicht unzutreffenden Neuroseverdacht zu stellen. So lässt es sich Starobinski auch nicht nehmen, einige Formen von „couples névrotiques“ aufzuzählen: „L’on sait qu’il est des couples névrotiques de divers types. Celui, d’abord, où l’être prétendument aimé n’est pas reconnu dans sa vérité, c’est-à-dire dans sa qualité de sujet indépendant et libre: il n’est que le support des projections du désir amoureux qui le font autre qu’il n’est. Celui, à l’opposé, où l’amant s’annule dans la fascination et la soumission absolue à l’objet de son amour. Celui enfin où l’amour ne se porte pas sur la personne même, mais sur ses attenants et sur ses alentours, ses possessions, son nom, c’est-à dire sa parenté glorieuse, etc. Bref, j’ose affirmer que l’œuvre critique lie deux existences personnelles et vit de leur intégrité préservée“ (52). 7 Die Figur der Verführung findet sich besonders in der kanonisch gewordenen Rousseau- Studie „Le dîner de Turin“. 8 Cf. hierzu speziell die Spitzer-Studie Spitzer et la lecture stilistique (Starobinski 2001: 57- 108). 9 Cf.: „[ ] une pensée qui prend son élan premier dans un acte de refus“ (Starobinski 1982: 7). 10 „Car il est évident qu’on ne peut interpréter l’œuvre de Rousseau sans tenir compte du monde auquel elle s’oppose. C’est par le conflit avec une société inacceptable que l’expérience intime acquiert sa fonction privilégiée“ (Starobinski 1958: 10). 11 Hans Blumenberg hat dies in seiner Studie zu den Wirklichkeitsbegriffen als das im Roman vollends realisierte Prinzip eines nur ironisch beanspruchbaren eigenen Kontextes bezeichnet. Stimmig scheint mir dieser Verweis, da auch Blumenberg im Grunde damit eine Historizität der Neuzeit formuliert, die Starobinski an Montaignes selbstreflexiver Bewegung ausmacht. Es wäre zu ergründen, wie sehr in diesem Bewegungsprinzip und in der Figur der Selbstbehauptung eine strukturell ähnliche Pointe zum Ausdruck kommt. 12 Eine sehr formale Bestimmung, was das Thema der thematischen Kritik ist, findet sich bei Collot (1988). In seiner philosophisch überzeugenden Verortung der thematischen Fragestellung zwischen Strukturalismus und Phänomenologie bleibt jedoch die besondere Pointe einer Metathematik, um die es mir hier geht, unberücksichtigt. 13 Zur Entwicklung dieser Figur cf. Valdivia Orozco 2011.