eJournals lendemains 39/153

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Narr Verlag Tübingen
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2014
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Anna Tüne: Von der Wiederherstellung des Glücks. Eine deutsche Kindheit in Frankreich

2014
Thomas Keller
ldm391530136
136 Comptes rendus gleichberechtigt neben den Briefen von Pierre Bertaux 8 als außergewöhnlich detailreiches Zeugnis über die Akteure und das Agieren auf dem intellektuellen Höhepunkt der Weimarer Republik vor der Weltwirtschaftskrise zu bedenken sein. Wo künftig Intellektuellengeschichte geschrieben wird, ist das vorliegende Buch als reichhaltige Quelle zu berücksichtigen. Wolfgang Klein (Osnabrück) —————————————————— ANNA TÜNE: VON DER WIEDERHERSTELLUNG DES GLÜCKS. EINE DEUTSCHE KINDHEIT IN FRANKREICH, BERLIN, GALIANI, 2010, 226 S. In den letzten Jahren ist die Gedächtniskultur in eine Krise geraten. In einem Krieg der Gedächtnisse streiten Opfergruppen; in Deutschland sind dies Gruppen wie Juden, Sinti und Roma, Homosexuelle u. a., in Frankreich Résistants, Shoah- Opfer, Sklaven, Opfer der Kolonisierung, Harkis Für sie alle dürfte die Feststellung aus Pierre Noras Standardwerk über die Gedächtnisorte gelten, dass das Bedürfnis nach dem Gedächtnisort, dem lieu de mémoire wächst, je mehr eine bergende Umgebung, ein milieu, abnimmt. Eine heikle Frage ist, ob, inwiefern und wo auch Gruppen von Deutschen wie Bombenopfer und Vertriebene solche Ansprüche auf Gedächtnisorte anmelden dürfen. Dass jene Problematik nicht nur deutsch-polnisch oder deutsch-tschechisch ist, sondern auch deutsch-französische Aspekte hat, dürfte bisher fast unbekannt sein. Die deutsch-französische Gedächtnisarbeit hat vor allem geteilte Gedächtnisorte ermittelt wie die Kaiserpfalz in Aachen, die Galerie des Glaces in Versailles, den Waggon von Rethondes, Verdun, die Küste in der Normandie. Erst in jüngster Zeit werden Orte des Exils und der Migration wie Sanary als Gedächtnisorte erschlossen 9 sowie anhand von Monumenten die Beteiligung von Nicht-Franzosen an der Résistance hervorgehoben. 10 Inzwischen sind neue Opfergruppen hinzugekommen: während der ‚épuration‘ geschorene Frauen, Kinder von Französinnen und Wehrmachtssoldaten, französische Zwangsarbeiter und deutsche und französische Kriegsgefangene. Dürfen Deutsche eine Opfergruppe bilden, die nach Gedächtnisorten verlangt? Die Bewegung zu Gedächtnis- und Gedenkorten bricht nicht ab, solange Personen und Gruppen mit sprachlichen Mitteln um die Anerkennung ihrer Leiden und um die Anerkennung ihres Orts kämpfen. Jüngstes Beispiel ist die Vertriebenendiskussion. 8 Cf. Pierre Bertaux, Un normalien à Berlin. Lettres franco-allemandes (1927-1933), ed. Hans Manfred Bock / Gilbert Krebs / Hansgerd Schulte, Asnières, Institut d’Allemand 2001. 9 Cahiers d’Etudes Germaniques, 53, 2007: „Lieux de migration / lieux de mémoire“, ed. Thomas Keller. 10 Mechtild Gilzmer, Denkmäler als Medien der Erinnerungskultur in Frankreich seit 1944, München, Meidenbauer, 2007. 137 Comptes rendus Beide Dynamiken - Opfer der Deutschen, Deutsche als Opfer - sind verknüpft in einem deutsch-französischen Ort, den ein Buch von Anna Tüne herausstellt. Anna Tüne, 1950 in Höxter geboren, Verfasserin unkonventioneller Frauenliteratur, verantwortlich in Berlin für den Verein „Courage gegen Fremdenhass“, organisiert die bevorstehende Umwandlung der südfranzösischen Kleinstadt Dieulefit in einen Gedächtnis- und Gedenkort mit. 11 Sie nimmt sich der in Deutschland Bedrohten und der aus Deutschland von den Nazis Vertriebenen an. Zugleich bezeugt ihr Text eine schwierige ‚deutsche Kindheit‘ in der Drôme nach 1945. Bindeglied ist der Ort selbst, er ist ein zweifacher Migrationsort: die Menschen in Dieulefit und Umgebung retten während des Krieges die bedrohten Emigranten, vor allem jüdische Kinder aus Deutschland; der Ort nimmt nach dem Krieg deutsche Vertriebene auf, über die wohl erstmals berichtet wird. Die Familie von Anna Tüne gehört zu den Bauern, deren Hof sich nach dem Ersten Weltkrieg mit der neuen Grenzziehung im wiedererstandenen Polen befindet. Nach 1945 werden die Vertriebenen zur Auswanderung aus Deutschland ermuntert. Sie bekommen ab 1948/ 49 von der französischen Regierung unter Robert Schuman das Angebot, im französischen Süden zu siedeln. Ziel ist die „Rekultivierung verlassener Bauernhöfe und Ländereien durch die Ansiedlung deutscher Vertriebener“ (33). 12 Die Tünes bewirtschaften zwischen 1954 und 1964 einen Bauernhof in der Drôme nahe Dieulefit. In derselben Gegend haben noch wenige Jahre vorher nicht nur eine große Anzahl von deutschen Emigranten Schutz vor Verfolgung gefunden und überlebt, sondern auch deutsche Besatzer Verbrechen begangen. Die zugezogene Familie bewohnt einen Ort, der im Bewusstsein der Mitbewohner bereits ein Gedächtnisort ist. Dieses Bewusstsein erzeugt eine Gruppenzugehörigkeit, die für die Neuankömmlinge eine nur schwer zu überschreitende Schwelle darstellen muss. Die Kindperspektive - nicht „Ich“, sondern in der dritten Person: „die Kleine“ - erlaubt einen völlig anderen Blick als etwa den von Christoph Meckel 13 auf die Drôme und den schwierigen Lavendelbauer Matthieu. Anne Tüne kann als Kind nicht die Ressentiments gegen Deutsche begreifen. Das Buch beginnt mit der Stimme der „Kleinen“, der kleinen Anna Tüne: Alle nannten ihn Matté, er war so etwas wie der Dorfnarr. Er war Alkoholiker, jovial und laut. Fast immer, wenn die Kleine im Dorfladen stand und darauf wartete, bedient zu werden, hörte sie ihn nebenan in der Bar lärmen. Es fielen viele unverständliche Worte, einige wiederholten sich. Sie hallten lange nach, und zu Anfang setzten sie sich in ihr als unverständliche Laute fest: „Ma-ki, Ko-la-bo“ und vor allem „Bosch! ! ! “ (7) Die zweite Stimme, diejenige der Erzählerin Tüne, übersetzt „Ma-ki“ in „maquis“. Sie bringt auch die historischen Erklärungen für die antideutschen Ressentiments, 11 Cf. Thomas Keller, „Dieulefit: lieu de mémoire en veille? “, in: Cahiers d’Etudes Germaniques, 53, 2007, 157-178. 12 Cf. Anne Vallaeys, Dieulefit ou le miracle du silence, Paris, Fayard, 2008. 13 Christoph Meckel, Ein unbekannter Mensch, Frankfurt / M., Fischer, 1999. 138 Comptes rendus die aus dem Munde des Dorfnarren verzerrt herauskommen. Der Ort steht indes nicht für Besetzung und Leid, sondern für wundersame Rettung: Man hat es das „Wunder von Dieulefit“ genannt und dieses Wunder bestand vor allem darin, dass diese kleine Stadt mit ihren circa dreitausend Einwohnern und im ländlichen Umfeld knapp ebenso vielen, über eintausend Flüchtlinge und Verfolgte hat schützen, verstecken und ernähren können (129). 14 Sie zählt die Retter auf, sie nennt die „geniale Pass- und Dokumentenfälscherin“ (ibid.) nicht bei ihrem Namen (es ist Jeanne Barnier), auch nicht die Reformpädagoginnen (sie heißen Marguerite Soubeyran, Catherine Krafft und Simone Monnier), nicht die Ärzte und nicht den gestrengen und hilfsbereiten calvinistischen Pfarrer. Mit Namen kommen hingegen die Intellektuellen vor, der Personalist Mounier und Roché, der in Dieulefit Jules et Jim schreibt (131). 15 Aber Anna Tüne erzählt auch von der Rettung des Malers Wols bei der Libération, als ihn selbsternannte Résistants umbringen wollen (134). 16 Sie berichtet auch (ohne Namen zu nennen), wie mies das Ehepaar Aragon/ Triolet das deutsche Emigrantenpaar Nuding behandelt hat: Wie diese beiden französischen Intellektuellen es für selbstverständlich hielten, dass ihre Gastgeber ihnen zu Diensten standen, wie der Mann im selben Augenblick, in dem er im Haus deutscher Hitler-Gegner Schutz gesucht hatte, massgeblich an der Änderung des Hauptslogans der Résistance wirkte. Die bisherige linke Politik hatte sich antinazistisch formuliert, die neue formulierte sich antideutsch (cf. 147sq.). 17 Von einer homogenen Opfergruppe über die Nationalitäten hinweg kann keine Rede sein. Indes sind die lokalen Retter nicht nur für diejenigen da, die vor den Nazis geflüchtet sind, sondern auch für die neu angekommene deutsche Familie. Der unabhängige Dorfbewohner Sully, der calvinistische Geistliche und die Lehrerin machen die Tür auf. Der genius loci ist ein menschlicher. Der Ort behält seine Zaubermacht, da er weiterhin Menschen in Not aufnimmt. Tüne macht sowohl den Migrationsort der Rettung wie auch ihren eigenen Ort der Migration und Aufnahme zum Gedächtnisort. Das deutschsprachige Publikum dürfte zum ersten Mal durch ihr Buch von dem Ort mit den beiden Geschichten erfahren. Tüne geht es nicht um exakte historische Rekonstruktion, wohl aber um eine innere Wahrheit, die nur durch poetische Mittel zur Geltung kommen kann: Luxus dann die Lavendelernte. Ihr haftet etwas „Unseriöses“ an [ ]. Der Lavendel wird auf den trockenen Hangflächen angebaut [ ]. Das leuchtende Violett muss zu einem ver- 14 Cf. Vallaeys, Dieulefit ou le miracle du silence (wie Fußnote 12). 15 Cf. Thomas Keller, „Jules et Jim: wählen, nehmen, teilen, tauschen“, in: Cahiers d’Etudes Germaniques, 50, 2006, 265-282. 16 Zur Figur des Künstlers Wols cf. den Beitrag von Martin Schieder in diesem Heft. 17 Cf. Wolfgang Klein, „Près d’un bourg un peu particulier: Ella Rumpf et Hermann Nuding, Elsa Triolet et Louis Aragon en nov./ déc. 1942 à Dieulefit“, in: Les Annales de la Société des Amis de Louis Aragon et Elsa Triolet, 3, 2001, 217-233. 139 Comptes rendus staubten, edlen Lila getrocknet sein. Am Vortag der Ernte werden die Sicheln geschliffen und geölt [ ]. Nur eine gute Sichel zieht leicht durch jeden Widerstand, nur eine solche Sichel sichert dem Schnitter Eleganz und Rhythmus. Am Morgen bindet sich jeder ein großes Leintuch sackartig um den Leib. [ ] Der scharfe ätherische Duft der gequetschten winzigen Ölfässchen, jene begehrten Reste der Blüten, erfüllt das ganze Tal, saugt sich in die Leintücher, die Kleidung, die Haare und die Haut. [ ] Sie ernten nicht Futter, nicht Brot, sondern den Duft Arkadiens, die Schönheit, die Sinnlichkeit, den Luxus der Welt. Als ersten Weihnachtsgruß schlagen Wind und Leute die Walnüsse von den Bäumen. November, der graue Monat, schenkt die ölige Milde der Nüsse (179). Dies sind die Bilder, die Kontinuität zwischen dem zitierten Gedächtnisort der Rettung und dem selbst erlebten Gedächtnisort der Aufnahme der Tünes herstellen. Dokumente des Bezeugens schließen literarische Qualität nicht aus. Zuallererst aber geht es um Anerkennung, die Anerkennung jener Gruppe der Vertriebenen, dann nach Frankreich Verpflanzten, die im Fall der Tünes nach zehn Jahren nach Deutschland zurückkehren und das gerade Erworbene wieder aufgeben müssen. Das Leben der Tünes im polnischen Staat evoziert die Autorin sehr verhalten, sehr vorsichtig, mit vielen Fragen zum deutsch-polnischen Zusammenleben, immer in Sorge um den Beifall von der falschen Seite. Ergreifend ist das Wiedersehen des Vaters mit seiner Mutter nach Jahren der Trennung. Das Leben der Tünes in der Drôme bekommt - mit den Augen des Kindes gesehen - das Wundersame der Heimat. Der Vater kann seine Erfahrungen des deutsch-polnischen Zusammenlebens in das Zugehen auf die Franzosen einbringen. Die Mutter gewinnt die Herzen der Bewohner mit dem Singen eines Kirchenliedes - auf Deutsch. Die Kinder erreichen die Erwachsenen auch ohne Worte, sie werden ganz heimisch. Erst die sinnliche Materialität des Ortes, seine poetische Kraft, nicht des Exilorts, sondern des geretteten Gedächtnisortes, vermag jene Erfahrung aufzubewahren und an ein Publikum zu vermitteln. Die Berichte derer, die im Krieg in Dieulefit gerettet wurden, erzeugen einen Gedächtnisort. Zu ihnen gesellen sich die Kindheitserinnerungen Anna Tünes als einer Bewohnerin eines Gedächtnisortes, die wiederum einen Gedächtnisort erzeugt. Zu den in Frankreich auf Vermittlung von Robert Schuman angesiedelten Vertriebenen gehören auch Donauschwaben aus dem Banat, die La Roque sur Pernes, einen 1945 fast ganz verlassenen Ort im Vaucluse, wiederbeleben sollten. Auch ihre Geschichte, im Tübinger Institut für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde erforscht, ist als deutsch-französische noch zu schreiben, auch ihr Ort ist noch als deutsch-französischer auszuzeichnen. Für sie wird zumindest vorübergehend der Ort auch zu einer Umgebung, wird der lieu zu milieu. Dies ist für Gruppen wie französische und deutsche Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter viel schwerer, ihnen können Orte nicht so leicht zugeordnet werden, sie haben keine Kinder bei sich. Es sind hier traumatische Orte wie Lager im anderen Land, 140 Comptes rendus die lieu und milieu schmerzhaft im Gedächtnis verankern. Besonders folgenreich ist das Fehlen eines Orts für die Kinder der Wehrmachtssoldaten. Wie die neue Literatur über deutsche Migranten im Midi zeigt, geht der Vorgang einer topographischen Verflechtung weiter. Zugleich macht sich Unbehagen breit, auch in Frankreich. So wird im Wettlauf der Gedächtnisse das Attribut des Gerechten immer häufiger wahllos verwendet und den Orten des Gedächtnisses angeheftet. Mögen Le-Chambon-sur-Lignon, das noch bekanntere Dorf, das jüdische Kinder gerettet hat, und Dieulefit gerechte Orte sein, so ist diese Auszeichnung für Sanary sicherlich problematisch. Das Buch von Anna Tüne bezeugt eine Tendenz zur Vervollständigung, ohne das eigene Leid zu betonen: im Drängen nach Anerkennung von Personen und Gruppen ‚fremder‘ Herkunft werden immer mehr Migrationsorte zu memoriellen Orten; das Gedächtnis und das Gedenken werden immer bunter, transnationaler. Regionale und nationale Gedenkorte müssen sich dieser Pluralisierung stellen - Ausländer erscheinen in den Mahnmalen der Résistance, Exilierte und Migranten in der französischen Gedächtnislandschaft Zugleich gilt auch, dass sich Grenzen auftun. Der Wettlauf um den Opferstatus, die Keifereien zwischen Gruppen, die zunehmend leeren routinierten Rituale verschließen eher, als dass sie reintegrieren. Auf vermintem Gelände treffen sich zwei Bedürfnisse - das problematische nach Identität, das legitime nach Anerkennung. Aber wie soll man beide trennen? Anna Tüne gibt darauf ihre eigene Antwort: Sie weigert sich, Opfer zu sein. Thomas Keller (Aix-en-Provence) —————————————————— MARGARETE ZIMMERMANN (ED.): „ACH, WIE GÛT SCHMECKT MIR BERLIN.“ FRANZÖSISCHE PASSANTEN IM BERLIN DER ZWANZIGER UND FRÜHEN DREISSIGER JAHRE, BERLIN, DAS ARSENAL, 2010, 291 S. Die von Margarete Zimmermann (unter Mitwirkung von Gilda Rodeck) herausgegebene Anthologie widmet sich Texten französischsprachiger Berlin-Reisender der zwanziger und frühen dreißiger Jahre über die von ihnen besuchte deutsche Hauptstadt. Denn, so Zimmermann in ihrer Einleitung, im Gegensatz zu den gut erforschten deutschsprachigen Intellektuellen und Schriftstellern in Paris wisse man heutzutage wenig über französischsprachige Berlin-Reisende der Zwischenkriegszeit „in ihrer Eigenschaft als Mittler zwischen Deutschland und Frankreich“ (7) sowie über ihre in diesem Rahmen entstandenen Texte. Um diesem Desiderat Abhilfe zu verschaffen, versammelt Zimmermann in diesem Band Berlin-Texte von 22 Autoren. Unter den Verfassern befinden sich neben auch heutzutage noch bekannten Intellektuellen und Literaten wie André Gide oder Pierre Bertaux auch inzwischen in Vergessenheit geratene Schriftsteller wie René Jouglet, Madeleine Paz oder Maurice Dekobra. Die Reisenden besuchen Berlin