eJournals lendemains 37/148

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Narr Verlag Tübingen
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2012
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Jean-Marie Gustave Le Clézios „Musée monde“ im Louvre oder: Wie die Kulturen der Welt erzählen?

2012
Markus Messling
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129 Actuelles Markus Messling Jean-Marie Gustave Le Clézios „Musée monde“ im Louvre Oder: Wie die Kulturen der Welt erzählen? Über das Musée du quai Branly, Frankreichs großes Museum für die Künste und Kulturen Afrikas, Asiens, Ozeaniens und der Amerikas, das im vergangenen Sommer seinen fünften Geburtstag gefeiert hat, ist viel berichtet worden. 1 In der royalistischen Tradition der französischen Präsidenten sollte es Jacques Chirac in Paris ein Denkmal schaffen, das der Bibliothèque François Mitterand vergleichbar wäre. Nach Chiracs Wunsch sollte das Museum zur mehr oder weniger beherzten geschichtspolitischen Neupositionierung Frankreichs in der Welt beitragen, indem es die kolonialen Schatten des alten ethnologischen Musée de l’Homme 2 abschütteln sollte. In der Rede zur Einweihung hebt Chirac die humanistische Idee hervor, mit der Konzeption des Musée du quai Branly die Gleichwertigkeit menschlicher Artefakte zu betonen: Au cœur de notre démarche, il y a le refus de l’ethnocentrisme, de cette prétention déraisonnable et inacceptable de l’Occident à porter, en lui seul, le destin de l’humanité. Il y a le rejet de ce faux évolutionnisme qui prétend que certains peuples seraient comme figés à un stade antérieur de l’évolution humaine, que leurs cultures dites „primitives“ ne vaudraient que comme objets d’étude pour l’ethnologue ou, au mieux, sources d’inspiration pour l’artiste occidental. Ce sont là des préjugés absurdes et choquants. Ils doivent être combattus. Car il n’existe pas plus de hiérarchie entre les arts et les cultures qu’il n’existe de hiérarchie entre les peuples. C’est d’abord cette conviction, celle de l’égale dignité des cultures du monde, qui fonde le musée du quai Branly.3 Dieses Anliegen ist jedoch nur in einer vordergründigen Sichtweise umgesetzt worden. Vorerst erscheint allein die bauliche Hülle von Jean Nouvel gelungen, die insbesondere aufgrund ihrer organizistischen inneren Struktur umstritten ist, aber doch in die homogene Pariser Straßenfront an der Seine eine erfrischend offene, moderne und zugleich grüne Nische eingezogen hat. Für ein Museum, das seine Existenz praktisch allein dem imperialen Zugriff auf die Welt verdankt, hat man dem Ort die Geister der Geschichte geradezu spukhaft ausgetrieben. Angaben zu der Historie der einzelnen Ausstellungsobjekte, die doch größtenteils durch verschiedene Formen des Kolonialraubs nach Paris gekommen sind, sucht man in der Ausstellung weitgehend vergebens. Die Betrachter wüssten oft nur zu gern, ob jene Dame, die als Stifterin eines Kleinods aus Indochina firmiert, nicht die Frau eines hochrangigen kolonialen Verwalters war, jene Maske aus Kamerun von ihrem Besitzer nicht bitter billig bezahlt wurde - der Online-Katalog bietet immerhin rudimentäre Angaben zu den Donatoren. Indem man die Objekte als Kunstobjekte, weitgehend kontextlos und in dramatisierendem Licht-Szenario, ausstellt, will man sie in ihrer ästhetischen Schönheit zeigen und 130 Actuelles sie damit dem problematisch gewordenen ethnografischen und anthropologischen Begrifflichkeiten 4 entziehen. Wie Chirac es sagte: keine einordnenden Hierarchien, das dem Menschen universelle Künstlerische allein. Das Problem ist allerdings, dass dieser „methodische Taschenspielertrick“ 5 keine Läuterung vom Eurozentrismus verspricht, sondern diesen, ganz in der Tradition eines zentrierenden Universalismus, geradezu auf die Spitze treibt. Nicht nur geht den Objekten die in sie eingeschriebene Geschichte des Kolonialismus verloren, sondern ihre Differenz, die in ihrem jeweiligen ästhetischen, sozialen, politischen und religiösen Status liegt, wird in einem durch die europäische Moderne geprägten Kunstbegriff hinweggespült. Wenn der Funktionalisierung außereuropäischer Formen bei den Avantgarden ein subversiver Charakter innewohnte, indem mit dem vitalistischen und entmoralisierten Konzept des „art nègre“ oder „art primitif“ - ähnlich wie mit den Figuren des Wahnsinnigen und des Kindes - der als beschränkend, ja zerstörerisch erlebte europäische Positivismus aufgebrochen werden sollte, 6 ist die zeitgenössische Vereinnahmung der außereuropäischen Artefakte in einem längst klassisch gewordenen Begriff des Ästhetischen die letzte Drehung einer Anmaßung, die den Objekten zuletzt noch ihre kultur- und gesellschaftsbedingte Spezifizität nimmt. Zornig schreibt Lorenzo Brutti in seiner fundierten Kritik des Museumskonzeptes daher: All das vollzieht sich im Namen eines erstaunlich ethnozentrischen formalen Universalismus. Eine Handvoll Europäer aus dem 21. Jahrhundert befindet nicht nur, dass das Fremde Kunst produziert hat. Vielmehr entscheiden sie auch darüber, worin diese Kunst besteht oder bestand, ohne sich um tiefer greifende Analysen zu kümmern oder die eigenen Zeugnisse dieser „Anderen“ ebenfalls zu berücksichtigen: Ein weiteres Mal in der Geschichte der Menschheit nötigt das westliche Abendland [frz. vermutlich „occident“; Anm. M.M.] dem Anderen seine Hermeneutik auf.7 Das ruft dann, wie Joseph Hanimann in seiner Besprechung der laufenden Ausstellung „L’invention du sauvage“ zurecht anzeigt, Schwierigkeiten hervor, die entstehen, wenn man versucht, vor dem Hintergrund eines ästhetizistischen Konzepts die Historie ethnografischer Ausstellungspraxis zum Thema zu machen. 8 Einen „Interpretationsraum“ zu den ausgestellten Objekten, wie ihn der große Ethnologe und langjährige wissenschaftliche Direktor (bis 2000) des Musée du quai Branly, Maurice Godelier, vorgeschlagen hatte und wie er im „Pavillon des Sessions“ des Louvre auch eingerichtet wurde, in dem im Jahr 2000 eine Dauerausstellung von etwas mehr als 100 afrikanischen und ozeanischen Objekten eröffnete, ist am Quai Branly nicht realisiert worden. 9 Das Musée du quai Branly betreibt eine internationale wissenschaftliche Vernetzung und Arbeit, was bereits in seiner Konzeption zentral angelegt war, 10 und in diesem Sinne ist sein Motto „Là où dialoguent les cultures“ Wirklichkeit geworden. Für seine wichtigste Aufgabe aber, für das Problem der Repräsentation anderer Gesellschaften und ihrer Kulturen anhand von deren Artefakten eine Lösung zu finden, die zugleich die Geschichte dieses Problems mitthematisiert, gilt dies nicht. Die Museumsmacher scheinen das Problem selbst noch erkannt zu haben, als sie 131 Actuelles Abb. 1: Guillaume Guillon, dit Lethière: Le Sermon des ancêtres, 1822, Ministère de la Culture, Port-au-Prince (copyright: bpk | RMN - Grand Palais | Port-au-Prince, Musée national | Gérard Blot) von dem ursprünglichen Label Musée des arts premiers, das dem Versuch entsprang, das primitivistische Kunstkonzept der Avantgarden politisch korrekt zu wenden, auf die neutrale Bezeichnung Musée du quai Branly umschwenkten. 11 Auch wegen der gescheiterten Institutionalisierung dieser schwierigen Frage in Form des Musée du quai Branly geht die Suche nach den Inszenierungsformen der Kulturen der Welt in den Kulturmuseen also weiter. In seiner feinen Reihe „Le Louvre invite“, in der schon Jacques Derrida, Julia Kristeva, Jean Starobinski, Patrice Chéreau, Umberto Eco oder Pierre Boulez das ‚Museum’ mehr oder weniger erfolgreich konzeptionell befragt haben, greift sie vom November 2011 bis Februar 2012 gezielt das größte Pariser Museum auf, indem es den Literaturnobelpreisträger Jean-Marie Gustave Le Clézio, den „Erforscher einer Menschlichkeit außerhalb und unterhalb der herrschenden Zivilisation“ 12 eingeladen hat, seine Vorstellung des Museums in der globalisierten Welt zu entwerfen. Dazu kann er als Gastkurator aus dem gigantischen Fundus des Louvre schöpfen. In der kleinen Kammer, die man im großen Gewirr der Gänge des Louvre schwer findet, stellt sich Le Clézio unter dem Titel Les musées sont des mondes den zentralen Fragen, die in dem Spannungsfeld aus Eurozentrismus, europäischem Kunstmuseum, Kunstbegriff und den Artefakten der anderen Kulturen politisch virulent sind. Le Clézios erster Streich ist gut, der Auftakt sitzt. Die Blicke der Besucher, die die Ausstellungskammer betreten, fallen, ob sie wollen oder nicht, auf ein großes Ölgemälde, in dem das Problem kultureller Repräsentation kondensiert ist: „Le Serment des ancêtres“ von Guillaume Guillon, dit Lethière (Abb. 1). 132 Actuelles Dargestellt ist der Treueschwur der Generäle Alexandre Pétion und Jean-Jacques Dessalines, der die Armee der sogenannten „Mulatten“ mit jener der schwarzen Sklaven zusammenführte und so der haitianischen Revolution den Sieg gegen die napoleonische Expeditionsarmee brachte. Das Bild ist historisch und kunsthistorisch aufschlussreich. 13 Vor allem aber entfaltet es seine zentrale Erkenntniskraft, indem es in neoklassizistischer Formsprache eine außereuropäische Geschichte ins Zentrum rückt, die Welt mit der Französischen Revolution verstrickt und damit die Moderne zu einem wenn auch wohl nicht universellen, so doch weit über die europäische Welt hinausgehenden Ereignis macht. Dies hatten die Europäer schon in den imperialen Anfängen erfahren, etwa die französischen Soldaten, denen in Saint-Domingue die Marseillaise-Gesänge der aufständischen Sklaven entgegenschlugen; 14 oder jene Wissenschaftler, die, in der Folge der Napoleonischen Ägypten-Expedition und getrieben von der aufklärerischen Suche nach den Ursprüngen der Zivilisation, in den geplünderten Grabungsstätten der Antike der eigenen Welterfassungswut ins Gesicht sahen: Die Spannung zwischen dem imperial gewendeten Universalismus und den eigenen universalistischen Ansprüchen wird den Europäern früh bewusst. 15 Haiti ist dabei aufgrund der revolutionären Situation zweifelsohne ein wichtiger Schlüssel für eine Revision der Moderne unter diesem Gesichtspunkt, und Le Clézio erhebt es daher zum Symbol. 16 Ob das Bewusstsein der außereuropäischen Dimension der Moderne und der damit verbundenen Universalismusproblematik jedoch dermaßen tief in ihre Selbstreflexion eingeschrieben war, wie das Susan Buck-Morss mit der These behauptet hat, dass Hegels Ausführungen zu Herr und Knecht in der Phänomenologie des Geistes eine gedankliche Reaktion auf die haitianischen Revolution gewesen seien, 17 bleibt fraglich. Es scheint, als sei unser Nachdenken über den Bezug der Moderne zur außereuropäischen Welt - und gerade in seinen hegelianischen Formationen - doch ein zentrales Unterscheidungsmerkmal zum 19. Jahrhundert. Vor diesem Hintergrund ist es umso erstaunlicher, wie stark die Verrückung der revolutionären Ikonografie der Moderne, so wie sie Le Clézio vornimmt, unser Bewusstsein zu erschüttern vermag. Auch das Spiel mit den in unmittelbarer Nähe platzierten Gemälden und Dokumenten von und aus der Revolution von 1789 erhält daraus seine Kraft. Aus der universalgeschichtlichen Dimension der Moderne heraus nun ihre europäische Zentrierung aufzulösen, ist allerdings unhistorisch. Die Erfahrungen der Moderne bestehen in ihrem Bezug zur Französischen Revolution und zu damit verbundenen Bewusstseinsverschiebungen. 18 Diese sind eben nicht nur missionarisch für andere Teile der Welt prägend geworden, sondern die damit verbundenen Veränderungen der Welt auch für das europäische Selbstbewusstsein. Die Geschichte der Moderne als ‚Universalgeschichte’ zu verstehen, kann daher nicht bedeuten, die in der Moderne liegenden Differenzen aufzugeben: „Urteile, die die Differenz betreffen, werden nicht außer Kraft gesetzt. Die politischen Kämpfe werden weitergehen, sie finden nun aber ohne all die traditionellen Vorurteile statt, die unsere moralische Vorstellungskraft schon einschränken, bevor das Nachdenken überhaupt beginnt“, 19 schreibt Susan Buck-Morss. 133 Actuelles In diese Gefahr aber, die eine kritische postkoloniale Erkenntnis eher hemmt, als sie zu beflügeln, läuft nun allerdings sehenden Auges Le Clézio. Aus der realen ‚universellen’ Erweiterung, aus der Verrückung der Moderne aus ihrer monolithischen Zentrierung wird nun ein emphatischer Abschied von ihr, insofern als alle Formen in einer großen Universalgeschichte aufgehen können, in der es keine kategorialen Unterschiede mehr gibt. Die alte große Erzählung von der Moderne war fraglich, zeigt Le Clézios Schau; führen wir uns nicht nur ihr moralisches Versagen vor Augen, will sie sagen, geben wir die Idee historisch bedingter Differenz überhaupt auf. Dieses Credo seines Museums formuliert er in seinem Begleittext zur Ausstellung so: A l’intérieur de l’enceinte, plus de temps, plus d’ordre. Plus de savoir. Simplement des œuvres, que la volonté d’un seul, l’énergie d’une ville, d’un peuple a portées, formées, a chargées de poussière de gloire. Des œuvres qui résistent, de toute la force de leur pensée. La perfection est en elles, nous le sentons bien - l’accord entre la vie et l’image de la vie, entre la réalité et le rêve.20 Natürlich ist der humanistische Impuls, in allen Artefakten den menschlichen Gestaltungsdrang auszumachen und ihnen in Bezug auf ihre ‚Welt’ die gleiche Perfektion zuzuschreiben, sympathisch und richtig. Darin allerdings weder Ordnung noch Zeit erkennen zu wollen, ihre Differenz in Universalien aufzuheben, tendiert zum spiritualistischen Kitsch. Museen sind gewiss Welten, die immer wieder neu entstehen und sortiert werden. Ihre Objekte erzählen gewiss, was die jeweilige Zeit von ihnen hören will. 21 Aber diese Prozesse folgen nicht der Wahllosigkeit, sondern epistemischen Ordnungen. Diese werden in jenem revolutionären Gären und Umschichten aufgehoben, das Le Clézio anhand der haitianischen Volkskunst, ‚naiver Malerei’ und der Surrealisten vorführt. Gerade zur Rekonstruktion erkenntnistheoretischer, politischer und ästhetischer Gesetzlichkeiten und Umbrüche sind die Sammlungsgeschichten deshalb so aufschlussreich. Wenn Le Clézio also Wilfredo Lam mit Breton auf La Martinique in berühmten Bildern zusammenführt, dann erzählt er uns die Episode des Surrealismus im Exil. 22 Diese Geschichte ist eine weitere der europäischen Dezentrierung, in der das Freiheitspostulat aus dem Exil nach Europa zurückschallt. Unwillkürlich denkt man an die komplexe Verschachtelung dieser Universalgeschichte, die ihren Ausdruck in André Bretons berühmter haitianischer Rede über den Surrealismus findet. 23 Vor dem Hintergrund der „nécessité de réajustement de la condition humaine sous ces deux aspects: matériel et spirituel“ 24 hebt Breton die Überlegenheit der haitianischen Kultur hervor, die er aufgrund ihrer angeblichen Gleichstellung von Ratio und Spiritualität, 25 die hier als ein ‚poetisches’ Anthropologicum verstanden wird, mit dem Anliegen der surrealistischen Bewegung engführt, den Menschen aus der Unterdrückung des Unterbewussten in eine Ganzheitlichkeit zu geleiten. Das surrealistische Befreiungsprogramm wird hier außerhalb Europas gelebt und bewahrt. Zugleich schreibt Breton damit (unbewusst) jenen europäischen Dekadenzdiskurs fort, der in der Betonung des Vitalen, mit dem ‚Leben’ 134 Actuelles Kommunizierenden, Spirituellen schon immer das afrikanische Erbe sah (man denke an Gobineau 26 oder an Jules Michelet, bei dem dies auch schon als haitianischer Freiheitsmythos besungen wird 27 ). Breton will diesen Diskurs dialektisch wenden, aber er zementiert damit zugleich einmal mehr die Hegelsche Annahme von der Überlegenheit des europäischen Komplexes in der Domäne des Geistes. Zweifelsohne enthält auch diese zweite haitianische ‚Begegnung’ eine universalgeschichtliche Dimension, die aufschlussreich für unser Verständnis von Kunst und Kultur ist. Wenn Le Clézio aber eine zeitgenössische Skulptur von Camille Henrot, die aus Rohren eines Lamborghini Espada zusammengeschweißt ist, neben eine alte geschwungene und antilopenköpfige Figur aus Mali stellt, 28 drängt sich die Frage auf, was dies über das Verhältnis der Objekte aussagen soll - dass der Mensch in seiner Anlage zu Kurve und Schwung neigt? Dass willkürliche Zusammensetzungen formal-ästhetisch inspirierend sein können? Dass die Aussagekraft der Dinge relativ und vergänglich ist? Nachts sind alle Katzen grau… Wenn man nicht wüsste, dass Le Clézio es ernst meint, verstünde man das Arrangement als postmodern-ironischen Kommentar zur Frage der Vielfalt. Aber schon der ‚haitianische’ Auftakt seiner Schau hatte uns gezeigt, dass es Le Clézio nicht um Assoziation und Formeklektizismus geht, sondern um die Vermittlung von Wahrnehmungsprozessen. Hier gerät Le Clézio in jenes gut gemeinte pseudohumanistische Programm, das auch am Quai Branly auf die Ästhetisierung der Objekte abhebt. Dabei verkennt er, dass die Frage der ‚Abstraktheit’ der afrikanischen Artefakte zwar vielleicht auf dem Kunstmarkt gut funktioniert, der zeitgenössischen afrikanischen Kunst aber gerade die schwere Hypothek mitgibt, sich stets dazu positionieren zu müssen - wobei sie oftmals konzeptueller oder gegenständlicher als die formalistisch-symbolistische Spielart à la Picasso oder Ernst sein will. 29 Letztlich erhärtet Le Clézio mit dieser Inszenierung, was er erzählend unterlaufen wollte: Die Gesetze des eurozentrischen Blicks auf die (Kunst-)Welt. Dies verweist bereits darauf, dass noch etwas in dieser Zuspitzung verloren geht: die Tatsache nämlich, dass die Ähnlichkeit der Form noch nichts über den gesellschaftlichen Status des Objekts sagt. So hat die europäische Kultur einen autonomen Kunstbegriff entwickelt, der eng mit der Moderne verwoben ist, und der Kunst gerade einen subversiven Charakter gegen jene Domäne des Rituals eingeräumt hat, aus der wohl die überwiegenden Objekte der ethnografischen Sammlungen stammen. 30 Zugleich hat er der Kunst dadurch aber ermöglicht, auf jene zu rekurrieren, um gegen einen einseitigen und zerstörerischen Rationalismus zu argumentieren. Gerade deshalb gibt es jenen Blick überhaupt nur, durch den Le Clézio die Objekte auf diese spezifische ‚entsozialisierte’, entkontextualisierte Art formal sinnhaft zusammenführen kann. Dies gehört zum emanzipatorischen Gehalt der Moderne, den man nicht verschenken möchte, schon gar nicht, wenn Le Clézio sich die Welt strukturiert wie ein (sein) Museum wünscht: „Le musée est un monde. Ouvert, changeant, jamais achevé. Et comme le chef Vincent Boulékone 31 , dans sa profonde et inquiète reconnaissance du réel, faisons en sorte que le monde soit un musée.“ 32 135 Actuelles Le Clézio hat uns über unsere europazentrierte Wahrnehmung der Kunst- und Kulturgeschichte dramaturgisch geschickt aufgeklärt und die Notwendigkeit, die Ausstellungspraxis zu befragen, dringlich erhärtet. Die große Frage aber, wie die kulturbedingte Differenz menschlicher Artefakte historisch und zugleich nicht-hierarchisch inszeniert werden kann, entläuft ihm unterwegs. Er löst sie letztlich in der Fetischisierung der außereuropäischen Objekte oder der spirituellen Banalisierung der europäischen Kunst auf, wobei die moralisch gleichwertige aber erkenntnistheoretisch relevante Differenz der Stellung der Objekte zwischen rituellem oder ästhetischem Mehrwert, ja zwischen Natur, Religion/ Spiritualität und Kultur ganz untergeht. Dabei wäre der Status des Ästhetischen in den verschiedenen Kulturen ein ganz zentraler zu verhandelnder Aspekt, 33 hinter der die Frage nach den Formen von Weltrepräsentation selbst aufscheint, wie sie Philippe Descola, der Schüler Claude Lévi-Strauss’, in der Anthropologie aufgeworfen hat. 34 Hier müssen moderne Museen der Kulturen der Welt ansetzen, das ist ihre entscheidende Aufgabe. Das Berliner Humboldt-Forum wäre hierfür der geeignete Ort, indem es die Idee des Louvre, von Gästen Ausstellungen zur Konzeption des Museums kuratieren zu lassen, aufnähme und diese um Le Clézios Frage des „Musée monde“ gruppierte. Nicht die feste Sammlung oder gar eine weitere Präsentation der preußischen Teilhabe an der Welt sollte in dessen Zentrum stehen, wenn die Kunst- und Kultobjekte der Kulturmuseen Berlins dort zusammengeführt werden, sondern die Verschiebungen von Erkenntnisinteresse und Erkenntnis in der Geschichte der Sammlungen. 35 Und dann, und dies wäre die eigentlich universalistische Aufgabe, sollten Künstler und Wissenschaftler unterschiedlichster Disziplinen und Nationen eingeladen werden, um über ihre Auseinandersetzungen mit den Objekten der Sammlungen ein mehrsprachiges Forum für die Differenz der über die Artefakte funktionierenden Weltrepräsentationen zu schaffen. Dieses wäre nicht mehr hierarchisch organisiert, würde laborhaft an der historischen europäischen Ausstellungspraxis arbeiten, aber gerade dadurch den kritischen, autonomisierenden europäischen Kunstbegriff nicht aufgeben, wobei es zugleich die Geschichte seiner kolonialen Verstrickung thematisieren könnte - auch in Spannung zu den umliegenden Berliner Kunst- und Kultursammlungen. 36 1 Vgl. z.B. die großen Presse-Kommentare von Joseph Hanimann: „Wo das wilde Denken wohnt: Musée du Quai Branly“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 138, 17.06.2006, Feuilleton, 41; Jeremy Harding: „At Quai Branly“, in: London Review of Books, Vol. 29, Nr. 1 (04.01.2007), 32-33; oder Michael Kimmelman: „A Heart Of Darkness In the City Of Light“, in: The New York Times, 02.07.2006, Art & Design (http: / / www.nytimes.com/ 2006/ 07/ 02/ arts/ design/ 02kimm.html? pagewanted=all). 2 Bei den Beständen, aus denen das Musée du quai Branly hervorgegangen ist, handelt es sich genauer um die Sammlungen des Musée National des Arts d’Afrique et d’Océanie und das Laboratoire d’Ethnologie du Musée de l’Homme. Während also die ethnologischen Sammlungen des Musée de l’Homme zum Quai Branly übersiedelt wurden, gehen die übriggebliebenen Bestände zur Vorgeschichte und zur naturwissenschaftlichen 136 Actuelles Anthropologie als ‚neues’ Rest-Musée de l’Homme in den Palais de Chaillot über und werden dort ab 2012 als Teil des Muséum National d’Histoire Naturelle exponiert. - Zu Entstehungsgeschichte und ‚offizieller’ Konzeption des Musée du quai Branly s. die Darstellung des für die Museologie zuständigen „Conseiller auprès du Président du Musée“ Germain Viatte: „Das Konzept: Ein Essay zum Musée du quai Branly als ‚projet muséologique’“, in: Cordula Grewe (ed.): Die Schau des Fremden. Ausstellungskonzepte zwischen Kunst, Kommerz und Wissenschaft, Stuttgart, Steiner, 2006, 207-214. 3 Jacques Chirac: „Inauguration du musée du quai Branly, le 20 juin 2006“. Abrufbar unter: http: / / www.jacqueschirac-asso.fr/ fr/ les-grands-discours-de-jacques-chirac? post_id=2542 4 Eine knappe und konzise terminologische Differenzierung zwischen Ethnografie, Ethnologie und Anthropologie liefert Philippe Descola: Diversités des natures, diversités des cultures. Paris, Bayard, 2010, 47-52. 5 Durchaus im Sinne von Clifford Geertz’ erkenntnistheoretischem Gebrauch, auf den ich hier anspiele; Geertz: „Dichte Beschreibungen. Bemerkungen zu einer deutenden Theorie von Kultur“, in: Ders.: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt/ M., Suhrkamp, [1973] 1987, 7-43, 33. 6 Vgl. etwa Bretons „Manifeste du surréalisme“ (1924), in: André Breton: Manifestes du surréalisme. Paris, Gallimard, 2010, 13-60, hier v.a. 13-19; sowie Philippe Soupault: Le nègre. Paris, Sagittaire, 1927, Neuauflage: Paris, Gallimard, 1997. - Zur Ambivalenz der avantgardistischen Konzeption des „art primitif“ vgl. Klaus von Beyme: Die Faszination des Exotischen. Exotismus, Rassismus und Sexismus in der Kunst. München, Fink, 2008, v.a. 131-157. 7 Lorenzo Brutti: „Die Kritik: Ethnografische Betrachtungen des Musée du Quai Branly aus der Perspektive eines teilnehmenden Beobachters“, in: Cordula Grewe (ed.): Die Schau des Fremden, op. cit., 231-251, hier 235. 8 „Wie sinnvoll ist es [-], eine kritische Auseinandersetzung mit der abendländischen Erfindung des ‚Wilden’ an einem Ort zu inszenieren, der radikal mit der europäischen Völkerkunde-Perspektive gebrochen hat und seine Exponate als ästhetische Objekte verabsolutiert? “, fragt Joseph Hanimann in: „Von der Absenz des Zeigens. Die Erfindung des „Wilden“: Das Musée du Quai Branly in Paris erzählt die Weltgeschichte des Menschen- Zoos“, in: Süddeutsche Zeitung, Nr. 4, 5./ 6.01.2012, Feuilleton, 13. 9 Vgl. Maurice Godelier: „Einheit von Kunst und Wissenschaft im Musée du Quai Branly“, in: Cordula Grewe (ed.): Die Schau des Fremden, 215-230, hier 219-222. 10 Vgl. Ebd. 11 Vgl. ebd., 218. 12 Aus der Begründung des Nobelpreis-Kommitees; Pressemitteilung vom 9. Oktober 2008 (http: / / www.nobelprize.org/ nobel_prizes/ literature/ laureates/ 2008/ press.html). S. auch den Katalog-Text des Louvre-Präsidenten Henri Loyrette: „Préface“, in: J.M.G. Le Clézio: Les musées sont des mondes. Paris, Gallimard/ Musée du Louvre éditions, 2011, 15f. 13 Vgl. hierzu den Katalog-Text von Marcel Dorigny, in: J.M.G. Le Clézio: Les musées sont des mondes, op. cit., 63. 14 Vgl. Susan Buck-Morss: Hegel und Haiti. Für eine neue Universalgeschichte. Frankfurt/ M., Suhrkamp, 2011, 115. 15 Vgl. Markus Messling: Champollions Hieroglyphen. Philologie und Weltaneignung. Berlin, Kulturverlag Kadmos (März 2012). 16 Es ist daher auch alles andere als zufällig, dass die von der EHESS und dem Institut des Sciences Humaines et Sociales (CNRS) betreute Zeitschrift Gradhiva. Revue d’anthropologie et d’histoire des arts die neue, unter der Ägide des Musée du quai Branly 137 Actuelles erscheinende Reihe im Jahr 2005 mit einer Ausgabe zu „Haïti et l’anthropologie“ eröffnet (abrufbar unter: http: / / gradhiva.revues.org/ 68). 17 Susan Buck-Morss, Hegel und Haiti, op. cit., 15-106. 18 Vgl. hierzu Hans Ulrich Gumbrecht: „Modern, Modernität, Moderne“, in: Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck (eds.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Band 4, Stuttgart 1978, S. 93-131. 19 Susan Buck-Morss, Hegel und Haiti, op. cit., 8. 20 J.M.G. Le Clézio: „Les musées sont des mondes“, in: Les musées sont des mondes, op. cit., 18-39, 19. 21 Vgl. ebd., 19. 22 Diese Geschichte ist von März bis Juni 2011 unter dem Titel „Aimé Césaire, Lam , Picasso - Nous nous sommes trouvés” im Pariser Grand Palais im Rahmen der „Année des Outre-mer“ materialreich erinnert worden. 23 André Breton: „Le Surréalisme“ (Port-au-Prince, 1945). In: Œuvres complètes III. Edition de Marguerite Bonnet. Paris, Gallimard (Pléiade), 1999, 150-167. 24 Ebd., 153. 25 „Considérant sous cet angle la condition de l’homme en Haïti par rapport à ce qu’elle est dans les pays qui se targuent d’être à l’avant-garde du progrès technique, je n’hésite pas à penser que c’est du côté de ces derniers que sont la misère spirituelle et la plus pressante détresse“ (ebd., 152). 26 Vgl. hierzu bald Sarga Moussa: „Le langage des Noirs dans l’Essai sur l’inégalité des races humaines de Gobineau. Sensation et création“. In: Markus Messling, Ottmar Ette (eds.): Wort Macht Stamm. Rassismus und Determinismus in der Philologie des 19. Jhs. München, Fink. 27 Vgl. Jules Michelet: La Femme, 4 ème éd., Paris, Hachette et C ie , [1860] 1863, 207-218, insbes. 213. 28 Zu den Abbildungen: J.M.G. Le Clézio: Les musées sont des mondes, op. cit., 101 u. 107. 29 Vgl. zum Problem der ent-ethnologisierten Ethnologisierung der afrikanischen Kunst von Beyme, Die Faszination des Exotischen, op. cit., 177-180; sowie Bartholomäus Grill: „Wie die Wilden. Anmerkungen zur immergleichen Wahrnehmung Afrikas und zur Entstehungsgeschichte dieser Ausstellung“, in: Who Knows Tomorrow. Katalog der Ausstellung zeitgenössischer afrikanischer Kunst in der Neuen Nationalgalerie Berlin (04.06.2010- 27.09.2010). Köln, Walther König, 45-55. - Dass der Kunstmarkt und seine Bedürfnisse bei der Konzeption des Quai Branly eine Rolle gespielt haben, ist immer wieder angenommen worden, vor allem aufgrund der Tatsache, dass der Berater des Präsidenten, Jacques Kerchache, einer der wichtigsten französischen Händler für afrikanische Kunst war; vgl. zu Problem und Diskussion Godelier, op. cit., 216 u. 218, sowie Brutti, op. cit. 235 f. 30 Autonomie ist dabei natürlich weder subjektivistisch noch objektivistisch als vollkommene Unabhängigkeit zu missverstehen, sondern als Begriff, der die „Herauslösung der Kunst als einen besonderen Bereich menschlicher Aktivität aus dem Zusammenhang der Lebenspraxis“ beschreibt, „zugleich aber dieses reale Phänomen schließlich in Begriffe fasst, die die gesellschaftliche Bedingtheit des Vorgangs nicht mehr erkennen lassen“ (Peter Bürger: Theorie der Avantgarde. Mit einem Nachwort zur 2. Auflage. 15. Aufl. Frankfurt/ M., Suhrkamp, [1974], 49-50; s. darin zum Problem der Autonomie der Kunst insgesamt das Kapitel II. „Zum Problem der Autonomie der Kunst in der bürgerlichen Gesellschaft“, 49-75.). Es geht also um einen Prozess der Ausdifferenzierung der Kunst als gesellschaftlichem Feld. 31 „chef traditionnel de la nation Apma de l’île de Pentecôte“; zu Le Clézios Begegnung mit diesem vgl. Le Clézio: Les musées sont des mondes, op. cit., 24. 138 Actuelles 32 Ebd., 39. 33 Vgl. hierzu die kluge Darstellung von Lorenzo Brutti, op. cit., v.a. 235-251; s. auch Godelier, op. cit., 223-229. 34 Vgl. Philippe Descola: Par-delà nature et culture. Paris. Gallimard (Bibliothèque des Sciences humaines), 2005; s. auch die wunderbar explikative Kurzform in Philippe Descola: Diversités des natures, diversités des cultures, op. cit. 35 Historizität und Differenz des Erkenntnisinteresses sind in der Ausstellung „Vision Humboldt-Forum“ im Alten Museum (August-Oktober 2009) durch die Kunst- und Wunderkammer sowie den Raum „Die Welt in Bewegung - Dialog der Kontinente“ thematisiert worden und sollten unbedingt vertieft werden (vgl. den Katalog Vision Humboldt-Forum. Die Welt in der Mitte Berlins. Berlin, Staatliche Museen zu Berlin, 2008). Das gilt insbesondere für die Idee, Objekte in ihrer kulturperspektivisch bedingten Polysemantik auszustellen, was durch verschiedene Informationsregister angedeutet wurde (Aussagen Einheimischer, koloniale Ethnografie usw.). 36 Die Idee des Labors ist ebenfalls in der Ausstellung „Vision Humboldt-Forum“ angedacht gewesen. Sie sollte allerdings das recht klassische Konzept der Zugänglichkeit und Erforschung übersteigen, indem sie die Nutzung der Objekte für ihre Repräsentation in den Blicken anderer, etwa ihrer Herkunfts-Kulturen, öffnet. Hierin liegt auch die Korrelation mit den Blicken zeitgenössischer Künstler auf die Sammlungen. Damit würde das Forum eine Tradition der europäischen Moderne aufgreifen, für die die Humboldt-Brüder stehen, die dem Forum ihren Namen leihen; s. Ottmar Ette: „Das Humboldt-Forum. Wo Humboldt draufsteht... - Plädoyer für ein Mobile der Kulturen“, in: Lettre International 86/ Herbst 2009, 203-208. - Zu den ‚offiziellen’ Planungen des Humboldt-Forums vgl. Thomas Flierl, Hermann Parzinger (eds.): Humboldt Forum Berlin: Das Projekt. Berlin, Theater der Zeit, 2009.