eJournals lendemains 37/148

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Narr Verlag Tübingen
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2012
37148

Nach den großen Alten. Zum Tode des Romanisten Karlheinz Barck

2012
Martin Treml
ldm371480141
141 In memoriam Martin Treml Nach den großen Alten. Zum Tode des Romanisten Karlheinz Barck Wenn zutrifft, was Hans Ulrich Gumbrecht vor zehn Jahren in seiner Sammlung von Essays Leben und Sterben der großen Romanisten erklärte, so gibt es seit 1976 keinen von ihnen mehr. Denn von den dort Gewürdigten: Karl Vossler, Ernst Robert Curtius, Leo Spitzer, Erich Auerbach, Werner Krauss, ist der letzte - eben Krauss - in jenem Jahr in Hessenwinkel verstorben, einem Vorort im Südosten Berlins. Dorthin hatte in seiner Person der Geist dieser kulturwissenschaftlichen Philologie ironischerweise Zuflucht gefunden in diesem kurzen, dafür umso blutigen 20. Jahrhundert, das mit der Russischen Revolution 1917 begann und mit dem Fall der Berliner Mauer 1989 endete. Es ist ein schreckliches, ein deutsches Jahrhundert gewesen. Aber in ihm arbeiteten eben auch jene großen Romanisten, deren besonderes Kennzeichen es war, dass sie nicht nur meisterlich Kenntnisse in zahlreichen Literaturen und ihren Kulturen aufwiesen, sondern stets auch ihre engeren Fachinteressen auf ein Allgemeines hin zu überschreiten verstanden. Das zog weite Kreise und interessierte ein gebildetes Publikum außerhalb der Zunft: Vosslers Anspruch, die Romania insgesamt zu erfassen, Curtius’ Vignetten zum Nachleben der Antike im Sinne Warburgs, Spitzers Stilstudien, die selbst einen Pasolini anregten, Auerbachs Theorie der Weltliteratur als einer Figur der Säkularisierung, schließlich der von Krauss vertretene Anspruch einer gesamteuropäischen Kultur- und Literaturgeschichte der Aufklärung, die selbst die nicht aufgeklärten Länder umfassen sollte, allen voran Spanien, und in der die Stimmen auch der minores vernehmbar würden. Überhaupt Krauss: er war als Widerstandkämpfe der Gruppe Schulze-Boysen/ Harnack nicht nur der heroische von ihnen allen, sondern verstand es auch, eine Gruppe von Schüler um sich zu sammeln, zuerst in Leipzig, dann in Ost-Berlin, die in seinem Sinne weiter arbeiteten und also nach den Großen stehen. Der intellektuell wohl vielseitigste unter ihnen, Karlheinz Barck, den seine Freunde nur „Carlo“ nannten, ist am 30. September dieses Jahres in Berlin gestorben. Geboren 1934 in Quedlinburg, nannte er sich einen „Beutepreussen“, nachdem Berlin zu seinem Lebensmittelpunkt geworden war. In Erinnerung blieb die Zeit nach der deutschen Niederlage, als die Schulen bis ins Frühjahr 1946 geschlossen blieben und man sich die Zeit damit vertrieb, Patronenhülsen zu sammeln, vorsichtig aufzuklopfen und das gesammelte Pulver dann am Boden zur Explosion zu bringen. Von 1953 bis 1958 studierte Carlo Romanistik mit den Fächern Französisch, Spanisch, Rumänisch an der Humboldt-Universität zu Berlin bei Victor Klemperer und Rita Schober, deren Assistent er auch war. Seine Diplomarbeit verfasste er über Die Geschichtsauffassung von Saint-Evremond bis zur Frühaufklärung. Zwei Jahre später wurde er wissenschaftlicher Mitarbeiter (damals genannt „Aspi- 142 In memoriam rant“) für Hispanistik bei Adalbert Dessau an der Wilhelm-Pieck-Universität Rostock, die er schon nach zwei Jahren wegen unbotmäßigen Verhaltens verlassen musste. Unterschlupf fand er in der Liga für Völkerfreundschaft, die seit 1964 Paul Wandel leitete, ursprünglich Maschinenbauer aus Mannheim und Kommunist aus dem Moskauer Exil, hoher Funktionär im Bildungsbereich, 1957 streng gerügt wegen ungenügender Durchsetzung der kulturpolitischen Linie der Partei. Von ihm war es möglich, eine Form von Überleben auch in staatsnahen Institutionen zu erlernen, ohne deshalb in Fundamentalopposition gehen zu müssen. Der mit Carlo später befreundete Heiner Müller kannte dies auch und sprach davon, man sei „da unberührt durchgegangen“ (Krieg ohne Schlacht, 1992). Als die geistig am meisten anregende Figur erwies sich freilich Krauss, der nicht nur das Thema der Dissertation über José Ortega y Gasset. Ein Beitrag zum Problem der nationalen Selbsterkenntnis in Spanien 1898-1936 (Rostock 1966) vorschlug, sondern Carlo auch an das von ihm gegründete Institut für romanische Sprachen und Kultur der Akademie der Wissenschaften der DDR holte, das 1969 im Zentralinstitut für Literaturgeschichte aufging. Dort arbeitete er gemeinsam mit dem Bolivianer Carlos Rincón und Fritz Rudolf Fries, der seinerseits freilich kurz darauf relegiert wurde, weil er heimlich an seinem ersten Roman geschrieben hatte, der noch dazu bei Suhrkamp im Westen erschien (Der Weg nach Oobliadooh, 1966). Offiziell wurde die Gruppe aufgelöst, inoffiziell arbeitete man zusammen weiter, so etwa bei der Herausgabe des Bandes moderner spanischer Lyrik Metamorphose der Nelke (1968). Dort zeichnet für ein Gedicht von Gerardo Diego auf den Seiten 88-89 ein gewisser Werruk S. Serna verantwortlich. Es war kein anderer als Krauss selbst, den seine Schüler und Mitarbeiter „den Alten“ nannten und der mit großer Freude pseudonym auch Hand angelegt hatte. An der Akademie arbeitete Carlo von 1976 bis zu ihrer Abwicklung 1991 schließlich als Bereichsleiter für Theorie und Methodologie der Literaturwissenschaft. Vor allem seit den 1980er Jahren bestanden engere Kontakte zu Kollegen im Westen, der BRD, aber auch nach Frankreich und den USA. Auch deshalb war es möglich, am Vorhaben eines Wörterbuchs Ästhetischer Grundbegriffe zu arbeiten, Ideen dafür zu sammeln, sich mit Hans Robert Jauß, Reinhart Koselleck, François Lyotard darüber auszutauschen. Kurz vor dem Untergang der DDR - deren Bürger der Weltbürger Carlo eben auch war - habilitierte er sich mit Studien zur Reflexionsgeschichte poetischer Imagination zwischen Aufklärung und Moderne (als Buch unter dem Obertitel Poesie und Imagination 1994 erschienen). Eigentlich hätte er jetzt Professor werden können, es gab auch Verhandlungen mit der neu aufzubauenden Humboldt-Universität, sie zerschlugen sich. So dass nach einer Zeit des Übergangs Carlo als Projektleiter für Theorie und Geschichte ästhetischen Denkens am Zentrum für Literaturforschung in Berlin fungierte, das 1995 unter der Direktion von Eberhart Lämmert gegründet und seit 1999 von Sigrid Weigel ausgebaut wurde. Dort war er bis 2007 Ko-Direktor und arbeitete als geschäftsführender Herausgeber eines - darauf legte er besonderen Wert - work in progress, gemeinsam mit Martin Fontius, Dieter Schlenstedt, Burkhart Stein- 143 In memoriam wachs und Friedrich Wolfzettel. Ästhetische Grundbegriffe. Ein Historisches Wörterbuch in 7 Bänden erschien nach über zehnjähriger Arbeit von 2000 bis 2005. Carlo auf die Theorie der Ästhetik und die Begriffsgeschichte in wie avancierter Form auch immer festlegen zu wollen, erschiene jedoch als verfehlt. Selbst eine solche An den Rändern der Enzyklopädie - so der Titel einer seiner vielen „Fest“- Schriften (2011), die immer einfallsreich und ausgefallen waren, eben echte Geschenke - wäre Carlos intellektuellem Profil nicht gerecht geworden. Und hatte nicht schon Krauss von Macht und Ohnmacht der Wörterbücher (1945) gesprochen? Mindestens ebenso sehr wie Wissenschaftler und Akademiker war Carlo homme des lettres, Übersetzer von Gedichten Rimbauds (2003) und Herausgeber des „umwerfend gestalteten Standardwerks“ Surrealismus in Paris 1919 bis 1939 (1986) - so die Junge Welt in ihrem Nachruf -, das Paris nach Ost-Berlin brachte. Am Ende arbeitete er an einem Band über Louis Auguste Blanqui, den er allerdings nicht als den in den Kerkern verschimmelnden Barrikadenkämpfer darstellen wollte, sondern als Poetologen, der angesichts der Größe und der Katastrophe der Commune in L’Eternité par les astres (1872) eine Zukunft ewiger Wiederkehr und kosmologischer Größe beschreiben wollte. Darüber ist Carlo gestorben, und es ist an seinen Freunden, diesen Band neben anderem zu Ende zu bringen.