eJournals lendemains 37/148

lendemains
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Narr Verlag Tübingen
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2012
37148

Nachruf auf den Bremer Romanisten Klaus Schüle

2012
Mechtild Gilzmer
ldm371480139
139 In memoriam Mechtild Gilzmer Nachruf auf den Bremer Romanisten Klaus Schüle „A l’enterrement d’une feuille morte deux escargots s’en vont [….] Hélas quand ils arrivent/ C’est déjà le printemps/ Les feuilles qui étaient mortes/ Sont toutes ressuscitées“ (Jacques Prévert) Gerne hätte ich noch seine Meinung über den neuesten Film von Volker Schlöndorff gehört, in dem böse Franzosen und gute Deutsche die Besatzung Frankreichs und die Kollaboration während des Zweiten Weltkriegs in einem komplexen aber nicht unproblematischen Licht erscheinen lassen. Doch es kam nicht mehr zu diesem Gespräch. Sein schwaches Herz hat uns einen Strich durch die Rechnung gemacht: Anfang Februar ist der Bremer Romanist, Klaus Schüle in Bremen im Alter von 72 Jahren viel zu früh verstorben. Kennen gelernt habe ich den engagierten Fremdsprachendidaktiker und Frankreichkenner in den 80er Jahren in Toulouse. Mit der ihm eigenen unkonventionellen pädagogischen Art leitete er seine Studierenden an, sich selbstständig und mit allen Sinnen der ville rose, ihren Bewohnern und Eigenarten zu nähern. Dabei vermittelte er ihnen en passant ganz unprätentiös Kompetenzen, die als „Fremdkulturverstehen“ und „interkulturelle Kommunikation“ einige Zeit später in den Seminaren (nicht nur) der Romanistik einen festen Platz erhielten. Klaus Schüle war ein Mann der Praxis. Als ehemaliger Französischlehrer hatte er es sich als Dozent in der Romanistik der Universität Bremen zunächst zur Aufgabe gemacht, gemeinsam mit den Studierenden möglichst authentische und adressatenbezogene Lehrmaterialien für den Französischunterricht zu entwickeln. Dazu benutzte er bereits früh visuelle Medien. So entstand zum 200. Jahrestag der französischen Revolution ein Film über „Die gestylte Revolution“. Bereits sehr früh faszinierten ihn die Pariser Lebenswelten. Seine politische Überzeugung und sein Engagement für eine gerechtere Gesellschaft gaben die Themen vor, mit denen er sich beschäftigte: die kleinen Leute, das Paris der Menschen an den Rändern, die Abweichler und Außenseiter. Daraus entstanden seine etwas anderen Porträts Pariser Stadtbewohner, von denen einige auch für Unterrichtszwecke didaktisiert wurden. Er gehörte zu jener im Krieg geborenen Generation von Frankreichkennern, die ihre Ideale in Frankreich realisiert sahen und auf Frankreich projizierten, auf jede Abweichung davon aber umso kritischer reagierten. Trotz seiner Begeisterung für „la douce France“ und die revolutionäre Tradition der „contestation“ nahm Klaus Schüle deshalb auch die Schattenseiten der französischen Geschichte genau unter die Lupe. Dazu bot ihm sein mehrjähriger Aufenthalt als DAAD-Lektor im Senegal genügend Stoff. Seine Beobachtungen im postkolonialen Afrika flossen nicht 140 In memoriam nur in sein Frankreichbild ein, sondern waren auch Anlass für ihn, kritisch über Fremdsprachendidaktik im frankophonen Afrika nachzudenken. Uns verband das Interesse an einer Romanistik, die sich einen Blick über den Zaunpfahl einer allzu enggefassten romanischen Philologie erlaubt. Mit seiner Dissertation von 1975 über Politische Determinanten und Schwerpunkte im Deutschlandbild der französischen Résistance am Beispiel der Widerstandspresse, betrat Klaus Schüle absolutes Neuland. Der Wissenschaftler, der sein Metier stets als politisch denkender und handelnder Mensch betrieb, verstand sich als Impulsgeber für eine moderne Romanistik und eine Landeskunde, die ihren Gegenstand auch in den sozialen und politischen Lebenswelten sieht. Was dies konkret bedeutet, hat Klaus Schüle vorbildlich mit seinen drei Parisbüchern demonstriert, Ergebnis jahrelanger intensiver Recherchen. Der Stadtraum war für Klaus Schüle Ort der Repräsentation, Ausdruck von politischer Macht und kulturhistorisches Archiv schon lange bevor der „spatial turn“, in Mode kam. Stadtentwicklung und Stadtgeschichte, die kulturelle Konstruktion und die politische Geschichte von Paris seit der französischen Revolution sind in seinen Studien facettenreich dargestellt. Auch diese Arbeiten zeichnen sich dadurch aus, dass sie ohne den üblichen Wissenschaftsjargon auskommen. In den 90er Jahren entdeckte Klaus Schüle als einer der ersten das innovative Potential des Mediums Internet für die Romanistik. Er initiierte die elektronische Fachzeitschrift „France-Mail-Forum“ und entwickelte daraus gemeinsam mit seinen Bremer Kollegen ein in seiner Art einzigartiges Instrument zur Präsentation aktueller Informationen über die politische und kulturelle Aktualität Frankreichs und der frankophonen Welt. Die Enttäuschung über seine Anerkennung in der Romanistik kompensierte Klaus Schüle auf höchst humorvolle Weise, indem er sich zunehmend künstlerisch betätigte, ohne dabei den französischen Kontext aus den Augen zu verlieren. In seinem äußerst amüsanten Krimi „Akte L, Erbfreunde auf Schnäppchenjagd“, nimmt er den zweifelhaften Deal zwischen dem französischen Staatskonzern Elf- Aquitaine und der Treuhand im Rahmen der Privatisierung des Mineralölkonzerns Minol ironisch aufs Korn. Im Wissen um seine fragile Gesundheit konzentrierte sich Klaus Schüle in den letzten Jahren vor allem auf seine „Herzensangelegenheiten“. Dabei entwickelte er in seinen künstlerischen Arbeiten zunehmend einen sensiblen Blick für das Allgemeine im Besonderen: das Universell-Menschliche. Davon zeugen seine Krimis ebenso wie seine Photoserien von Landschaften, in deren bizarren Formen menschliche Antlitze auszumachen sind. Eines seiner letzten Bücher behandelt Die Pervertierung des internationalistischen Handelns, der Demokratie und der Menschenrechte. Klaus Schüle und seine kämpferische Stimme werden (nicht nur) der deutschen Romanistik fehlen.