eJournals lendemains 37/148

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Narr Verlag Tübingen
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2012
37148

Der fremde Blick auf die Libération. Louis Guilloux’ Roman O.K. Joe!

2012
Thomas Amos
ldm371480075
75 Dossier Thomas Amos Der fremde Blick auf die Libération. Louis Guilloux’ Roman O.K. Joe! S’il y a ciel il y a sable Aragon für Helmut Bertram Begreift man die Besetzung durch fremde Truppen als Kollektivtrauma einer Nation, das der Thematisierung und Verarbeitung bedarf, so brachte die französische Literatur zwei bedeutende, auch in empirischer Hinsicht kanonische Texte hervor. Guy de Maupassant schildert in Boule de suif (1880) mit anti-bürgerlichem Impetus eine Episode aus dem Deutsch-Französischen Krieg als groteske Farce. 1 Vercors (i. e. Jean Bruller) nicht minder bekannte Erzählung Le silence de la mer (1942) evoziert ein anderes, humanistisches und frankophiles Deutschland in der Gestalt des Offiziers Werner de Ebrennac, der freilich vor der Brutalität des Nationalsozialismus kapituliert und den Tod an der Ostfront sucht. 2 Dass insbesondere die Jahre der deutschen Besatzung 1940-44 bis in die Gegenwart eine ungebrochene Anziehungskraft auf Autoren wie Leser ausüben, beweist Un amour sans résistance (2003) von Gilles Rozier. Louis Guilloux’ 1976 veröffentlichter Roman O. K. Joe! gehört dieser Art von „Besatzungsliteratur“ an, paradoxerweise müsste man sagen, da darin den Deutschen eine allenfalls marginale Rolle zufällt. Erst gegen Ende erscheinen für einen Augenblick Wehrmachtssoldaten, nachdem sie sich ergeben haben, als erbärmliche Kriegsgefangene: „[…] la veste déboutonnée et les mains croisées sur la nuque, entassés debout sur les plates-formes de camions découverts. […] Ne pouvant s’agripper à rien, les prisonniers dodelinaient de droite et de gauche comme des poupées de son. Des hommes sans regard.“ (Guilloux: 1976, 223) Angesiedelt an einer doppelten, räumlichen und zeitlichen Peripherie - Schauplatz: die französische Provinz, die Bretagne, wohin die amerikanischen Truppen allmählich vordringen, Zeit: Anfang August 1944 bis zur Befreiung von Paris - erhebt dieser historische Roman, der das Genre in durchaus kritischer, selbst-reflexiver Intention angeht, keinerlei Anspruch auf eine umfassende Wiedergabe der auf die Besatzung unmittelbar folgenden Zeit. Guilloux gibt nicht den auf Vollständigkeit bedachten Chronisten, Leerstellen finden sich mehrfach. Beispielsweise unterschlägt Guilloux die schon vor Kriegsbeginn existierenden bretonischen Unabhängigkeitsbestrebungen, prominent vertreten durch Célestin Cainé, die der nationalsozialistische Propaganda-Apparat geschickt ausnutzte. Weiter blendet er die kuriose Tatsache aus, dass die deutsche Garnison in Lorient erst am 10. Mai 1945 aufgab, die Bretagne also bei weitem nicht vollständig in französischer Hand war. Bemerkenswert bleibt auch, wie die schlagkräftige bretonische Résistance auf geradezu 76 Dossier distanzierende Weise, nämlich durch eine inhaltlich nicht mit dem Roman verbundene Binnenerzählung Erwähnung findet: Madame Flore, eine reiche Bäuerin, erzählt amerikanischen Offizieren bei Tisch von dem fiktiven Maquis de la Croix- Saint-Bernard unter dem Kommandanten Brémont (vgl. 237-245). Genau genommen entstammt die Episode übrigens einem Bürgerkrieg, werden doch die deutschen Besatzer durch die grausam wütende Miliz des explizit genannten Aimé-Joseph Darnand vertreten (vgl. 243). Eine Erklärung für die aus zweiter erzählerischer Hand erfolgende Behandlung des Widerstandes wäre zum einen, dass sich Guilloux mit Absicht den von der Literatur über die deutsche Besatzung gern gebrauchten üblichen Stereotypen verweigert, wozu die Glorifizierung der Résistance zwecks identitätsstiftender Wirkung gehört. Ohnehin verzichtet er in O.K. Joe! auf jegliche Heroisierung. Zum anderen erprobt Guilloux am Beispiel der Befreiung der Bretagne das Potential des historischen Roman, wozu ein selektives und fokussierendes Darstellungsverfahren gehört. Insgesamt präsentiert der Roman, wenn er sich jenen Momenten zuwendet, da die Welthistorie und, was Guilloux mehr interessiert, ihre Auswirkungen auf die Bretagne erreichen, eine seltsame, zwischen Krieg und dem eigentlichen Postbellum eingeschobene Übergangszeit. „Où en étais-je? Où en étions-nous? Tout était allé si vite“ (115) fragt sich der Erzähler höchst verwundert und zudem mit einiger, aus der Distanz mehrerer Jahrzehnte herrührenden Skepsis. So lässt sich das verhältnismäßig kurz abgehandelte Ende der deutschen Besatzung in Guilloux’ Heimatstadt Saint- Brieuc am 6. August 1944 schwerlich aus der unbestimmten temporalen Angabe (vgl. 113), sondern höchstens aus eingestreuten Straßennamen erschließen (vgl. 115-119); gänzlich unerwähnt bleibt die Mitwirkung der amerikanischen Truppen der Task Force A. Die erwähnten Szenen - vereinzelt andauerndes Geschützfeuer, Brände, Detonationen aus dem Hafengebiet, die Zerstörung der deutschen Feldbuchhandlung, abgeführte Kollaborateure - gehen überall in Frankreich mit der Libération einher. Indem Guilloux seinen Erzähler lakonisch, aber auch abschätzig resümieren lässt: „C’était ça l’Histoire, les grands moments de l’histoire, des souvenirs déjà! Des images“ (118), stellt er mittelbar auch die Frage nach der Beschaffenheit der von ihm ausgewählten „Bilder“, nach ihrer Dauer und Gültigkeit - und diskutiert, damit gekoppelt, beiläufig Aufgabe und Selbstverständnis der Geschichtschreibung. Der Romancier Guilloux praktiziert hier eine historiographische, bei der Entstehung von O.K, Joe! noch heterodox wirkende und als marxistisch abgetane Position, die statt der Ausrichtung auf die makers of history vorrangig die Alltagswirklichkeit der Menschen und ihre mittelbare Teilnahme an den Zeitläuften untersucht. Anhand konkreter Details und einzelner Schicksale sollen historische Ereignisse erlebbar werden, um letztlich Kausalitäten offenzulegen. Verglichen mit den im kollektiven Gedächtnis der Franzosen fixierten Erinnerungen an die Libération - de Gaulles Einzug auf den Champs-Elysés etwa - hinterlassen Guilloux’ miniaturhafte Szenen vom Rand der Geschichte eine stärkere Wirkung. Zu diesen Einblicken gehören: ein aufgelöstes Soldatenbordell („[…] les trois des putains […] tournant, virant et virevoltant dans leurs pauvres toilettes criardes, 77 Dossier rose, mauve, verte…“; 231) oder ein den Deportationen entgangenes jüdisches Ehepaar, das beim bloßen Geräusch von Militärstiefeln noch immer vor Schreck zusammenzuckt (vgl. 206f.). Guilloux bedient sich einer sorgfältig austarierten Bilder-Sprache; einmal dienen ihm Fotografien, um Kollaboration und Widerstand, die beiden extremen Reaktionen der Franzosen auf die deutsche Besatzung, den Bewohnern von Saint-Brieuc vor Augen zu führen: „Ici et là […] étaient exposés d’horribles documents: des photos des charniers qu’on venait de découvrir, d’horribles images de jeunes hommes et de jeunes femmes emmenés dans les bois et massacrés à coups de pioche, de pelle brûlés, déchirés comme par les bêtes, des images des camps de prisonniers, d’autres images de femmes que l’on voyait boire le champagne en compagnie de soldats allemands.“ (118) Fern der Hauptakteure Hitler und Pétain verdichten sich die großen Themen der Zeitgeschichte in sofort verständlichen, lang nachwirkenden Bildzeugnissen. Die dem Erzähler wie dem Leser anlässlich der Befreiung in Erinnerung bleibenden Bilder sind freilich anderer, teils sehr originärer Art, etwa dieses, das, von bemerkenswerter Eindrücklichkeit, eine fragmentarische Geschichte birgt: „[…] un marin français, dans les bottes d’un marin allemand, tenant dans sa main le bonnet de l’Allemand dont les rubans flottaient…“ (119) An anderer Stelle bleibt von einem Topos der Befreiung, der öffentlich durchgeführten, demütigenden Bestrafung einer Französin, die sich mit Deutschen einließ, nur ein flüchtiges Schlußbild : „Plus rien que la chaise le long du mur et par terre aux pieds de la chaise les mèches brunes comme des plumes d’oiseaux que le petit vent du soir commence à dissiper.“ (126) Derartige Bilder, die angetan sein könnten, die Realität nach Art des Magischen Realismus poetisch zu verklären setzt Guilloux allerdings sparsam ein. Die Struktur des (wie die Erinnerung) in eine Vielzahl meist kurzer Sequenzen aufgeteilten (oder zersplitterten) Romans imitiert zwar eine filmische Erzählweise, Vorbild ist jedoch nicht der Spielfilm, sondern der nüchterne Dokumentarfilm. Ausgehend von diesem Gestaltungsprinzip lässt sich in der Figur des Erzählers, der seine amerikanischen Freunde nicht ins Kino begleitet (vgl. 105 u. 107), wo „de sacrés bon films“ (107), vermutlich Komödien oder Kriminalfilme der Schwarzen Serie laufen, bereits Louis Guilloux selbst erkennen. Später, wenn er sich einem Amerikaner als „Louis“ vorstellt, bestätigt dies der Erzähler recht deutlich. Tatsächlich verarbeitet Guilloux in O.K., Joe! Eindrücke und Erlebnisse seiner schon am 7. August 1947 einsetzenden Tätigkeit als Gerichtsdolmetscher im Dienste des amerikanischen Heeres (vgl. Kaplan: 2005, 22). Trotz dieser biographischen Übereinstimmungen, wäre eine komplette Gleichsetzung Guilloux’ mit dem Erzähler falsch. Da der Autor ein sorgsam stilisiertes Bild von sich abgeben will, unterschlägt er kurzerhand Frau und Tochter (vgl. Guilloux: 1976, 112) sowie, noch wichtiger, seine Mitarbeit in der lokalen Résistance (vgl. Kaplan: 2005, 9-15). Diese die eigene Person zurücknehmende Selbststilisierung geschieht, um die für einen Berichterstatter unabdingbare Objektivität zu gewährleisten; gleichzeitig nimmt Guilloux bei der Niederschrift des Romans eine deutliche Distanz zu sich selbst und jenen Augusttagen des Jahres 1944 ein. 3 Nicht dienlich wäre Guilloux ein wie 78 Dossier auch immer geartetes Engagement, da er als dokumentierende Erzählerfigur den seiner Meinung gemäßen, sie exakt widerspiegelnden Typus einsetzen will, eine gewissermaßen leere, zwischen Vergangenheit und Zukunft aufgestellte, beziehungs- und bezugslose Figur. Mit der ebenfalls auf den eigenen biographischen Hintergrund zielenden Äußerung „Quant à mon propre travail il y avait longtemps que j’en ai perdu l’envie“ (Guilloux; 1976, 114) signalisiert Guilloux eine Unterbrechung seiner regulären schriftstellerischen Arbeit. Zu den erzähltechnischen Verfremdungsverfahren des Romans gehören jenen Szenen, da der Erzähler sich selbst wie aus räumlicher Entfernung betrachtet. Vor einem Gasthof („une vieille auberge à l’ancienne mode“; 112) mit dem bezeichnenden Namen „Espérance“ sitzend, überkommen ihn seltsame Gedanken: „J’étais là presque sans pensées, presque sans souvenirs, comme étranger“ (113); später stellt er ähnlich fest: „Je me sentais étranger à moi-meme et à tout, accablé par le sentiment de l’inutilité de toutes choses.“ (139) Nicht zufällig sind die Gefühle der Selbstentfremdung und des Sich-Fremd-Fühlens beide Male mit dem Substantiv „étranger“ verbunden. Guilloux bedeutet mithin selbst die wichtigste intertextuelle Referenz seines Romans, der auch eine freundschaftliche Hommage an den Kollegen und Freund beinhaltet: 1945, ein Jahr nach Erscheinen von L’Etranger lernt er Albert Camus kennen; es folgt ein reger, von gegenseitiger Wertschätzung geprägter Austausch, der einschließlich wechselseitiger Manuskriptlektüre bis zu Camus’ Tod 1960 andauert (vgl. Guérin: 2000). Zwischen Meursault und Guilloux’ Erzähler bestehen mehrere relevante Gemeinsamkeiten (eine grundsätzliche gesellschaftliche Außenseiterposition, eine insgesamt gleichgültige Einstellung gegenüber der Realität, die existentielle Verlorenheit), aber auch Unterschiede, deren wichtigster, die hervorgehobene Stellung eines Dolmetschers der amerikanische Armee, von verhältnismäßig starker sozialer Einbindung zeugt, ganz abgesehen von der wichtigen symbolischen Bedeutung des zwischen den amerikanischen Befreiern und den befreiten Franzosen auftretenden Mittlers. Unter den Offizieren bleibt „Louis“ jedoch, obwohl sie ihn überaus freundlich aufnehmen, ein Ausländer und Fremder, und: je näher er die eigenen Gesetzmäßigkeiten unterworfene Welt der Amerikaner kennenlernt, desto problematischer erscheint sie ihm. Er, dem die Aufgabe, sprachlich zu vermitteln zufällt, fühlt sich mehr und mehr als Fremder, unter Amerikanern wie unter Franzosen. Für diesen langsam ablaufenden Entfremdungsprozess steht exemplarisch seine ambivalente Reaktion auf die Dienstuniform: „Je me suis senti riche dans mon uniforme neuf, solide, comfortable, sauf quand même, je me sentais un peu honteux, comme si j’avais plus ou moins volé tout cela.“ (Guilloux: 1976, 180f.) Fast meint man, eine Passage aus L’Etranger vor sich zu haben, so treffend gelingt die Imitation von Meursaults Sprechweise samt der für ihn typischen Schwierigkeit, Gefühlsregungen zu zeigen. Groteskerweise bewirkt die amerikanische Uniform, das äußere Indiz einer scheinbaren Verwandlung in einen Amerikaner, dass Passanten seine Identität als Franzose bezweifeln. Dies äußert sich, was gerade einem Dolmetscher bzw. Schriftsteller besonders bitter vorkommen muss, auf der sprachlichen Ebene als gestörte Kommunikation: „[…] les gens me pre- 79 Dossier naient pour un Américain, ils me parlaient en charabia ou dans un anglais de collège et quand je leur disais que j’étais français ils avaient l’air de penser que je leur avais fait une blague. Ils devenaient méfiants […].“ (208f.) Die wichtigste Gemeinsamkeit der zwei Figuren Meursault und „Louis“ aber ist die zu äußerster Objektivität und weitgehender Emotionslosigkeit getriebene Erzählweise, der unbeteiligte, kalte Blick auf eine fremde Welt. Camus hat mit Meursault keineswegs den lediglich registrierenden, niemals wertenden oder kommentierenden Erzähler erfunden. Christopher Isherwood eröffnet seinen Roman Goodbye to Berlin (1939) mit dem programmatischen Satz „I am a camera with its shutter open, quite, passive, recording, not thinking“ (Isherwood: 2003, 9; 1 1939), darin er dem auktorialen Erzähler eine rein mechanische Aufzeichnungsfunktion zugesteht, ja ihn auf einen filmischen Apparat reduziert. Möglichweise propagiert Isherwood ein unbestechliches Kamera-Auge, weil der Grundsatz der neutral bleibenden Sachlichkeit ihm die einzige adäquate Möglichkeit erscheint, eine politische Entwicklung abzubilden, ohne darüber wahnsinnig zu werden: Alle seine Berlin-Romane behandeln den aufkommenden Nationalsozialismus. Das brisante Thema, das Guilloux’ Erzähler-Dolmetscher vermitteln will, ist der damals in der amerikanischen Armee existierende Rassismus. Alice Kaplan hat in ihrer Guilloux’ Roman mit der Realität komplettierenden Dokumentation konstatiert, dass von den siebzig in Europa während des Zweiten Weltkrieges zum Tode verurteilten Amerikanern fünfundfünfzig eine dunkle Hautfarbe hatten (vgl. Kaplan: 2005, 7). Durch gründliche Recherche gestützt, zeichnet sie die beiden in O.K. Joe! ihres beispielhaften Charakters wegen besonders eingehend geschilderten Fälle nach. Der schwarze Private James E. Hendricks wird schuldig gesprochen, mit Vergewaltigungsabsicht ein Haus gestürmt und dabei durch die geschlossene Tür einen Bewohner erschossen zu haben; das Urteil lautet: Tod durch den Strang (vgl. 37-88). Dem weißen Captain George Whittington, der angetrunken einen Franzosen, einen „combattant volontaire français“ (Guilloux: 1976, 209) erschießt, attestiert das Gericht hingegen Notwehr und erkennt auf Freispruch (vgl. Kaplan: 2005, 91-139). Eine gewisse Pikanterie bekommt der Fall dadurch, dass der Franzose abgelehnt haben soll, sich gegenüber dem Ranger auszuweisen (vgl. Guilloux: 1976, 215). Insbesondere dieses Gerichtsverfahren erlebt Guilloux als Farce (vgl. 209-232); Capatin Whittington erscheint ihm als selbstgefällige, archaische Schreckensgestalt: „L’ogre des légendes. Le tueur. Un grand gros ogre, une large figure écarlate, rayonnant, riant de toutes ses dents.“ (232) Die voreingenommen Gerichte sind ohne Zweifel nur Ausdruck einer Gesellschaft, die Rassentrennung praktiziert und das Bild des bedrohlichen Schwarzen verinnerlicht hat. Wenn der Erzähler mit einem befreundeten Offizier ein Gespräch über die zahlreichen verurteilten schwarzen Soldaten beginnen will, stößt er auf Unverständnis (vgl. 194). Vor allem die Meinung, es könne sich um ein Sondergericht handeln, verneint der Amerikaner indigniert. Wie fremd sich Weiße und Schwarze selbst in der demokratischen U. S. Army gegenüberstehen, welche Vorurteile herrschen, zeigt seine Bemerkung: „Ce n’est tout de même pas notre faute s’ils ne peuvent pas voir une fille 80 Dossier sans chercher à la violer.“ (194) Unverhüllt offenbart sich hier die Vorstellung der Schwarze an sich sei animalisch, triebgesteuert, folglich höchst kriminogen, weshalb er ein großes Gefahrenpotential berge. Der Erzähler bemüht sich indes um weitere Aufklärung. Ein anderer Offizier, zugleich Jurastudent, erklärt ihm, Amerika sei eine „vraie démocratie“ (198), da es dort nur zwei Parteien gebe. Auf die Frage, weshalb das Gericht ausschließlich Schwarze verurteile, antwortet er: „Oh! Vous ne les connaissez pas. Ils sont déchaînés! “ (198) Anscheinend wird hier ein Tabu berührt, wie der Erzähler lapidar bemerkt: „Il n’aimait pas parler de cela. Il n’aimait pas le sujet.“ (198f.) Alice Kaplan resümiert: „It was the system that was rotten, and Guilloux’s defendants were expressions of that system.“ (Kaplan: 2005: 147) Ein Sinnbild für die verächtliche und ungleiche Behandlung der farbigen Soldaten in der Armee stellt der Chauffeur Joe dar. Vor dem Hintergrund der Biographie Guilloux’ betrachtet, trifft Alice Kaplans Vermutung sicherlich zu, dass, der Titel des Romans eine wohlwollende Reminiszenz an die Sprache und Sprechweise der Amerikaner darstellt, das amerikanische Englisch, das Guilloux so sehr begeisterte (vgl. Kaplan: 2005, 7 u. 26). Nichtsdestoweniger ist von einiger Bedeutung, dass ein Roman, der so sehr an Rändern angesiedelt ist, an hervorgehobener paratextueller Stelle gleichsam signalhaft eine Nebenfigur führt, den Chauffeur der Offiziere. Von seinen Vorgesetzten wird er kaum beachtet; die einzigen an ihn gerichteten Worte „O.K. Joe! “, die Aufforderung loszufahren, durchziehen als Leitmotiv den Roman. Einsicht in Joes Psyche gibt Guilloux nicht; offenbar hat sich der Soldat Joe mit seiner Situation abgefunden: „Quant à Joe, en sa qualité de simple chauffeur, sans doute pensait-il n’avoir jamais le droit de rien dire, tout citoyen qu’il était de la plus grande démocratie du monde.“ (Guilloux: 1976, 222) Der von den Offizieren so demonstrativ missachtete Joe ist jedoch für Gilloux Konzept einer „Geschichte von unten“ einer jener unzähligen Namenlosen, ohne deren Einsatz, die Landung der Alliierten missglückt wäre. Aus marxistischer Position heraus hat Bertolt Brecht in dem Gedicht Fragen eines lesenden Arbeiters (1937; Svendborger Gedichte) an all die namenlos bleibenden, aus der herkömmlichen Geschichtsschreibung ausgeschlossenen Soldaten, Helfer, Sklaven erinnert und sie zu den eigentlichen Helden und Akteuren der Weltgeschichte erklärt. Die Schlußverse „So viele Berichte. / So viele Fragen“ (Brecht: 1988, 29) rufen zur Neubetrachtung und Neugestaltung der Geschichte gleichermaßen auf. O.K. Joe! läuft auf die Frage zu, ob die als Befreier Frankreichs auftretenden Amerikaner, die von den Franzosen auch eindeutig als solche wahrgenommen wurden, jene vorbildhafte und vollkommene Demokratie verkörpern, die man ihnen 1944 gemeinhin zuschreibt. Wenn Guilloux dies mittelbar verneint, vertritt er nicht nur jenes mittlerweile längst wiedererwachte französische Selbstbewusstsein, an dessen Anfang General de Gaulles Einzug in Paris am 25. August 1944 und die nach Kriegsende ostentativ gewürdigten, unbestreitbar bedeutenden Leistungen der Résistance stehen. Guilloux’ präzise Beobachtungen zeigen die Armee als Spiegel der amerikanischen Gesellschaft: Beide praktizieren eine rigide Spaltung der Gesellschaft in Weiße und Schwarze, was nicht allein die Zusammensetzung 81 Dossier der U. S. Army belegt, die Schwarzen den Offiziersrang verwehrt, sondern, noch fataler, die an rassistische Lynchjustiz erinnernden Militärtribunale. Das fehlende Gleichheitsprinzip und die parteiische Jurisdiktion lassen, so befindet Guilloux’ Argumentation, die amerikanische Demokratie zumindest fragwürdig erscheinen. Zweifelsohne ist diese harsche Kritik auch das Ergebnis einer gewandelten Sicht auf Amerika. In der Nachkriegszeit verliert Frankreich nicht nur seine einstige kulturelle Hegemonie, auch die USA diskreditieren sich in den Augen vieler Europäer durch den Vietnamkrieg. Diese Kritik ist natürlich 1976 klar vernehmbar, wenn der Erzähler gegen Ende von O. K. Joe! die aufgemalten Inschriften der Geschütze entdeckt - und sogleich ins Französische übersetzt: „ […] oui, j’avais bien vu: Death-dealer: le donneur de mort. Et un peu plus loin un autre: Widow-maker: le faiseur de veuves.“ (Guilloux: 1976, 248) Angesichts dieses Zynismus bleibt ihm nichts anderes übrig, als ein pessimistisches Fazit aus der Geschichte zu ziehen: „Rien n’était donc changé et ne le serait sans doute jamais.“ (248) O. K. Joe! ist mit der hybriden Mischung aus Dokumentation und Fiktion, den Anleihen beim Film und den intertextuellen Bezügen ein typisches Produkt seiner Entstehungszeit, der Postmoderne. Guilloux’ formales Experiment stellt den Roman, besonders den von der Postmoderne präferierten historischen Roman zur Diskussion. Allerdings täuschen die mehr oder minder unmittelbar angeschnittenen erzähltechnischen Fragen nicht darüber hinweg, dass der Akzent auf dem Inhalt liegt. Obwohl Guilloux eine doppelte Problematik - die Befreiung durch die Amerikaner und deren Rassismus behandelt - erhebt O. K. Joe! keineswegs den Anspruch engagierte Literatur zu sein, genausowenig wie es L’Etranger tut. Vielmehr liest sich der Roman als weitausholende Paraphrase von Jean-François Lyotards notorischer Formel, die für die postmoderne Epoche das Ende der Meta-Erzählungen (Aufklärung, Idealismus, Historismus) diagnostiziert. Beim Rückblick auf einen historischen Wendepunkt des 20. Jahrhundert sieht Guilloux noch einmal mit aller Deutlichkeit was er längst wusste, dass nämlich die noch für die 1930er und 40er Jahre gültigen Kategorien und Schemata am Ende des Krieges nicht mehr greifen, was augenfällig die rassistischen Tendenzen der vorgeblichen Befreier, der amerikanischen Truppen illustrieren. Guilloux musste bis 1976 selbst erleben, dass der verheißene Neuanfang nach 1945 ausblieb, der Kalte Krieg eine Lähmung der politischen Lage bewirkte und beispielsweise in Frankreich die Auseinandersetzung mit der Kollaboration nur zögerlich geführt wurde. Daher rühren seine Skepsis, sein Geschichtspessimismus. Brecht, Bertolt: Gedichte 2. Sammlungen 1938-1956. Berlin, Weimar, Frankfurt am Main, 1988. Guérin, Jeanyves: „Guilloux et Camus: les raisons d´une amitié”, in: Francine Dugast- Portes/ Marc Gontard (ed.): Louis Guilloux, ècrivain, Rennes, 2000, S. 119-129. Guilloux, Louis: Salido, suivi de O.K. Joe! , Paris, 1976. Isherwood, Christoph: Goodbye to Berlin, 2003. Kaplan, Alice: The Interpreter, New York, 2005. 82 Dossier 1 In Maupassants weniger bekannter Novelle Mademoiselle Fiffi (1882) wiederholt sich die Figurenkonstellation: Wieder steht eine Prostituierte im Mittelpunkt, die, Nationalheldin bzw. Personifikation Frankreichs, bei einem Gelage den blonden deutschen Offizier ersticht, der mit seinem Sadismus und seiner Zerstörungslust den Boche schlechthin darstellt. 2 In der zeitgenössischen deutschen, d. h. in diesem Fall in der nationalsozialistischen Literatur findet keine nennenswerte literarische Beschäftigung mit der Situation in den von der Wehrmacht besetzten Ländern statt. Da die NS-Kulturpolitik problematische Themen als unerwünscht betrachtete, wären entsprechende Texte unweigerlich sofort der Zensur zum Opfer gefallen. Ernst Jüngers umfangreiche Tagebuchaufzeichnungen aus Paris, unter dem Titel Strahlungen 1949 veröffentlicht, können nicht einmal ansatzweise als adäquate Darstellung der Okkupationszeit gelten. 3 Unter produktionsästhetischen Gesichtspunkten ist ein langwieriger Entstehungsprozess des Romans zu vermerken, der sich von ersten Notizen 1964 bis zur Publikation 1976 lange hinzieht. Guilloux greift dabei auf eigene Aufzeichnungen und Briefe zurück (vgl. Kaplan: 2005, 143-148).