eJournals lendemains 42/166-167

lendemains
0170-3803
2941-0843
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/
2017
42166-167

Charlotte Krauss / Nadine Rentel / Urs Urban (ed.): Storytelling in der Romania. Die narrative Produktion von Identität nach dem Ende der großen Erzählungen

2017
Christine Schwanecke
ldm42166-1670269
269 Comptes rendus CHARLOTTE KRAUSS / NADINE RENTEL / URS URBAN (ED.): STORYTELLING IN DER ROMANIA. DIE NARRATIVE PRODUKTION VON IDENTITÄT NACH DEM ENDE DER GROSSEN ERZÄHLUNGEN, BERLIN, LIT, 2014, 274 S. Über dreizehn Artikel hinweg gibt der konzeptuelle Sammelband „Storytelling in der Romania“ einen thematisch wie fachkulturell internationalen, disziplinär facettenreichen Überblick über die aktuellen Auseinandersetzungen mit dem sowohl in der kulturellen Praxis als auch in der wissenschaftlichen Forschung hoch im Kurs stehenden Phänomen des Storytelling, des ‚Erzählens‘. Der Band, der aus einer Sektion des Romanistentages 2011 an der Humboldt-Universität zu Berlin hervorgegangen ist, befasst sich mit einer Konzeption des Begriffs, die sich, wie die Einleitung deutlich macht, aus den Semantiken der Romania speist. Hier birgt ‚Storytelling‘, anders als im anglo-amerikanischen Sprachraum, bisweilen fragwürdige, manipulative Qualitäten in sich (7); schließlich, so ist Christian Salmons Beitrag zu entnehmen, scheint der in neoliberalen Gesellschaften ubiquitäre Begriff und Gegenstand den „Fetischcharakter der Ware und der endlosen Bildschleifen übernommen [zu haben], die die Konsumgesellschaft so lange prägten“ (20). Wie hier bereits greifbar wird und wie es die HerausgeberInnen, die in anderer Konstellation bereits einschlägige Forschungen zum Themenbereich vorgelegt haben, 1 in ihrer anregenden Einleitung deutlich machen, wird ein ‚politischer‘ Erzählbegriff in den Blick genommen. Dieser soll, in Abgrenzung zu den Ansätzen der strukturalistischen Narratologie, den Weg zu einer „Kulturtheorie des Erzählens“ (8) ebnen. Neben literarischen Narrativen soll er auch und gerade „Erzählungen außerhalb der Literatur“ (9) fassen können, d. h. ‚Alltagserzählungen‘, die in ihrer einleitenden Konzeptualisierung, wie Walburga Hülk in ihrem Beitrag feststellen wird (131), stark an Roland Barthes’ Mythen des Alltags erinnern. Vor diesem Hintergrund werben die HerausgeberInnen im Rückgriff auf Fritz Breithaupt und Albrecht Koschorke 2 für eine (Neu-)Perspektivierung von erzähltheoretischen Problembereichen aus folgenden Blickwinkeln: In besonderem Maße dort, wo verschiedene Wirklichkeitserzählungen eines Sachverhalts aufeinandertreffen, über deren „Stellenwert und Gültigkeit“ (10) institutionell gestritten wird, und dort, wo Erzählungen kulturelle Praxis nicht alleine dokumentieren, sondern vor allem konstituieren, scheinen den AutorInnen des Einleitungsbeitrags Untersuchungen von Storytelling - zu Recht - besonders sinnvoll und fruchtbar. Anhand von drei Themenkomplexen, dem Storytelling in Politik und Wirtschaft, der narrativen Werbe- und Marketingkommunikation sowie der ‚Selbsterzählung‘ und -inszenierung in sozialen Netzwerken, setzt der Band seine in der Einleitung ausgeführten Hauptziele um. Ausgehend von den in Frankreich spätestens seit 2007 1 Charlotte Kraus / Urs Urban (ed.), Das wiedergefundene Epos, Berlin, LIT, 2013 und id. (ed.), Storytelling [Dossier in lendemains 149], Tübingen, Narr, 2013. 2 Fritz Breithaupt, Kultur der Ausrede, Berlin, Suhrkamp, 2012 und Albrecht Koschorke, Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer allgemeinen Erzähltheorie, Frankfurt/ Main, Fischer, 2012. 270 Comptes rendus allgegenwärtigen Debatten zum „Erzählen im ‚alltäglichen‘ Raum“ (11), die nicht zuletzt von einem der Hauptreferenzbücher des Bandes angestoßen wurden, 3 wird erstens eine Erweiterung der Perspektive auf die gesamte Romania - und teilweise darüber hinaus - vorgenommen, die komparatistische Überlegungen ermöglicht. Mit kritischen Beiträgen zu hegemonialen wie subversiven Erzählpraktiken nicht nur in Frankreich (z. B. Elżbieta Pachokinsńska), sondern auch in Algerien (Małgorzata Praczyk), Italien (Charlotte Krauss), Mexiko (Urs Urban) oder im Vergleich des anglo-amerikanischen mit dem französischen Kulturraum (Christian Salmon) gewährt der vorliegende Band einen reizvollen Einblick in (national-)kulturspezifische und -übergreifende Spielarten des Storytelling. Zweitens ist der Band bestrebt, den interdisziplinären Austausch zwischen Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaften voranzutreiben. Besonders im Rückgriff auf jüngere sozialwissenschaftliche Studien ergeben sich dabei konzeptuelle und methodische Synergieeffekte, die für die jeweilige Disziplin produktiv gemacht werden. Drittens finden nicht nur synchrone, sondern auch diachrone Dimensionen des Storytelling Beachtung. Wie sich die von den HerausgeberInnen konzeptualisierten Themenbereiche in den Beiträgen der verschiedenen, in diesem Band zusammengebrachten Disziplinen manifestieren, soll die folgende Auswahl exemplifizieren: Die Historikerin Małgorzata Praczyk beschäftigt sich mit einem Storytelling, das sich um algerische Denkmäler rankt. Dieses fasst sie hauptsächlich als „historische Improvisation [von Gedächtnis] im Dienste rein politischer Interessen“ (117) und als „Werkzeug für die Herstellung der Identität gegenwärtiger und künftiger Generationen“ (118) auf. Anhand von Kontext-, Visualitäts- und Materialitätsanalysen legt Praczyk eine machtdiskursive, hegemoniale „Unterdrückungsfunktion“ der von ihr untersuchten, nur scheinbar ‚unschuldigen‘ Monumente offen (128). Aus literatur- und kulturhistorischer Perspektive beleuchtet Jens Grimstein das Verhältnis von Narrativität und Finanzmarktkrise. Ausgehend von Émile Zolas L’argent (1891) erschließt er seine These der narrativen Konstruktion von ökonomischen Krisen und deren historische Konstanz. Unter besonderer Berücksichtigung Frankreichs zeichnet er auf eindringliche Weise nach, inwiefern sich Finanzmärkte als ‚Großerzählungen‘ inszenieren, welche vorgeben, „für das Überleben globaler Ökonomien unersetzlich zu sein“ (159) und die ihre Krisen als notwendige Höhepunkte arrangieren. Mit Michel Houellebecqs La carte et le territoire (2010) stellt er den Fiktionen der Finanzmärkte schließlich ein literarisches Gegennarrativ gegenüber. Die Sprachwissenschaftlerin Nadine Rentel illustriert in ihrem Beitrag die von Salmon thematisierte Selbstpräsentation in digitaler Narration, die insbesondere der Lenkung von ‚Gefühlsströmen‘ dient (255). Anhand von italienischsprachigen online- Geburtsberichten bezeugt sie die Verlagerung von einem traditionell privaten Genre in den „öffentlich-massenmedialen Raum“ (256). Sie abstrahiert auf der Grundlage 3 Christian Salmon, Storytelling. La machine à fabriquer des histoires et à formater des esprits, Paris, La Découverte, 2007. 271 Comptes rendus der Einzelanalysen individueller Erzählungen nicht nur eine spezifische, erstaunlicherweise relativ einheitlich in Erscheinung tretende Erzählstruktur (262sq.), sondern analysiert auch die sprachliche Manifestation von Emotionen, die trotz schriftlicher Realisierung mit konzeptionell mündlichen Markern so vermittelt werden, dass sie trotz des Medienwechsels den irreführenden Eindruck von „kommunikative[r] Nähe“ (269) suggerieren. Wie deutlich gemacht wurde, zeichnet sich der von Krauss, Rentel und Urban vorgelegte Storytelling-Band durch eine anregende Beitragsvielfalt, eine große geographische, disziplinäre und thematische Breite aus. Zugleich lässt sich vermutlich darüber streiten, ob nicht gerade in einem solchen Band auch eine dezidiert narratologische Perspektive erhellend gewesen wäre. Mit seiner Konzeption von Storytelling als Politikum und seiner kulturtheoretischen Ausrichtung ist der Band jedoch eine Fundgrube für mannigfache Anschlüsse. So reizt Storytelling in der Romania sicher nicht nur NarratologInnen zu einem Dialog; der Band kann auch anderen Fächern, wie der Germanistik oder Anglistik, als Anreiz für Forschung im selben Geiste dienen sowie zu weiterführender transdiziplinär-theoretischer Konzeptualisierung einer kulturtheoretischen Erzähltheorie anregen. Christine Schwanecke (Mannheim) ------------------ GISLINDE SEYBERT: GESCHLECHTER-F(R)IKTIONEN - F(R)ICTIONS DES GENRES. GESCHLECHTERPHANTASIEN IM LITERARISCHEN DISKURS. FAN- TASMES DES GENRES DANS LE DISCOURS LITTÉRAIRE, FRANKFURT A. M., LANG, 2013, 279 S. (KULTURTRANSFER UND GESCHLECHTERFORSCHUNG, 7) Der vorliegende Band bietet einen beeindruckenden Einblick in die vielfältigen Themen aus der französischen Literatur, mit denen sich Gislinde Seybert im Rahmen ihrer Lehr- und Forschungstätigkeit an der Universität Hannover befasst und die sie immer wieder höchst kenntnisreich mit Vergleichsthemen aus der deutschen und englischsprachigen Literatur in Beziehung gesetzt hat. Ihre teils auf Deutsch, teils auf Französisch verfassten Beiträge sind in den unterschiedlichsten Werken, vielfach in Kongress- und Tagungsbänden, erschienen und daher nicht immer leicht zugänglich. Es ist deshalb ein großes Verdienst, sie nun alle in einem Sammelband vereint zu sehen und zwar untergliedert in drei Teile: Geschlechter-Fiktionen - George Sand; Geschlechter-Friktionen - Literatur und Politik; Autobiographisches. Ein Vergleich des Inhaltsverzeichnisses (5-7) mit der Liste der Erstveröffentlichung der gesammelten Aufsätze (276-279) zeigt, dass sich unter den 33 Beiträgen in diesem Sammelband zwei bislang noch unveröffentlichte Manuskripte befinden: 9. Die Ambivalenz des Ortes im Romanwerk von George Sand (71-81) und 28. Surrealistische Lektüre des Romanwerks von Amélie Nothomb (249-256). Es versteht sich von selbst, dass bei einer solch inhaltlichen Breite und Themenfülle nicht alle Beiträge im einzelnen vorgestellt werden können. Eine Auswahl ist