eJournals lendemains 42/166-167

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Narr Verlag Tübingen
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2017
42166-167

Zwischen den Sprachen. Philologie und Philoxenie

2017
Judith Kasper
ldm42166-1670090
90 Dossier Judith Kasper Zwischen den Sprachen. Philologie und Philoxenie 1. Poetiken der Freundschaft / Poétiques de l’amitié. Die Genitivfügung - in zwei Sprachen gefasst - ruft Dichterinnen und Dichter, Philologinnen und Philologen gleichermaßen dazu auf, gemeinsam, im Sinne der dichterischen und philologischen Bindung an das Wort, den Begriff der Freundschaft in seinen jeweiligen sprachlichen, diskursiven und historischen Erscheinungsformen aufzufalten. ‚Auffalten‘ heißt dabei nicht so sehr nach Definitionen zu suchen, als vielmehr den Vieldeutigkeiten, Widersprüchen und Verschiebungen, die sich in der Übersetzung der Freundschaft von einer in die andere Sprache entdecken lassen, nachzuspüren. Poetiken der Freundschaft müssen in der Tat stets vielsprachig und vielstimmig gedacht werden. Denn keine Poetik der Freundschaft kann je von einer einzigen Stimme allein getragen werden. Jede Poetik der Freundschaft ist immer schon an einen Anderen gerichtet, ist auf der Suche nach einer Gegenstimme, einem Dialog, einer Antwort - kurzum: nach Freundschaft. Eine erste Hypothese wäre somit: Poetiken der Freundschaft sind immer zwei- oder mehrstimmig, sie werden in zwei oder mehreren Sprachen artikuliert. Der Akzent liegt dabei auf der ‚Zwei‘, im Sinne einer ‚Nicht-Eins‘, eines ‚Nicht-Ganzen‘. Wenn zwei oder mehrere Stimmen in verschiedenen Sprachen versuchen, miteinander ein freundschaftliches Gespräch zu führen, dann mag dies nur gelingen, wenn in der einen immer auch die andere Stimme, in der einen Sprache auch die andere Sprache gehört wird. Freundschaftlich miteinander zu sprechen und einander zuzuhören bedeutet also vor allem dem, was im Zwischenraum zwischen der einen und der anderen Stimme und Sprache immer noch zu sagen und zu verstehen bleibt, Gehör zu schenken. 2. Versuchen wir uns diesem Zwischenraum, der das eine Wort der Freundschaft entzweit, zu nähern und schlagen wir dafür verschiedene Wörterbücher auf. Anstatt beruhigende Definitionen zu finden, stoßen wir auf eine bemerkenswerte Negativität, die ‚Freundschaft‘ und ‚amitié‘ gleichermaßen markiert - und dies relativ unabhängig von den historischen Kontexten und Sprachständen, aus denen die folgenden Beispiele entnommen sind. Um dies zu illustrieren, sei hier zunächst eine Passage aus dem Eintrag „amitié“ im Petit Robert angeführt: „amitié: sentiment réciproque d’affection ou de sympathie qui ne se fonde ni sur les liens du sang, ni sur l’attrait sexuel“ (Robert 1992: 60). In dieser Definition konstituiert sich ‚amitié‘ vor allem unter Fernhaltung dessen, von dem Freundschaft seit jeher schon erfasst ist: nämlich erstens die verwandtschaftliche Verbindung, die in der Vorstellung, dass der Freund wie ein Bruder sei, immer noch nachhallt; und zweitens der Eros, der, insofern der Freund derjenige ist, den wir lieben, im Spiel ist und doch keinen Platz in der Freundschaft haben darf. Dieses Fernhalten des konzeptuell Nahen darf indessen nicht als Ausschließung im Sinne eines „entweder ... oder“ gewertet werden. 1 Vielmehr geht es hier um eine 91 Dossier Subtraktion: Freundschaft wird hör- und lesbar als ein ‚Nicht‘ in Bezug auf Beziehungen und Verhältnisse, in die Freundschaft immer schon eingebunden ist. Freundschaft ist weder auf der Seite des ‚weder‘ noch auf der Seite des ‚noch‘, sondern sie ereignet sich in dem Raum, der sich zwischen dem ‚weder … noch‘ eröffnet. Die poetische - im Unterschied zur politischen - Dimension in der Freundschaft sorgt dafür, dass dieser Raum immer wieder von Neuem aufgemacht und erkundet wird und sich nie im Sinne einer Entscheidung für die eine oder andere Seite des ‚entweder … oder‘ schließt. Im Namen der ‚Poetiken‘ geht es mitnichten darum, einen schönen Gesang allseitiger Harmonie anzustimmen, sondern ausgehend vom Poetischen werden Sprechakte der Entscheidung - der Bedeutungsfestlegung, der Definition von Begriffen - hinterfragt. Anders, aber weiterhin unter dem Vorzeichen des Negativen, gestaltet sich der Eintrag „Freundschaft“ im Grimmschen Wörterbuch (Grimm 1936: 4, 167-169). Zwei literarische Passagen werden als Beispielsätze für „Freundschaft“ zitiert. Zunächst drei Verse aus Hartmann von Aues höfischem Ritterroman Iwein: zwâre ob duʒ iemen sagest, so ist iemer gescheiden diu vriuntschaft undr uns beiden - (vv. 960-962) (Nhdt: Denn wie Du’s irgend Einem sagst, Ist unter uns beiden hienieden Die Freundschaft auf ewig geschieden.) Mit diesen Worten droht Iwein die Aufkündigung der Freundschaft, wenn der Freund ihn verrät. Das Grimmsche Wörterbuch führt nach diesem Zitat ein weiteres auf, zwei Verse von Walther von der Vogelweide, welche die Freundschaft auf folgendes Paradox zuspitzen: dër möhte ersëhen, daʒ diu gehalsen friuntschaft sich vil lîhte entrande. Der mittelhochdeutsche Satz wird im Wörterbuch paraphrasiert als „gehalsen freundschaft ist die durch teuschende umarmung beglaubigte, falsche“. „Gehalsen“ heißt bei Walther: „sich an den Hals werfen“. Es geht hier also um eine ‚aufdringliche‘ und darum ‚falsche‘ Freundschaft. Bemerkenswert und beunruhigend zugleich ist in beiden Zitaten der Sachverhalt, dass „Freundschaft“ ausgehend vom Bruch - von Verrat und Täuschung - in den Blick genommen wird, als trüge sie immer auch schon die Angst vor der Veruntreuung in sich. Eine nochmals andere Ausprägung dieser negativen Dimension, die im Begriff der Freundschaft am Werk ist, findet sich in Montaignes berühmtem Essay „De l’amitié“. Anstelle einer Definition steht hier eine Tautologie, mit der Montaigne seine Freundschaft mit dem verstorbenen Etienne de la Boétie umkreist: „Par ce que c’estoit luy; par ce que c’estoit moy“ (Montaigne 1962: 187). Philologen haben die Tautologie selbst als eine Methode der Negativität - des Entzugs vor weiteren Aussagen - 92 Dossier eingeschätzt (vgl. Moog-Grünewald 2012: 140). Es ist bezeichnend, dass Montaignes ganzer Essay über weite Strecken im Modus eben solcher negativen Wendungen gehalten ist. Wenn in der abendländischen Philosophie Freundschaft meist in phallozentrischen genealogisch-familiären Begriffen wie Brüderlichkeit und Sippschaft artikuliert worden ist (Derrida 2000), so ist dies möglicherweise auch dem Bedürfnis nach einer stabilen Semantik geschuldet, einer Stabilität, die nur auf Kosten der Beseitigung der beunruhigenden Unterströme in der Freundschaft zu haben ist. In diesem Fall ließe sich umgekehrt vermuten, dass wir, wenn wir aus dem phallozentrisch-genealogischfamiliären Muster der Freundschaft hinaustreten möchten, bereit sein müssen, die semantische Instabilität von Freundschaft ganz in Kauf zu nehmen, um ihre unbestimmten Grenzen stets von Neuem zu erforschen. Für diese immer wieder neue Erkundung der unbestimmten Grenzen der Freundschaft, ausgehend von singulären Begegnungen, bedarf es einer Philologie, die der Freundschaft, die in ihrem eigenen Namen - Philo-logie - immer schon immer schon anklingt, ein Gehör schenkt. Eine solche Philologie, die in erster Linie als eine freundschaftliche Beziehung zur Sprache aufzufassen ist, begibt sich auf den Weg, Freundschaft als das zu beschreiben, was sich einer stabilen und positiven Bedeutung stets aufs Neue entzieht. 2 3. Der Artikel „philos“ in Émile Benvenistes Vocabulaire des institutions indo-européennes ist ein Beispiel für eine solche philologische Geste. Benvenistes Verfahren besteht in der Tat in der extremen Ausfaltung der mannigfaltigen Bedeutungen und Gebrauchsweisen des Wortes ‚philos‘. Doch nachdem er dies getan hat, stellt er fest: Le problème de philos est à reprendre entièrement. Il faudra partir des emplois et des contextes qui révèlent dans ce terme un réseau complexe d’associations, les unes avec les institutions d’hospitalité, les autres avec les usages du foyer, d’autres encore avec les comportements affectifs, pour entendre pleinement les transpositions métaphoriques auxquels il a pu se prêter. Toute cette richesse conceptuelle a été ensevelie et échappe aux regards depuis qu’on réduit philos à une notion vague d’amitié ou une notion fausse d’adjectif possessif (Benveniste 1969: I, 352sq.). „Le problème de philos est à reprendre entièrement.“ Diese Konstatierung klingt zugleich wie ein Appell. Eine Möglichkeit, dieses Problem wieder aufzunehmen, besteht vielleicht darin, ‚Freundschaft‘ vom griechischen Wort ‚philos‘ her - so ungeklärt es in mancher Hinsicht ist und bleibt - zu überdenken. Und dies nicht, weil philos der ‚älteste‘ Begriff ist, der noch eine vermeintliche begriffliche Reinheit für sich beanspruchen könnte, sondern weil ‚philos‘ immer auch schon diejenige Tätigkeit mitbenennt, die sich mit Sprache und Sprachgeschichte und Bedeutungskonstitution auseinandersetzt: nämlich Philologie. ‚Philos‘ ist mithin nicht einer unter anderen indoeuropäischen Grundbegriffen, die Benveniste untersucht, sondern betrifft eben diese Untersuchung selbst. Philologen und Philosophen sind schon immer auf eine besondere Weise in die Frage, was Freundschaft ist und was in der Sprache und zwischen den verschiedenen Sprachen nicht nur fremd oder verwandt, sondern auch 93 Dossier freundschaftlich verbunden ist, verwickelt. Ein Nachdenken über Freundschaft ist so gesehen also auch ein Nachdenken über Philologie. Wenn es nun richtig ist, dass sich Freundschaft nur in der Zwei- und Mehrstimmigkeit, nie in der Einstimmigkeit ereignet, wie ist es dann um die Stimmlichkeit der philologischen Geste Benvenistes bestellt? Es ist bemerkenswert, wie fast jede seiner Beobachtungen, die er zu philos anbringt, von einem Schwanken durchzogen ist: So ist philos der Freund, aber auch das Adjektiv mit possessiver Bedeutung (vgl. ibid.: I, 338).; philos heißt „aimer, éprouver de l’amitié“, „avoir du respect“ (aidos), aber auch „baiser“ (ibid.: I, 340). Und auch wenn „baiser“ als gemeinschaftlicher Begriff gedeutet wird, im Sinne einer konventionellen Grußgeste, kann philein unter bestimmten Umständen auch „aimer d’amour sensuel“ bedeuten (ibid.: I, 346). Mit philos wird die Ehefrau bezeichnet (ibid.: I, 345), aber auch das Ehebett, in dem gerade Ehebruch stattgefunden hat (ibid.: I, 348). Ein einziges Mal stabilisiert sich in Benvenistes Überlegungen philos vorübergehend und zwar ausgerechnet in der Verbindung mit xenos, dem Fremden. An dieser Stelle wagt der französische Linguist sogar eine Definition: „La notion de philos énonce le comportement obligé d’un membre de la communauté à l’égard du xenos, de l’‚hôte‘ étranger. Telle est la définition que nous proposons“ (ibid.: I, 341). Homer prägte das Kompositum philoxenos. Benveniste schreibt, dass philos Kompositabildungen sonst nur mit Göttern eingeht (cf. ibid.: I, 342). Diese Bemerkung ist wichtig. Denn sie weist darauf hin, dass sich der Begriff gerade dort stabilisiert, wo er von einer höchst ungleichen Beziehung spricht: nämlich der Beziehung zum Fremden, zum Göttlichen. Es geht um eine Gegenseitigkeit, die asymmetrisch ist und gerade darum das Nicht-Verstehen in ihrem Herzen trägt - sei es das Nicht-Verstehen des Fremden (und seiner fremden Sprache zum Beispiel), sei es das Nicht-Verstehen des Ratschlusses der Götter. An diesem Punkt erweist es sich nun als besondere Herausforderung, Freundschaft als zwischensprachliches Ereignis zwischen Ungleichen zu denken. Es gilt also, Freundschaft innerhalb von Übersetzungszusammenhängen aufzufassen, dabei jedoch der radikalen Asymmetrie, die in die Zwei- und Mehrstimmigkeit der Freundschaft ein irreduziblen Nicht-Verstehens einträgt, stets eingedenk zu sein. Wenn wir die asymmetrische Verbindung von philos mit dem Fremden und/ oder Göttlichen als einen Fluchtpunkt annehmen, von dem her jede Freundschaft gedacht werden muss, so ließen sich die Poetiken der Freundschaft skizzieren als eine Art und Weise der Artikulation von Freundschaft, die Zeugnis abzulegen verstünde eben von der Erfahrung dieses ‚Nicht‘ des Verstehens, mithin von jener negativen, subtraktiven Dimension, die in den zitierten Definitionsversuchen so auffällig ist. Diese negative Dimension ist nicht schlechterdings negativ; vielmehr verhindert sie, dass sich die Freundschaft in sich selbst abschließt; sie lässt darin Raum für das Ein- und Auftreten eines Anderen. 4. Wenn es um philos geht, ist immer auch von Affekt die Rede. Benveniste schreibt diesbezüglich: „L’attitude sentimentale va au-delà des institutions“ (ibid.: I, 345). 94 Dossier Freundschaft als Institution weist also immer schon über die Institution hinaus. Denn sobald der Affekt ins Spiel kommt, werden die Bindungen enger, aber sie sind dadurch auch anfälliger für Schwankungen. Die Nähe geht nicht notwendig mit institutioneller Festigkeit und Stabilität einher. Ohne die affektive Dimension hätten wir allerdings nur abstrakte Verhältnisse: keine Bindungen und vor allem keine Nähe. Darum gilt es, die Xenophilie nicht nur als eine abstrakte ethische Anforderung zu denken, sondern zu fragen, unter welchen Umständen der Fremde überhaupt Freund werden kann. Denn jeder Freund war einmal ein Fremder. Die Tatsache, dass der Fremde Freund, die Fremde Freundin geworden ist, ist ein Ereignis, das immer nur in seiner absoluten Unerwartbarkeit und Singularität empfangen werden kann. Diese Ereignisse haben ihre ganz eigene Geschichte und Erzählung, ihre je singuläre Poetik. Die Affekte sind inkommensurabel, aber unsere Kultur ist auch Ausdruck des Bedürfnisses, in die Affekte Ordnung zu bringen und sie zu klassifizieren. Der Eintrag „Aimer, amour, amitié“ im Vocabulaire européen des philosophies - Dictionnaire des intraduisibles fasst dies folgendermaßen zusammen: Le grec distingue très nettement deux manières d’aimer, eran et philein. [...] Eran serait ‚aimer d’amour‘, philein ‚aimer d’amitié‘. Cette distinction étant ‚très nette‘, nous avons depuis Platon et Aristote un clivage ‚net‘ dans la conception de philein: Platon tente de capter le philein sous l’eran, et propose l’érotique comme modèle même de la philosophie; Aristote fait de l’eran un cas particulier et accidentel du philein, et décrit en termes de philia l’ensemble des relations constitutives du monde humain (Cassin 2004: 41). Am Anfang der abendländischen Philosophie stehen zwei Stimmen: diejenige von Platon und diejenige von Aristoteles. Die Rezeption ihrer jeweiligen Affekttheorien erfolgte meist durchgehend nach der Logik des ‚entweder … oder‘. Die eine Stimme (Platon) treibt das Gefühl in der Freundschaft bis zum sexuellen Begehren; die andere (Aristoteles) tendiert zur Mäßigung des Affekts und favorisiert eine Entsexualisierung der Freundschaft. Nichtsdestoweniger liegt ihr gemeinsamer und vermutlich problematischster Punkt darin, dass die Freundschaft - ganz gleich ob als eros oder als philia gefasst - nur unter Männern möglich wäre. Frauen sind, wo die beiden Stimmen plötzlich einstimmig werden, aus beiden Freundschaftsentwürfen ausgeschlossen. Welche Poetik ist indessen in der Lage, die beiden Stimmen zusammen klingen zu lassen, ohne sie zu einer männlichen Stimme zusammenzufassen? Welche Poetik ist in der Lage, hier nicht zu entscheiden, ohne darüber indifferent zu werden? Welche Poetik ist mithin in der Lage, nicht zu entscheiden, um innerhalb dieser anfänglichen Zweistimmigkeit noch andere Stimmen hörbar zu machen - all die Stimmen, die durch die antagonistischen Denker der Freundschaft - Platon und Aristoteles - unterdrückt worden sind? Welche Stimmen sind dies? Es sind zum Beispiel Stimmen, die eine Freundschaft zwischen den Geschlechtern zu artikulieren versuchen; Stimmen, die das Verhältnis der Frau zur Freundschaft auszudrücken verstehen und einem weiblichen Denken der Freundschaft Vorschub leisten. Dafür 95 Dossier gibt es nur wenige Modelle. Es herrscht diesbezüglich ein gewisser Sprachmangel, der auch als Chance gewertet werden kann, um den allzu gebahnten Wegen, auf denen Freundschaft definiert worden ist, zu entgehen. So gälte es zum Beispiel auch von einem feministischen Standpunkt aus zu vermeiden, allzu emphatisch von ‚Schwesternschaft‘ zu sprechen, wenn wir doch die problematische Reduzierung der Freundschaft auf verwandtschaftliche Verhältnisse vermeiden möchten. 5. Werner Hamacher hat in seinem Beitrag „Für - die Philologie“ von philos als einem „Pathos der Ent-Fernung“ gesprochen. Für Hamacher ist dies eine Bewegung der Annäherung, die eine Ferne nie aufhebt: Bei jeder Annäherung an das, worauf eine sprachliche Äußerung verweist - eine Bedeutung, eine Form, ein Sinn -, wird sie von ihm [sc. dem pathos der Ent-Fernung] auf wiederum Anderes - einen Formenkomplex, die Signatur einer Epoche, eine Idee - weiterverwiesen, das, seinerseits sprachlich verfasst, die Reihe der Verweisungen fortsetzt. Je näher die Philologie ihrer Sache rückt, desto ferner tritt sie zurück. Ihr Bezug ist ein Bezug zum Entzug (Hamacher 2009: 29). Benvenistes Artikel über philos bezeugt eine solche Erfahrung des Entzugs bei immer größerer Annäherung. Man könnte mit Karl Kraus sagen: Je näher Benveniste das Wort philos unter die Lupe nimmt, desto ferner blickt es zurück (Kraus 1965: 291). Was ihn zu der abschließenden, schon hervorgehobenen Bemerkung führt: „Le problème de philos est entièrement à reprendre“ (Benveniste 1969: I, 352). Wenn es also um einen Bezug zum Entzug geht, dann müssen wir fragen, in welchen sprachlichen Gesten und Formen sich dieser vollzieht, wenn er ein freundschaftlicher ist. Man denke hier vor allem an die Apostrophe: die Anrufung des Freunds als Freund bzw. der Freundin als Freundin. Die Apostrophe gehört zu den nicht-apophantischen Äußerungen, also zur Gruppe derjenigen Äußerungen, die sich nicht auf eine Aussage zurückführen lassen, von der wir sagen könnten, dass sie wahr oder falsch ist. Was als Apostrophe geäußert wird, steht quer zum konstativen Sprechakt und ist zudem in sich selbst gespalten: nämlich - der gegenwendigen griechischen Vorsilbe „apo“ folgend - in Anrede und Auslassung, Hinwendung und Abwendung zugleich. Die Apostrophe ist mithin keine einfache Geste der Annäherung, sondern in der Annäherung bleibt die Entfernung, die Abwesenheit, ja Fremdheit des Freundes unaufhebbar. Der Brief und die Grabrede sind die Gattungen, in denen sich Freundschaft bevorzugt äußert. In ihnen dominiert die singuläre Anrede, die präzise Adressierung. In ihnen ist die „phatische Dimension“ (Jakobson 1979: 94) der sprachlichen Äußerung auf die Spitze getrieben, und zwar genau dann, wenn es darum geht, am Abgrund der Abwesenheit des Anderen, des angesprochenen Freundes, zu sprechen, den Freund anzurufen. Es scheint, als treibe erst der Abgrund des Todes - diese unaufhebbare Asymmetrie - die Rede der Freundschaft im eigentlichen Sinne hervor, als komme die Freundschaft stets erst in einer radikalen Nachträglichkeit zu Wort (Derrida 2000: 403). Mit dieser Verspätung, mit dieser Abwesenheit hat auch 96 Dossier Philologie als einem im besten Sinne freundschaftlichen Gespräch mit den Toten, mit den schriftlichen Hinterlassenschaften der Toten zu tun. Folgen wir Hamacher, so ist Philologie nicht so sehr als eine wissende Bezugnahme zu diesen Hinterlassenschaften aufzufassen, sondern vor allem als eine affektive Beziehung. Erst dann, wenn diese affektive Bindung innerhalb des Wissens der Philologie mit ins Spiel kommt, können ferne Texte in größte Nähe rücken und dürfen in ihrer Fremdartigkeit aufscheinen. Philoxenie wäre schließlich als jener Moment aufzufassen, in dem die Freundschaft als nahe Erfahrung zu etwas Fremdartigem, zur schwindelerregenden Aussetzung an das Nicht-Verstehen wird. Agamben, Giorgio, „Der Freund (L’Amico)“, in: Katharina Münchberg / Christian Reidenbach (ed.), Freundschaft. Theorien und Poetiken, Paderborn, Fink, 2012, 15-22. Benveniste, Émile, Le vocabulaire des institutions indo-européennes, 2 Bände, Paris, Minuit, 1969. Cassin, Barbara (ed.), Vocabulaire européen des philosophies. Dictionnaire des intraduisibles, Paris, Seuil, 2004. Derrida, Jacques, Politik der Freundschaft, Frankfurt/ Main, Suhrkamp, 2000. Grimm, Jacob / Grimm Wilhelm (ed.), Deutsches Wörterbuch, bearbeitet von Civtor Dollmayr, Arbeitsstelle des Deutschen Wörterbuchs, Leipzig 1936. Hamacher, Werner, „Für - die Philologie“, in: Jürgen Paul Schwindt (ed.), Was ist eine philologische Frage? Beiträge zur Erkundung einer theoretischen Einstellung, Frankfurt/ Main, Suhrkamp, 2009, 21-60. Jakobson, Roman, „Linguistik und Poetik“, in: id., Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921-1971, Frankfurt/ Main, Suhrkamp, 1979, 83-121. Kraus, Karl, „Pro domo et mundo“ (1912), in: id., Werke, ed. Heinrich Fischer, München, Kösel, 1965, Band 3. Moog-Grünewald, Maria, „Die Gegenwärtigkeit der Freundschaft“, in: Katharina Münchberg / Christian Reidenbach (ed.), Freundschaft. Theorien und Poetiken, Paderborn, Fink, 2012, 137-152. Montaigne, Michel de, Essais, in: id., Œuvres complètes, ed. Albert Thibaudet / Maurice Rat, Paris, Gallimard (Bibliothèque de la Pléiade), 1962. Robert, Paul (ed.), Le Petit Robert 1. Dictionnaire alphabétique et analogique de la langue française, Les Dictionnaires Le Robert, 1992. 1 Die Ausschließung liegt indessen der Freund-Feind-Dialektik zugrunde, der zufolge es „einen Freund nur dort gibt, wo es einen Feind gibt; die Feinde, die ich liebe, sind meine Freunde“ (Derrida 2000: 60). 2 Agamben hat auf die enge Beziehung zwischen Freundschaft und Philosophie hingewiesen; dies gilt in gleichem Maße für die Philologie: nämlich, dass ihre Beziehung so innig und tief ist, dass letztere den philos, den Freund, gar in ihrem Namen trägt (Agamben 2012: 15). Agamben weist aber zugleich auch auf die Gefahr dieser übermäßigen Nähe hin.