eJournals lendemains 42/166-167

lendemains
0170-3803
2941-0843
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/
2017
42166-167

Von Osnabrück nach Jerusalem

2017
Hélène Cixous
ldm42166-1670018
18 Dossier Hélène Cixous Von Osnabrück nach Jerusalem DIESES BUCH MÜSSTE IN DER KÜCHE BEGINNEN und nicht unter der Erde dachte ich heute morgen um sieben Uhr hierselbst während stürmischer Frühstücksvorbereitungen, das Unwetter zum Morgengrauen in der Küche vor den Schränken und draußen der Jahrhundertsturm das Heulen der gegenwärtigen vergangenen Zeiten und der vergangenen vergangenen Zeiten der Böen und Salven der Kriege, die nicht die reine Konzentration meiner Mutter auf die gehorsamen Gegenstände trüben. Dosen Töpfe Marmeladengläser Löffel Gegenstände ohne Gestern. Und dabei dachte ich gestern, dass dieses Buch vielmehr im Gegenteil im Außen und in der Höhe beginnen müsste, mit den aufgebrachten Schreien des Engels der Apokalypse, der sich wie immer in dringenden Fällen die Stimme meiner Mutter lieh, um mir zaghaft anzuweisen „steige herauf, ich will dir alles zeigen, was geschehen ist“, und auf dem Kirchturm zwischen den Störchen hockend erblickte ich die Kreuzungen der Kontinente. Vor langer Zeit bereits ist dieses Buch aufgebrochen, Monate, Straßen, lang wie Nächte in fremden Ländern und ohne Züge, Städte in allen Größen seit ein oder zwei Jahren durchwandert es das Mysterium der Zeiten auf den vier Kontinenten, die die Geschichte meiner Mutter tragen und sie gleichermaßen interessieren, eingangs musste es meine Mutter in alle Richtungen hinaufziehen von den Quellen der Quellen bis zur Mündung der rue Saint-Gothard, und dabei ihren vielfachen, umwerfenden Lauf respektieren, denn das ist ganz sie, scheinbar zu enden, indem sie anfängt, oder um anzufangen niemals je zu enden, doch sehr früh in diesem Abenteuer, vor ein oder zwei Jahren, habe ich entdeckt, dass es ein Kampf werden würde, dieses Buch gegen sich selbst, und um genau zu sein kündigte sich zu meiner Überraschung ein Kampf meiner Mutter gegen meine Mutter an, ich präzisiere: von Maman gegen meine Mutter und noch genauer ein in meiner Mutter selbst geführter Kampf, der sich über die ganze Erde hin erstreckte - die Erde, die sie ist - zwischen Maman, meiner Mutter, Eve, unserer Mutter, Eva, Eva Klein der Verlobten meines Vaters, und Eve Cixous Hebamme, ein unausgesetzter Kampf so lebensnotwendig und stetig wie Herzschlag und Atem, es geht um das Leben meiner Mutter in Wahrheit um Leben, zu leben, um ihr Überleben und darum, von ihrem Überleben zu leben und sogar vielmehr um ihre Überleben, ihre Weisen, sich selbst zu überleben und die Zeit. Die Zeit! 1 Und das hatte ich eingangs nicht gedacht, die Zeit, dass sie hinsichtlich meiner Mutter so viel Platz und fast den gesamten Platz meiner Mutter einnehmen, ja, ihr bisweilen gar die Krone und das Zentrum streitig machen würde, und zwar so weitgehend, dass jedes oder fast jedes Mal, wenn ich eine Szene schreibe, deren Heldin Maman ist, mindestens die Hälfte meiner Kraft und meines Denkens in Beschlag genommen wird vom unerwarteten Helden dieses Buchs, der Zeit, die ganze Zeit handelt es sich darum und vor allem, wenn es um Maman geht, was der Zeit widerfährt und zwar wegen der Zeiten der Zeit, und dabei weiß ich nicht einmal was das 19 Dossier überhaupt ist die Zeit; was ich jedoch seit ein oder zwei Jahren entdecke, ist, dass sie, um erkennbar oder spürbar zu werden, das Aussehen Mamans angenommen und die Gelegenheit meiner Mutter ergriffen hat. Um zu beginnen, verlangen sie den Plural, meine Mutter und die Zeit, was die Übung des Erzählens sehr erschwert. Um die Gestalten des Buchs, also meine Mutter oder die Zeit, nicht zu verraten, müsste ich also zu jedem Zeitpunkt ihre Mehrzahlen beibehalten, aber das ist unmöglich, denn es gibt nie ein Kollektiv einander zeitgenössischer Personen. Die Zeiten, das ist, als ob meine Liebe der Dichter mir sagte schreibe was dir entgeht, erhasche was dir unter dem Denken vorüberhuscht. Doch seit zwei Jahren denke ich die ganze Zeit daran. Im Galopp rast ein Gedanke durch mich hin, den ich zu zähmen versuche. Ich nenne ihn die Reserve. Diesem Gedanken der Reserve der vergangen genannten Zeiten laufe ich hinterher. Wie „die Vergangenheiten“, das Zeitalter, die Zeitalter die Tage die Jahrhunderte eines Lebens auf verschiedene Weise bewahrt oder verändert werden, das entgeht mir, wie manche blass und so fern sind, als ob sie aus einem anderen Leben und von einem anderen Planeten stammten, während sie vom selben Urheber und aus derselben Reserve sind. Während zugleich Ereignisse und Personen aus derselben Zeit unverändert in Farben und Klängen im mächtigen Plusquampräsens bewahrt sind. Einige der Straßen, die zu mir gehören, sind mir noch immer genauso heilig von einstigen Schritten durchlaufen noch immer voll Lärm und Leben, zum Beispiel die rue U und die rue L, die rue M ja aber die rue I nein, und die Straße nebenan ist tot und vereist. Das Mysterium reicht bis ins Haus, wo manche Stellen atmen, andere fremd und unbewohnt sind. Das sagt allerhand über die sterbliche Zerbrechlichkeit unserer geistigen Güter. Nichts jedoch über die Gründe oder Bedingungen des Sterblichseins und des Unsterblichseins. Warum strahlen Vergangenheiten auf und zerfallen zu Staub? Ich fürchte um meine verbliebenen Vergangenheiten, ich fürchte um meine frischen, schimmernden Szenen. Für meine Boulevards von Oran befürchte ich, was urplötzlich über Villons schöne Helmschmiedinnen hereinbricht: Gestern waren sie da, üppig die Brüste berückend die Lippen wo sind sie heute Morgen hin? Nein, es ist nicht die Wucht der aufgetürmten Jahre, die sie zermalmt und zerschlissen hat - es ist ein Wurm, ein enger Feind, im Innern, doch wer? Welcher? Wer kann innerhalb von vierundzwanzig Stunden einen Moment mit glänzenden Wangen, eine Stadt, eine lange Geschichte zerrütten, die bis eben noch unberührt gerettet waren. Was geschieht, befürchte ich: Angriffe aus dem Jetzt, aus vielen Jetzten. Und schlimmer: Angriffe aus dem Nächsten, Liebevollsten und selbst aus mir selbst, die doch mit aller Anstrengung bemüht ist zu bewahren, was ich selbst mit einem zu groben Wort oder einem zu indiskreten Gedankenblick zu verderben riskiere. Ich habe es festgestellt, erinnern verwüstet. Wie Eve-selbst-von-heute, meine aktuelle Mutter, die Visionen von der Göttin, die sie nicht mehr ist, zunichte macht, das habe ich durchlitten. Es gibt keine Schuld. Es gibt die Luft, die mit einem Hauch den Körper zerstiebt, der in der empfindlichen Hut des Unterirdischen gegenwärtig gehalten war. 20 Dossier Man öffnet die Grotte und die über die Wände stürmende Herde zerfällt, hingemetzelt. Was vergessen worden ist, muss vergessen bewahrt bleiben. Das Vergessen schützt, dachte ich in der Küche, ein gewisses Vergessen ist dazu gemacht, um vor der Vernichtung zu bewahren, werde ich mit einer Enthüllungsgeste, die mir der Wunsch diktiert, meiner Mutter eine Zeremonie zu weihen, Maman nicht schwer versehren, werde ich nicht aus lauter Pflichtgefühl und Tochterliebe, also von Gefühlen des Respekts getrieben, meinen geheimen Statuen meinen lebenden Bildern meinen unzähligen Archiven, einem Schatz, dessen Wert ich selbst nicht kenne, eingeordnet unter „Maman“, irreparable Schäden zufügen? Das ist es nämlich, dachte ich gestern und komme heute morgen in der Küche darauf zurück, was meinen Verstand seit zwei oder drei Jahren bedroht, nachdem das Buch einmal an seine Grabungs- und Rettungsarbeiten gegangen ist: aus Grabung wird Grab. Die Steinplatten. Die Entdeckung der Arbeit der versehentlichen Zermalmung vergangener Figürchen durch Unachtsamkeiten. Um es wirklich gut zu machen, so müsste ich, wenn ich meine Mutter in all ihren noch strahlenden Erscheinungen zeigen wollte, eine jener Märchenzauber-Vorrichtungen anfertigen, mit deren wundersamem Umgang wir beide einst vertraut waren sie in ihrer Kindheit und ich in ihrer und in meiner. Es ist eine Tür, durch die hindurch man vorübergehen sieht, zuschaut, wie Personen, deren Existenz fast nicht zu glauben ist, vorübereilen und an ihr tägliches Leben gehen. Man muss durch das Schlüsselloch gucken und fein still sein. Während man guckt, erzählt eine Stimme, die Stimme des Buches, was gerade auf der anderen Seite vor sich geht. So sind die Zeiten, die Erden, die Welten, obzwar benachbart, getrennt und unberührt. Dann sieht man. Was das kleine Mädchen meine Mutter durch das Schlüsselloch ihrer Tür sah: einen Bahnhof Dutzende von Zwergen machten sich zu schaffen und luden Waren auf und ab. Der Zug fuhr ab. Ein Zug fuhr ein. Hunderte von Zwergen stiegen ein. Andere stiegen aus. Das geschah vor achtzig Jahren in Osnabrück. Das hat sie gesehen. Das ist alles. Ich hätte es gern sehen wollen. Die Tür, durch deren Schlüsselloch ich geschaut habe, hatte in ihrer oberen Hälfte ein Glasfenster aus undurchsichtigen Scheiben in gelb rot königsblau, eine Fin de siècle-Musterung, die ihr einen theaterhaften Anschein verlieh. Ich war drei Jahre alt und sah den Weihnachtsmann vorüberhuschen, der sich fürchtete, weil zwei Ratten ihn verfolgten. Das war natürlich flüchtig. Ich hatte stets eine Sehnsucht nach der Tür meiner Mutter. Es war eine Tür für sie. Wo Bahnhof ist, da ist Eve. Ich sah vorübergehen, fliehen, sie aber sah Gehen Kommen Wiederkommen. Es war ohne Ende. Wiederkommen kommen sehen, um Wiederkommen kommen zu sehen, um wiederzukommen, um Wiederkommen zu sehen. * * * 21 Dossier IMMER IST GENIESSEN MIT IHR PFEILSCHNELLE. Fliegt und stiehlt wie ein geölter Blitz. Zwischen ihr und mir gibt es keine Aufstiege wie jene, die Augustinus mit Monika davontrugen. Ich erhebe mich allein mit meinem Vater dem meinen auf der Schulter, meine sagenhafte Hatz, hastiges verstohlenes Vergnügen. Und keine wollüstige Konversation, Seele in Seele, weder Seite an Seite noch am Telefon. Von einer Erde zur anderen Erde hallen unsere Rufe hell. - Das Gedächtnis, sagt meine Mutter, das ist nichts. Und das ist alles. Im Wohnzimmer gestern. Plötzlich schwallt eine Flut von Frauen und Männern heran, es sind die Ahnen seitens Omi, der Frau mit den leinblütenblau-blauen Augen meine Großmutter, alles ergießt sich in das Zimmer, ich grüße, ich stelle mich vor: ich bin Helene, die Tochter von Eve, alle erkennen mich erfreut es ist erstaunlich es ist nicht erstaunlich sie sind zufrieden, dass ich sie aufnehme all diese Leute, die aus den untersten Etagen heraufsteigen und die ich zum ersten Mal an der äußersten Bläue ihrer blauen Augen erkenne. Sie redet nicht mit mir, sie erzählt. Sie gibt par excellence was sie nicht hat und ich nehme es. Eve ist die letzte. Niemand stellt sich diesen Zustand vor. Es gibt niemanden, sie hat nun keine Onkel Tante Mutter Cousine Vettern mehr, sie ist nun denen unbekannt, die sie gekannt haben und da sie sich niemals selbst gekannt hat, ist sie nun eine Fremde. Es gab ein Volk, das sie gehütet hatte, ein weitläufiges Geschlecht von Namen auf Gesichtern, dessen Schleppe ihr noch ganz lebendig nachzog, als sie sich ins Wohnzimmer setzte und sie aufrief, all diese Namen haben fünfzig Jahre lang meine Vorstellungswelt umschwebt, umlebt, es war ein bewegtes Leben sie sind oft gekommen aber gesichtslos, vermischte Gestalten, die von einer Welt in die andere hinübergingen mit einer großen Menge Gepäck konnte man sie zwischen 1920 und 1935 in einem Luxushotel in London oder in Paris finden im Aufbruch nach Johannesburg auf dem Schiff im Frachtraum in der Türkei in Montevideo in Belfast im Lager von Gurs und danach von Australien nach Deutschland alle jung laut redend ohne Gesicht, die einen recht klein die anderen zu groß, die Frauen vor allem, vor allem Tante Selma, die einen Kopf größer ist, ich erkannte sie an ihren Epitheta, sie überquerten die Grenze kehrten zurück starben wussten nicht, lasen nicht außer Onkel André, sie hatten als erste Telefon die meisten von ihnen scherzten gern, sie hatten ihr Geheimnis aber in Eves Erzählung gestand keiner es, sie litten nicht sehr, in dieser Geschichte glitt der Schmerz von ihrem Gefieder ab. Letztlich haben sie alle ein wenig meiner Mutter geähnelt, und sie, abgelöst von ihnen, die die Zeiten von ihr ablösten, hat das Gefühl, in einer Zeit zu leben, in der die Bänder, die sie an 22 Dossier sie selber banden, abgefallen sind, sie schwebt über der Stadt und nimmt von sich selbst rein gar nichts wahr. Ihre Flotte sinkt. Es gab ein Volk, das von einem Kontinent zum anderen gewandert war und in einer Viertelstunde von Norddeutschland ins südliche Afrika ging das in eine Tram sprang, die über dem Kopf namens Löwenstein, Seehoff, Jonas, Klein, Carlebach, Meyer, Kantor, Bloch, Stern, einen Zeppelin trug, und an der Haltestelle Golders Green, London, ausstieg. Seit zehn Jahren und mehr sagt Eve, dass dieses Volk ihr als ein Traum erscheint. Sie will den *Onkel zu fassen kriegen - oh - der Name schmilzt die Tanten tanzen unter der Novemberlampe, ihre Gesichter flattern umher, sie sieht sie sehr genau in allen Farben wie gestern, doch kaum bewegt sie die Lippen, sind die Tanten verpufft. Eve sieht sich allmählich ihrer Sujets beraubt, sie gehen fort, sie gehen fort, sie will schreien, aber schon beim Atemholen machen sie sich aus dem Staub und schleppen die Hälfte des deutschen Gedächtnisses in ihrem Erlöschen mit sich fort, brüllend verschlingen die entketteten Jahre die zarten Ufer unseres Kontinents jede Saison verschluckt große Stücke des Körpers, schon bleibt von Osnabrück was in den letzten Neuigkeiten von Combray übriggeblieben war: zwei durch eine Wendeltreppe miteinander verbundene Etagen, gerade genug, um die letzten Gespenster durchzulassen, die bereit für die Abschiedsszene sind, so wie für mich ganz London und die fünfziger Jahre sich in der Straße namens Golders Gardens verdichten, die ich hinauf und hinunterging und meine letzte Schluchzerpracht dabei nicht verstreute, Schluchzer, geweiht dem ungeheuren Fernsein von Maman, sie am Ufer von Algier ich in der Ödnis Englands, feindseliger, treffender Dekor für meine Desolation, wenn wenigstens zur Stunde meines Aufbruchs Maman in Tränen ausgebrochen wäre, etwas Fürchterliches, wenn sie sich an mich geklammert hätte, um mit mir aufzubrechen, wenn sie so getan hätte, als würde sie mich auf das Schiff begleiten, um bei mir zu bleiben, wenn sie, sich im letzten Augenblick besinnend, mich das Schiff nicht hätte nehmen lassen, jedoch entzog sie sich aus profunder Absicht selber meiner blinden Sicht, an der Reling verlor ich sie in Minutenschnelle, nicht ohne keine geringste Spur von Angst gezeigt zu haben, denn sie hatte vor, aus mir zu machen, was ihr vermutlich zu machen gelang, ich ging durch London und weinte tränenlos über die Tränenlosigkeit meiner Mutter, mit einem überhohen Schritt, bestrebt, um nicht ins höllische Verlangen abzugleiten, mich an die ersten Rudimente der englischen Sprache zu krallen, die Straße meines Schmerzes dünstete den machtvoll süßlichschweren Duft des englischen Liguster, den ich seither und fortan nicht riechen kann ohne das Gefühl zu sterben und einbalsamiert zu werden, schrecklicher benebelnder Geruch Englands, Essenz der Trennung und der verletzten Liebe. Das bestürzte Gesicht, das meiner Mutter entgleitet, wenn sie den Namen Osnabrück sagt, wie man am Ufer der See einen Knochen findet, den ein verschwundener Walfisch hinterlassen hat, staunenswerte wilde Scheu mitten im Leben kommt es 23 Dossier vor, dass sie beginnt gegen ihren Willen auf die andere Seite zu springen, an manchen Tagen sind es nicht nur Namen, es ist ein Gesicht, das sich nicht einstellt, und dabei hat sie den gesamten Rest, den Körper der Tante, den Rock, die kleinen Arme aber der Kopf, der kommt nicht, oder aber es ist ein anderer Kopf, der sich dahin setzt, aber Eve lässt sich nicht zum Narren halten, ein Tantenkopf kann nicht den Kopf einer anderen Tante ersetzen, es ist eine kleine Folterqual, man konnte es vorhersehen, sie hätte Omi Fragen stellen müssen, aber Omi ist vor einundzwanzig Jahren fortgegangen, während Eve ganz bei ihren letzten Niederkünften war, im Übrigen hatte Omi keine Erzählung, mit dem Ende von Benjamin, ihrem jüngsten war das Gesetz abgebrochen oder die Freude am Behalten, sie war eher eine Frau von Tag zu Tag. Omi hat nicht erzählt. Ihre Tochter sammelt die Spuren, denn sie sind das gesamte Erbe meiner Mutter, ihre Perlen, ihre Korallen, ihre Gemälde diese in Bildern hinterlegten Brüder und Schwestern, von denen Omi den Blick ihrer blauen anormal blauen Augen naturgemäß nicht abwenden konnte. Wie von dem Bruder sprechen, den sie liebt, ohne ihn zu verlieren, ohne ihn in Papier zu rollen und einzubalsamieren, Omi liebte es, die Namen der Ihren auf ihrer Zunge rollen zu lassen es waren nicht ihre Entfernten, höchstens durch die Distanzen, sie wohnten ganz gegenwärtig in ihr und ich habe sie selbst noch lebendig nennen gehört mit der Stimme meiner Großmutter, sie waren in ihrem Fleisch, sie rief sie an und sie antworteten, auch die, die in den Lagern gestorben waren, sie gab ihnen noch ihr Fleisch, um zu bleiben. Andreas Jenny Paula Moritz Hete Zalo Zophi Michael Benjamin So dann begann das Gewebe der Leben. Und es ist überhaupt nicht mehr dieselbe Geschichte oder dieselben Figuren. Diejenigen von Omi waren unterschiedlich, die einen mehr nach innen gewandt, zärtlicher geliebt heißer feuriger manchmal hatten sie Launen, Kummer und bis zur Verzweiflung. Diejenigen von Omi noch lebendig, nach ihrem Tod von Omi lebend. Dieselben von meiner Mutter erzählt. Erzählte Onkel, auf der Türschwelle noch eingeholte Tanten. Diejenigen meiner Mutter gleichen sich, jung fröhlich unternehmungslustig auf vernünftige Weise. Folgt man ihnen, sieht man gut den persönlichen Geschmack der Autorin, ihre Mentalität, ihre Moral und Ethik. Aus: Hélène Cixous, Osnabrück, trad. Esther von der Osten, ed. Peter Engelmann, Wien, Passagen Verlag, 2017, 15-19 und 109-112. Bitte einfügen Nach Osnabrück fahren ist wie nach Jerusalem fahren, ist verlieren und finden. Es heißt Geheimnisse ausgraben, Tote auferwecken, Stummen das Wort geben. Und es heißt die absolute Freiheit verlieren, nach Belieben Jude oder Jüdin zu sein oder nicht zu sein, eine Freiheit, die ich bedingt genieße. 24 Dossier Als Omi meine Großmutter Deutschland ’38 verließ und zu uns nach Oran kam, als ein Jude außer dank einem seltenen Glücksfall der Geschichte nicht mehr entrinnen konnte, haben die Erzählungen von Osnabrück begonnen. Man glaubt gemeinhin, dass das große Unglück 1933 niederging, aber das ist ein Irrtum, der beim Gebrauch von Geschichtshandbüchern entsteht. Bereits 1928 war der gewöhnliche Antisemitismus zum nazistischen und außergewöhnlichen Antisemitismus geworden. Und der Tod war der Herr der Stadt. Wenn du nach Osnabrück fährst wie nach Jerusalem, dann wirst du hinter dem Vorhang der heute weltweiten Großen Geschichte unzählige einzelne große kleine Tragödien aufblitzen sehen, die sich geheim in den Vierteln dieser Stadt bewahrt haben, die glorreich war durch Karl den Großen, schändlich unter der Herrschaft der NSDAP und heute als mutige Stadt des Friedens und Kämpferin für die Menschenrechte wiedererstanden ist. Wenn du nach Osnabrück fährst, sagt mir das Geheimnis, dann geh in die Große Straße, vor das berühmte Uhren- und Schmuckgeschäft hundert Meter vom Haus der Jonas entfernt, dem Haus deiner Familie, und schau in die Auslagen. Vielleicht wirst du dort am Grunde des Gedächtnisses eine Tafel mit angepinnten Fotos sehen, gespenstische Schmetterlinge, Bilder all der Leute, die wagten, bei Händlern Jude einzutreten, in den schwarzen Jahren. Vielleicht nicht. Hier schaute Omi zu, wie unter den Fenstern des Hauses Jonas sich Straßen und Plätze zum Bersten mit einer hasstrunkenen Masse füllten, und die Banner des Reichs, die ihr den Glanz einer entsetzlichen Oper verliehen, stiegen bis zu ihrem Balkon hinauf. Der Himmel über der Rolandstraße war rot vom Scheiterhaufen der Synagoge. Man weiß nicht. Man glaubt zu wissen. Man weiß nicht, dass man nicht weiß. Macht (sich) die Geschichte Licht, schafft sie zugleich Blendung. Ich war blind und wusste es nicht. Aber eine Ahnung raunte mir zu: Geh nach Osnabrück wie nach Jerusalem und frage die Mauern der Stadt und die Pflaster der Trottoirs nach dem, was dir verborgen ist. Zu Zeiten, als meine Mutter Eve am Leben war, habe ich mir stets gewünscht, nach Osnabrück zu fahren, in die Stadt der mütterlichen Familie meiner Mutter, der Jonas’. Wiege und Grab, Stadt des Wohlstands und des Erlöschens. - Ist nicht interessant, sagt meine Mutter. Nicht der Mühe wert. - Fahren wir hin, sage ich. - War doch, sagt meine Mutter. Man war. Jetzt ist man nicht mehr. Und jetzt, wo sie nicht mehr sind, Eve, Eri, Omi... jetzt wo niemand mehr da ist, und wo das Gedächtnis sucht, wo, in wem es Zuflucht finden kann, jetzt wo es zu spät ist, da ist es an dir hinzufahren, sagt mir das Schicksal, Hüter der genealogischen Mysterien. Die Größe einer Stadt ist ein Werkzeug des Schicksals. Osnabrück bietet den Verurteilten nicht die dürftigen Überlebenschancen, die das weitläufige komplizierte Berlin gewährt. Hier ist die gesamte Stadt eine bloße Mausefalle. Das kleine Volk 25 Dossier der Mäuse hat keine Chance. Keiner entkommt. Weder die Familie Nussbaum. Noch die Familie van Pels. Noch die Familie Remarque. Noch die Familie Jonas. Noch. Ich frage Omi, warum sie nicht 1930 mit ihren Töchtern abgehauen ist. Und 1933? Und 1935? Natürlich antwortet sie nicht. Als Omi ihren Bruder Andreas fragt: „worauf wartest du in Osnabrück? was machst du 1941 und bis zum Zug von 1942? “, regt sich zwischen den Pflastersteinen eine Stimme, es ist Andreas, der murmelt, ich warte auf den Tod am Bahnhof von Osnabrück. Rührt nicht an meine Asche. Auf den Straßen hauchen aus Schweigen geschnitzt die scheuen Gespensterstimmen: Steige hinab zu den Aschen hinter dem Vorhang. Ich bin hinter den Vorhang gegangen und habe beim Geheimnis meine Erbschaft an Tragödien eingefordert. Und man hat sie mir gegeben. Man: die Archive des Terrors, die das Rathaus und seine Bibliotheken geordnet bewahren. Ich bin den Spuren Hiobs gefolgt, der auf Deutsch mit Füßen getreten und lebendig enthäutet wurde. H.C. September 2015 Aus: Hélène Cixous, Osnabrück Hauptbahnhof nach Jerusalem, trad. Esther von der Osten, ed. Peter Engelmann, Wien, Passagen Verlag, 2017 (im Druck). 1 Anmerkung der Übersetzerin: Wörter, die im französischen Originaltext durch Großschreibungen des ersten Buchstabens hervorgehoben sind, haben einen unterstrichenen Anfangsbuchstaben. Wörter oder Satzteile, die im Originaltext deutsch sind, werden zu Beginn des jeweils ersten Wortes mit einem Asteriskus (*) gekennzeichnet.