eJournals lendemains 42/165

lendemains
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Narr Verlag Tübingen
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2017
42165

Erziehungswissenschaft in Deutschland – ein inter- oder multidisziplinäres Feld?

2017
Marianne Krüger-Potratz
ldm421650011
11 Dossier Marianne Krüger-Potratz Erziehungswissenschaft in Deutschland - ein inter- oder multidisziplinäres Feld? Wird es möglich sein, eine allgemeingültige Pädagogik aufzustellen, d. h. für alle Zeiten und Räume? Diese Frage müssen wir verneinen. (Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, 1826) 1 ‚Erziehungswissenschaft‘ und ‚Pädagogik‘ sind die zwei im deutschsprachigen Raum 2 bzw. in Deutschland am häufigsten anzutreffenden Bezeichnungen für die wissenschaftliche Disziplin, die sich mit Fragen von Erziehung und Bildung über die Lebenszeit im Kontext der jeweiligen gesellschaftlich-politischen Verhältnisse befasst. Als disziplinäre Bezeichnungen sind sie nach dem Stand der Forschung erstmals für 1766 (Erziehungswissenschaft) und 1771 (Pädagogik) belegt. Beide sind bis in die Gegenwart gebräuchlich und in vielen Texten werden sie synonym und im Singular 3 als Bezeichnung der Disziplin verwendet. Der im Verlauf der Geschichte immer mal wieder in die Diskussion eingebrachte Vorschlag, fachlich zwischen ‚Erziehungswissenschaft‘ und ‚Pädagogik‘ zu unterscheiden - z. B. ‚Erziehungswissenschaft‘ für die Disziplin mit der Zuständigkeit für die Erzeugung, Vermehrung und Verbreitung des Wissens über Bildung und Erziehung und ‚Pädagogik‘ für die Anwendung desselben - hat sich letztlich nicht allgemein durchgesetzt. Seit Beginn der 2000er Jahre ist ein neues Disziplinkonzept - ‚(Empirische) Bildungsforschung‘ - Gegenstand kontroverser Diskussionen, auch in Zusammenhang mit Veränderungen in der Forschungsförderung und Professionspolitik. Wie schon in früheren Auseinandersetzungen geht es zum einen um das Wissenschaftsverständnis, den Gegenstand der Disziplin, ihre ‚Gestalt‘ und damit um ihre ‚Binnen-‘ wie ‚Außengrenzen‘, d. h. um Interund/ oder Multidisziplinarität sowie um das Verhältnis zur (Bildungs-)Politik. Zunehmend spielt auch das Argument der Internationalität eine Rolle, sowohl in Bezug auf die Stärkung internationaler Kooperationen als auch in der Frage nach der internationalen Sichtbarkeit deutscher bzw. deutschsprachiger Forschung in der globalisierten Welt. Dass es in diesen Auseinandersetzungen immer auch um Ressourcensicherung sowie um fachliche und personen(gruppen)bezogene Macht geht, ist ebenfalls nicht neu. Denn diese Gemengelage war schon Ende des 18. Jahrhunderts, anlässlich des historisch ersten Versuchs, Pädagogik als akademische Disziplin zu etablieren, zu beobachten. Als 1778 mit ministerialer Unterstützung an der Theologischen Fakultät der Universität Halle erstmals ein Lehrstuhl für Pädagogik und Philosophie eingerichtet und 1779 mit Ernst Christian Trapp, Vertreter einer „auf eine empirische Experimentalpsychologie statistischer Art“ gegründeten Pädagogik (Scholz 1995: 133), besetzt wurde, entbrannte sehr schnell ein fachlicher wie persönlicher Streit, 12 Dossier der drei Jahre später mit dem Weggang von Trapp und der Besetzung des Lehrstuhls mit einem Vertreter der Philosophie endete. Mit diesem ‚Sieg über die Pädagogik‘ hatte sich zum einen ein traditionsreiches und noch lange danach vertretenes Wissenschafts- und Disziplinverständnis durchgesetzt, demzufolge die Pädagogik kein eigenständiges, von der Theologie oder Philosophie getrenntes Lehrfach sein konnte, und zum anderen sicherte sich die Theologische Fakultät durch diesen ‚Sieg‘ Ressourcen sowie weiterhin den Einfluss auf die Ausbildung des Nachwuchses auch im Bereich von Bildung und Erziehung. Auch wenn es der Pädagogik erst spät gelungen ist, sich als akademisches Fach zu etablieren, so bedeutet dies nicht, dass es im 18. und vor allem im 19. Jahrhundert keine pädagogische theoretische wie auch empirische Forschung gegeben hätte. Wer sich mit der Geschichte der wissenschaftlichen Pädagogik beschäftigt, trifft unweigerlich auf Arbeiten gelehrter Schulmänner und Schuladministratoren sowie, neben der philosophisch oder auch theologisch inspirierten pädagogischen Forschung, auf einen „kontinuierlichen Strang der intensiven empirischen Bildungsresp. Schul- und Unterrichtsforschung seit dem 18. Jahrhundert“ (Tenorth 2010: 8). Vor dem Hintergrund der Geschichte der Pädagogik/ Erziehungswissenschaft in Deutschland wird im Folgenden der in der Einleitung zu diesem Dossier thematisierte Unterschied zwischen den disziplinären Bezeichnungen in Frankreich und Deutschland als Zeichen unterschiedlicher Disziplinkonzepte aufgegriffen und im ersten Abschnitt mit Bezug auf die verschiedenen Formen der disziplinären Koexistenz oder Zusammenarbeit diskutiert. Es folgt ein zweiter Abschnitt zur Frage, ob die Erziehungswissenschaft eine multi- oder interdisziplinäre Wissenschaft sei. Ein kurzer Exkurs zu „Erziehungswissenschaften“ (Plural! ) beschließt diese Ausführungen (Abschnitt 3). Gegenstand des vierten Abschnitts sind die aktuelle Auseinandersetzung über die (Empirische) Bildungsforschung und die Frage, ob sie ein neues Disziplinkonzept neben der Erziehungswissenschaft darstellt. Der als Diskussionsbeitrag konzipierte Artikel schließt mit einem kurzen Fazit (Abschnitt 5). 1. Disziplinarität sowie Inter-, Multi- und Transdisziplinarität Christiane Montandon beginnt ihre Einleitung zu diesem Dossier mit einem Hinweis auf die unterschiedlichen Bezeichnungen der wissenschaftlichen Disziplin, die sich mit Bildung und Erziehung von Menschen befasst, und sie fragt, ob die Pluralform der Disziplinbezeichnung in Frankreich - „les sciences de l’éducation“ - als Hinweis auf die „inévitable pluridisciplinarité des sciences de l’éducation en France“ gelesen werden könne, während die Bezeichnung der Disziplin im Singular - „Erziehungswissenschaft“ - auf die „unité et cohérence institutionnelle et épistémologique“ derselben in Deutschland verweise (cf. Seite 5). Die Antwort scheint einfach. Denn schon ein kurzer Blick in verschiedene, auch ältere Einführungen in die Erziehungswissenschaft oder auf die Website der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft zeigt, dass vom Singular nicht auf eine „unité et cohérence institutionnelle et épistémologique“ geschlossen werden kann. Gegen eine „unité“ im engeren Sinne 13 Dossier sprechen für den deutschen ‚Fall‘ zudem die Genese der Disziplin, ihre schwierige interdisziplinäre Geschichte der Akademisierung und Institutionalisierung, ihre aktuelle Gestalt einschließlich der intradisziplinären Ausdifferenzierung, die Theorien- und Methodenvielfalt u. v. m. sowie die - gerade auch aktuell zu beobachtende - Konkurrenz verschiedener Disziplinkonzepte. Doch diese Antwort ist unvollständig. Denn zum einen ist zu beachten, dass die Frage nach der Einheit der Disziplin, der Versuch, das ‚Eigentliche der Disziplin‘ zu definieren, stets eine Rolle gespielt hat, und zum anderen ist die Frage nach Multi- und Interdisziplinarität nicht zu beantworten, ohne auf Disziplinarität einzugehen. Generell ist festzuhalten: Wie jede Disziplin ist auch die Erziehungswissenschaft ‚in Bewegung‘. Sie reagiert (intra-)disziplinär wie auch hinsichtlich ihrer Beziehungen zu anderen Disziplinen auf gesellschaftlich-politische, bildungs- und forschungspolitische sowie technologische Veränderungen im nationalen wie internationalen Feld und vor allem auch auf für sie relevante Entwicklungen und Erkenntnisse in anderen Disziplinen. In jüngerer Zeit haben die neuen Technologien bzw. die Möglichkeiten, die sie eröffnen, nicht nur Fragestellungen und Forschungsmethoden verändert und dazu beigetragen, dass der nationale Rahmen an vielen Stellen durchbrochen wird, sondern auch die Frage von Multibzw. Interdisziplinarität neu gestellt. 4 Für die folgenden Ausführungen sind zwei Begriffe zentral: Multi- und Interdisziplinarität. Schon ein relativ flüchtiger Blick in die einschlägige Literatur zeigt, dass es durchaus unterschiedliche Definitionen von ‚multi-‘ oder auch ‚pluridisziplinär‘ und von ‚interdisziplinär‘ wie auch ‚transdisziplinär‘ gibt. Alle vier Formen disziplinärer Gestaltung und Beziehungen spielen für die und in der Erziehungswissenschaft eine Rolle. Auf Transdisziplinarität wird allerdings im Folgenden nicht weiter eingegangen, auch wenn das damit auch angesprochene Verhältnis von Theorie und Praxis in der Geschichte der Pädagogik respektive Erziehungswissenschaft eine wichtige Rolle spielt. Eingegangen wird auf Multidisziplinarität, hier verstanden als Koexistenz von Disziplinen unter einem ‚disziplinübergreifenden Dach‘ bzw. in der Forschung als nebenläufige Bearbeitung eines Forschungsthemas, d. h. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unterschiedlicher disziplinärer Herkunft arbeiten zwar an einer gemeinsamen Aufgabe, aber ein Austausch über Konzeption, Methoden usw. ist nicht zwingend. Wichtig ist vor allem die Bereitstellung unterschiedlicher Expertise. Unter Interdisziplinarität hingegen wird die Zusammenarbeit von Disziplinen, der Austausch über fachliche Sichtweisen, Methoden, Forschungsansätze, Konzepte usw. verstanden. Für Multidisziplinarität bedarf es nicht der Überschreitung disziplinärer Grenzen; für Interdisziplinarität hingegen ist die Offenheit gegenüber anderen Disziplinen unerlässlich. Interdisziplinarität bedeutet nicht nur, dass Vertreter/ innen unterschiedlicher Disziplinen eine Fragestellung zusammen bearbeiten, sondern von interdisziplinär wird auch gesprochen, wenn ein Forschungsprojekt oder eine Forschungsrichtung im Schnittpunkt von Disziplinen angesiedelt ist und zur Bearbeitung der Fragestellungen Forschungsansätze, Methoden, Diskurse 14 Dossier usw. anderer Disziplinen einbezogen werden. Ein Beispiel hierfür wären Forschungen, die mit dem Intersektionalitätsansatz arbeiten, der in der US -amerikanischen Rechtswissenschaft entwickelt worden und in die Erziehungswissenschaft über die Genderforschung ‚eingewandert‘ ist. Doch auch generell kann man sagen, dass die Erziehungswissenschaft - wie andere Disziplinen auch - ein historisches Gebilde mit „unscharfen Grenzen“ darstellt (Glaser/ Keiner 2015) und sowohl die Frage nach der disziplinären Identität wie die nach der Öffnung zu anderen Disziplinen für die Entwicklung unerlässlich ist. 2. Disziplinarität im Singular oder Plural? Das Gegenstandsfeld ist nicht disziplinär geordnet, d. h. Disziplinen sind Konstruktionen, die sich einen Teil eines mit anderen geteilten Gegenstandsfeldes erschließen und sich für einen bestimmten Ausschnitt bzw. für eine bestimmte Perspektive auf das Gegenstandsfeld zuständig erklären. Mit dem Anspruch auf Zuständigkeit setzt ein Prozess ein, in dem die Grenzen der jeweiligen Disziplin gegenüber anderen definiert, aber auch wieder infrage gestellt, verschoben oder auch neu gezogen werden. Disziplinarität bildet sich in der Auseinandersetzung mit anderen Disziplinen heraus und ist somit die Voraussetzung, um über Inter- und Multidisziplinarität sprechen zu können. In dieser Perspektive lässt sich Disziplingeschichte als stete Auseinandersetzung sowohl mit der Frage nach dem ‚Disziplinär-Eigenen‘ als auch zugleich nach dem ‚Disziplinär-Anderen‘, d. h. nach dem Verhältnis zu anderen (benachbarten) Disziplinen lesen. In allen diesen Fällen steht die Erziehungswissenschaft im Singular. Der Plural - Erziehungswissenschaften - steht hingegen für ein multidisziplinäres Fächer- Arrangement, das als Modul, Studienfach oder Teilstudiengang angeboten wird. So ist z. B. „Erziehungswissenschaften“ in der Lehramtsausbildung ein verpflichtend zu studierendes Studienelement; an manchen Universitäten firmiert es auch unter „Bildungswissenschaften“. Das für dieses Studienelement vorgesehene Stundenvolumen wird zwischen Erziehungswissenschaft (Singular! ) und - je nach Studienordnung - einer oder zwei weiteren Nachbardisziplinen aufgeteilt. In der Regel gehören zu den Nachbardisziplinen, aus denen die Studierenden wählen müssen, die Psychologie, die Soziologie oder auch die Philosophie und die Politikwissenschaft. 5 Der Plural steht hier für das ‚Dach‘, unter dem verschiedene Disziplinen einschließlich der Erziehungswissenschaft (Singular) koexistieren, ohne aufeinander Bezug nehmen zu müssen bzw. ohne dass ein wissenschaftlicher Austausch vorgesehen ist. Das von ihnen beigebrachte Angebot ist sozusagen eine multidisziplinäre Serviceleistung. 15 Dossier 3. Erziehungswissenschaft - von einer ‚Kleinst-Disziplin‘ zu einem ‚kollektiven Unternehmen‘ Die Anfänge der Akademisierung der Pädagogik im deutschsprachigen Raum liegen - wie in vielen europäischen Ländern - im 17. und 18. Jahrhundert. Ihre Geschichte setzt parallel zu den ersten Initiativen des Aufbaus eines öffentlichen Schulwesens und der Einführung einer allgemeinen Schulpflicht im Kontext der Nationalstaatsbildung ein. Wissenschaftsgeschichtlich war dies der Zeitpunkt des Übergangs von der allgemeinen Gelehrsamkeit zum Spezialistentum, zur Herausbildung von ‚Disziplinarität‘ durch die Unterteilung des Wissens in verschiedene Fachdisziplinen, verbunden mit der Entwicklung einer ‚eigenen‘ Systematik und Fachsprache, dem Aufbau fachspezifischer Kommunikationszusammenhänge, den Bemühungen um angemessene ‚Orte‘ für die fachliche Kommunikation wie auch entsprechender Angebote für die Ausbildung des Nachwuchses. Dies ging einher mit Initiativen zur Förderung wie Legitimierung dieser Entwicklungen durch die (Re-)Konstruktion einer eigenen Fachgeschichte (cf. Tenorth 2014). Der erste Schritt war die ‚Herstellung von Disziplinarität‘, die Reklamierung und Begründung von Eigenständigkeit gegenüber den Disziplinen, die sich generell, aber insbesondere im Rahmen der akademischen Ausbildung von Gymnasiallehrern für Fragen von Bildung und Erziehung als zuständig ansahen, d. h. die Philosophie respektive Anthropologie, die Philologien, die Theologie und die Staatswissenschaften. In dieser multidisziplinären Konstellation hat sich die Pädagogik als Disziplin entwickelt - ein langsamer Prozess, zu dessen Beförderung die wenigen an den Universitäten lehrenden Pädagogen, außeruniversitär die ‚gelehrten Schulmänner‘, die in der Schulverwaltung und an den Lehrerbildungsanstalten Tätigen sowie die in den Lehrervereinigungen aktiven Pädagogen einen wichtigen Beitrag geleistet haben, ebenso wie die ab der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert aktiven und international sehr gut vernetzten Reformpädagoginnen und -pädagogen. Beachtet man die disziplinäre Herkunft dieser Personen, insbesondere der an letztere Stelle genannten, so erweitert sich das Spektrum der Disziplinen, die im Prozess der disziplinären Eigenständigkeit der Pädagogik/ Erziehungswissenschaft eine Rolle gespielt haben, unter anderem auch um die Naturwissenschaften und die Medizin. In dieser Zusammenarbeit ist ein reiches Wissen über Kindheit und Jugend, Schule, Unterricht usw. entstanden, ohne dass sich dies in Deutschland zunächst auf den Status der Pädagogik als (akademischer) Disziplin ausgewirkt hat. Denn als eigenständiges Fach an den Universitäten hat sich die Pädagogik/ Erziehungswissenschaft erst relativ spät im 20. Jahrhundert etablieren können. Zwar sind in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts an einigen wenigen Universitäten Lehrstühle für Pädagogik (und Philosophie) eingerichtet worden 6 , doch noch Anfang des 20. Jahrhunderts war die Pädagogik in Deutschland kaum mehr als eine „philosophierende Kleinst-Disziplin in der Philosophischen Fakultät“ (Terhart 2013: 26) und - von Ausnahmen abgesehen - trifft diese Beschreibung bis in die ersten beiden Jahrzehnte nach Ende des Zweiten Weltkriegs zu. In der Zwischenkriegszeit 16 Dossier hat es zwar in einigen der deutschen Länder, z. B. in Hamburg, Sachsen und Thüringen, im Zuge der Akademisierung der Volksschullehrerausbildung erneut Ansätze zur Etablierung einer universitären Pädagogik gegeben. Doch da in Preußen und anderen Ländern weiterhin nur die Gymnasiallehrkräfte an der Universität ausgebildet wurden, in deren Studium die Pädagogik vor den 1970er Jahren keine nennenswerte Rolle gespielt hat, blieb sie vielerorts Pädagogik eine „Kleinst- Disziplin“ im Schatten der Philosophie. Die Theologie spielte als Disziplin kaum noch eine Rolle, wohl aber die Kirchen; sie nahmen in Westdeutschland - je nach Bundesland - weiterhin mehr oder weniger stark Einfluss auf die Lehre und Forschung und z. T. auch auf die Personalpolitik bzw. die Besetzung von Professuren. 7 Die 1960er und 1970er Jahre stellen eine Zäsur dar. Ab der zweiten Hälfte der 1960er Jahre fand im Zusammenhang mit dem auch bildungspolitisch stark geförderten Interesse an einer Schulreform (Stichwort Chancengleichheit und Gesamtschule) und der Pädagogisierung des Lebenslaufs (Stichwort: lebenslanges Lernen) ein starker institutioneller und personeller Ausbau der Erziehungswissenschaft und ein für die Disziplin folgenreicher institutioneller Umbau statt (cf. Schmidt-Herta/ Tippelt 2014). 8 Ein disziplinär relevanter Schritt war zum einen die Integration der Pädagogischen Hochschulen in die Universitäten, die von den 1960er bis 1990er Jahren in allen Bundesländern (mit Ausnahme von Baden-Württemberg) stattfand. Zugleich wurden - stets mit Unterschieden zwischen den Bundesländern - die Studienangebote in Erziehungswissenschaft erweitert: Außer den ‚Dienstleistungen‘, die die Erziehungswissenschaft weiterhin für die Lehramtsstudiengänge in einem multidisziplinären Setting (gemeinsam mit Philosophie, Psychologie, Politikwissenschaft) zu erbringen hatten (Stichwort ‚Erziehungswissenschaften‘) und deren Umfang teilweise erhöht wurde, wurden erstmals, neben der schon zuvor gegebenen Möglichkeit, in Erziehungswissenschaft zu promovieren, eigenständige erziehungswissenschaftliche Hauptfachstudiengänge mit akademischen Abschlüssen (Magister oder Diplom) und verschiedenen Möglichkeiten der Schwerpunktbildung (z. B. Sozialpädagogik, Erwachsenenbildung) eingerichtet. Wer diesen Weg wählte, studierte Erziehungswissenschaft im Hauptfach und in der Regel zwei Nebenfächer aus einem relativ breiten Spektrum der Geistes- und Sozialwissenschaften, so dass man von einem Ansatz für eine multidisziplinäre Ausbildung sprechen könnte. Die neuen Studiengänge erlaubten erstmals die Ausbildung eines eigen-disziplinären Nachwuchses für die verschiedenen Praxisfelder und erweiterten somit quasi innerdisziplinär das Feld für die Rekrutierung des wissenschaftlichen Nachwuchses. Dieser institutionelle Ausbau wirkte sich sowohl intrawie interdisziplinär aus: intradisziplinär insofern sich die Erziehungswissenschaft zunehmend als eigenständige Disziplin verstand, sich professionspolitisch organisierte und somit einen Raum für den innerfachlichen Austausch wie auch für die Repräsentation nach außen schuf; interdisziplinär insofern mit der Ausbildung neuer Teildisziplinen und Schwerpunktsetzungen die interdisziplinären Kontakte zunahmen. 17 Dossier Auch wenn in den 1980er Jahren und im Zuge des abnehmenden politischen Interesses für Bildungsreformen der institutionelle Ausbau der Erziehungswissenschaft gestoppt und z. T. auch zugunsten anderer Fächer wieder zurückgenommen wurde, so kann man dennoch davon sprechen, dass sich ab den 1960er Jahren die Erziehungswissenschaft als eigenständige Disziplin bzw. als „disziplinäres Feld“ zu einem „kollektiven Unternehmen“ entwickelt hat, das „Erkenntnisse im Gebiet seines Forschungsgegenstands produziert. Diese Produktion geschieht über die kontinuierliche Entwicklung und Erneuerung theoretischer Modelle und Konzepte sowie von Methodologien zur Erhebung und Analyse von Daten im Feld, die Bedingung für die gesellschaftliche und wissenschaftliche Anerkennung der Disziplin sind“ (Hofstetter/ Scheuwly 2008: 681; cf. auch Tippelt/ Fath 2012). Sie verfügt über eine institutionelle Basis und ein „Korps von Fachleuten, die auf die systematische Produktion und Verbreitung neuer Kenntnisse spezialisiert sind“. Sie bildet ihren eigenen Nachwuchs aus, d. h. sie „übernimmt institutionell die Funktion der Verbreitung des erarbeiteten Wissens“ und der Sozialisation derjenigen, „die sich auf das Feld berufen und/ oder in ihm tätig sind“ (Hofstetter/ Scheuwly 2008: 681). Sie hat viele Möglichkeiten der Kommunikation innerhalb der eigenen (nationalen wie internationalen) scientific community geschaffen und sie ist über verschiedene Teildisziplinen in weitere überfachliche, interdisziplinäre und auch internationale Kommunikationsnetzwerke (z. B. Geschlechterforschung, Migrationsforschung, Kulturwissenschaften, Sozialisationsforschung) eingebunden. Dass die Pädagogik respektive Erziehungswissenschaft ‚in Bewegung‘ ist und sich immer wieder neue Ordnungen wie auch Überschneidungen - intrawie interdisziplinär - ergeben, ist, wie schon gesagt, nichts Neues. Abzulesen ist es u. a. an der starken Ausdifferenzierung der Erziehungswissenschaft seit den 1960er und 1970er Jahren, der erfolgreichen Etablierung der Disziplin an den Universitäten oder auch an der Entwicklung ihrer Fachgesellschaft. Erkennbar wird die intradisziplinäre Ausdifferenzierung z. B. an den Denominationen von Professuren, den Formulierungen, mit denen nach erfolgreicher Habilitation die venia legendi für Erziehungswissenschaft verliehen wird, den Namen der Institute, seit der sog. Bologna-Reform auch an den Bezeichnungen verschiedener Masterstudiengänge und - professionspolitisch - an den seit der Gründung der DGfE 1964 deutlich steigenden Mitgliederzahlen und den verschiedenen Lösungen für eine der Disziplinentwicklung adäquate Binnenstruktur der Fachgesellschaft (cf. Berg/ Herrlitz/ Horn 2004). Nach ihrer Gründung untergliederte sie sich zunächst in vier und knapp zehn Jahre später in acht Kommissionen. Gleichzeitig gab es über die Zeit viele Anträge für die Einrichtung weiterer Kommissionen und für alternative Strukturierungen. Nach der bisher letzten Restrukturierung 1999 hat die DGfE ca. 3300 Mitglieder und gliedert sich in 13 Sektionen, die zum Teil noch in zwei oder drei Kommissionen unterteilt sind; insgesamt gibt es derzeit 19 Kommissionen. Zur jüngsten disziplinpolitischen Entwicklung gehört, dass die Empirischen Bildungsforscherinnen und -forscher, die bislang in der Sektion ‚Empirische Bildungsforschung‘ organisiert waren, 2012 eine neue 18 Dossier Gesellschaft, die Gesellschaft für Empirische Bildungsforschung (GEBF) gegründet haben (siehe weiter unten). 4. Bildungsforschung - Empirische Bildungsforschung: ein neues Disziplinkonzept? Ungeachtet aller innerdisziplinären Auseinandersetzung in der Erziehungswissenschaft koexistieren die verschiedenen Teildisziplinen mit den ihnen eigenen Sichtweisen und Forschungsparadigmen unter dem Dach der Erziehungswissenschaft und tragen die fachlichen wie ressourcenpolitischen Auseinandersetzungen in diesem Rahmen aus. Dies galt auch bis vor wenigen Jahren für die (empirische) Bildungsforschung, eine neue bildungspolitisch gestützte Forschungsrichtung, die sich seit den 1960er Jahren etabliert hat und inzwischen in verschiedenen Publikationen als erste empirische Wende in der Erziehungswissenschaft vorgestellt wird (cf. Edelmann/ Schmidt/ Tippelt 2011: Kap. 3). 9 Auslöser für diese Entwicklung war ein gesteigertes bildungspolitisches Interesse an erziehungswissenschaftlicher Forschung, insbesondere an einer Forschungsrichtung, die für die geplante, kontrovers diskutierte Bildungsreform im Zeichen von Chancengleichheit von Nutzen war. 10 Die entscheidenden Stichwörter waren: Gesamtschule und vorschulische Bildung, Aufhebung der Benachteiligung aufgrund des Geschlechts, des Sozialstatus, der Konfession und der Region durch gemeinsame Beschulung und früh einsetzende bildungssprachliche Förderung. Zu diesem Ziele wurde das Max-Planck-Institut für Bildungsforschung (MPIB) 1963 in Berlin gegründet und der Deutsche Bildungsrat (1966-1975) eingesetzt, der deutlich stärker als sein Vorgänger, der ‚Deutsche Ausschuss für das Erziehungs- und Bildungswesen‘ (1953-1965), an die politischen Entscheidungsträger auf Bundeswie Landesebene angebunden war. Nach der Definition des Deutschen Bildungsrats bedeutete Bildungsforschung die „Untersuchung der Voraussetzungen und Möglichkeiten von Bildungs- und Erziehungsprozessen im institutionellen und gesellschaftlichen Kontext“ und in Berücksichtigung der ökonomischen Verhältnisse (Deutscher Bildungsrat 1974: 16). Der Bildungsrat unterschied zwischen einer weiten und einer engen Definition von (empirischer) Bildungsforschung. Er wies darauf hin, dass es sie in einem „engeren Sinn […] als Unterrichtsforschung schon immer gegeben“ habe. In einem weiteren Sinn bezöge sie sich jedoch auf das „gesamte Bildungswesen und seine Reformen im Kontext von Staat und Gesellschaft einschließlich der außerschulischen Bildungsprozesse. Wie weit oder eng aber auch die Grenzen der Bildungsforschung gezogen [würden], es sollte nur dann von Bildungsforschung gesprochen werden, wenn die zu lösende Aufgabe, die Gegenstand der Forschung ist, theoretisch oder empirisch auf Bildungsprozesse (Lehr-, Lern-, Sozialisations- und Erziehungsprozesse), deren organisatorische und ökonomische Voraussetzungen oder Reform bezogen“ sei (Deutscher Bildungsrat 1974: 23). Entscheidend für die Ausbildung und Entwicklung der neuen Forschungsrichtung war das bildungspolitische Interesse an wissenschaftlicher Forschung, das jedoch in den 1980er Jahren mit der politischen 19 Dossier Kontroversen geschuldeten Stagnation der Reformen im schulischen und vorschulischen Bereich deutlich nachließ. Dies änderte sich mit der Veröffentlichung der Ergebnisse der ersten PISA - Untersuchung, an der Deutschland teilgenommen und deren - auch medial gut kommunizierte - Ergebnisse erneut eine intensive Diskussion über die Probleme im deutschen Bildungssystem und ein erneutes Interesse der Bildungspolitik an einer „Expertise für die Messung von Bildungsergebnissen [...], mit der man die Qualität von Bildungsorganisationen und Bildungssystemen überwachen und entsprechende Rückmeldesysteme aufbauen kann“ (Bellmann 2015: 44), auslöste. Dieses Interesse zeigte sich in der Bereitstellung von erheblichen personellen und finanziellen Ressourcen: Professuren, Geld für Forschungsförderung (vor allem für interresp. multidisziplinäre Forschungsverbünde) oder auch für den Ausbau oder die Einrichtung von außeruniversitären Forschungsinstituten. Die bereitgestellten und die z. T. auch inneruniversitär umgewidmeten Stellen konnten nur zu einem kleinen Teil aus der Erziehungswissenschaft besetzt werden, vor allem weil „für diesen Typ von Forschung Qualifikationen gefordert [waren], die in der Erziehungswissenschaft nur bedingt gegeben waren, so dass der „Bedarf aus Nachbardisziplinen […], allen voran aus der Psychologie“ gedeckt worden ist (Bellmann 2015: 45sq.). 11 Das zentrale Stichwort ist ‚Steuerung‘, und seitens verschiedener Vertreter der Erziehungswissenschaft wird kritisiert, dass sich über das schon immer gegebene „politische Interesse an der Erziehungswissenschaft […], mit der die Disziplin rechnen durfte und die sie groß und stark gemacht“ habe, hinaus, sich mit der Entwicklung der Empirischen Bildungsforschung „gegenwärtig Veränderungen im Modus, in dem erziehungswissenschaftliches Wissen wirksam wird“, zeigten. Denn die „Produktion wissenschaftlichen Wissens [sei] nicht mehr nur - wie im technokratischen Modell - Voraussetzung für darauf basierende politische Steuerungsmaßnahmen“, sondern die „Produktion und Rückmeldung wissenschaftlichen Wissens [sei] vielmehr selbst schon eine steuerungswirksame Maßnahme“, insofern „[i]m Rahmen von ‚data-driven reforms‘ […] Daten und Verfahren der Messung, des Monitorings und der Evaluation zentrale Modi einer hypertechnokratischen Steuerung durch Information“ seien. Damit rückten „Erziehungswissenschaft und Bildungsforschung […] noch näher an die Bildungspolitik heran“ und würden „Teil eines sich etablierenden Systems der ‚Evidenzproduktion‘, dessen eindeutige Zuordnung zur Politik oder zur Wissenschaft Schwierigkeiten“ bereite und gleichzeitig zur Entpolitisierung der Erziehungswissenschaft beitrage. Ein Zeichen für die Entpolitisierung sei z. B., dass Teile der Erziehungswissenschaft „zwar von den neuen Formen struktureller Kopplung mit der Bildungspolitik“ profitierten, „diese aber nur unzureichend reflektier[t]en oder gar selbst zum Gegenstand der Forschung“ machten. Diese Entpolitisierung der Wissenschaft bedeute, dass die „politischen Funktionszusammenhänge [der] Evidenzproduktion nur unzureichend durchschaut“ würden (alle Zitate aus Bellmann 2015: 46sq.). Außerdem könnte auch, sofern die außeruniversitäre Forschung weiterhin in dem Umfang gestärkt werde wie in jüngster Zeit, die Einheit von Forschung und Lehre, die - wenn auch manchmal nur schwer zu realisieren - für 20 Dossier die Universität gilt, endgültig gefährdet sein mit der Folge, dass die Erziehungswissenschaft an den Universitäten zu einem reinen Lehrfach zusammenschmelzen könnte bzw. nur noch die Leitdisziplin im Kontext der Erziehungswissenschaften (Plural! ) bilde (siehe oben). Die Spannung zwischen Erziehungswissenschaft und der Forschungsrichtung empirischer Bildungsforschung hat u. a. zu professionspolitischen Konsequenzen geführt. 2012 erfolgte die bereits erwähnte Gründung einer eigenen wissenschaftlichen Gesellschaft, der Gesellschaft für Empirische Bildungsforschung (GEBF), eine Gründung, die nicht nur, aber vorrangig von den Wissenschaftler/ innen betrieben worden ist, die an den außeruniversitären Forschungsinstituten arbeiten. Seitens der Erziehungswissenschaft wurde die Gründung der GEBF als „konkurrenzgeleitete Ausgründung“ kritisiert, die weniger zur Klärung wissenschaftlicher Profile und Fragen beitrage als vielmehr von dem Interesse geleitet sei, sich den Zugang zu Ressourcen und bildungswie forschungspolitischen Einfluss zu sichern (Terhart 2013: 28), zumindest einen entscheidenden Punkt trifft, lässt sich dem auf der Website der GEBF veröffentlichten Aufgabenkatalog entnehmen: U. a. werden dort als Aufgaben der GEBF die „Sicherung und Erweiterung der Empirischen Bildungsforschung an Hochschulen, in Forschungsinstituten und sonstigen wissenschaftlichen Einrichtungen“ und „die Benennung von Sachverständigen sowie Gutachterinnen und Gutachtern im Rahmen von Peer Review- und Evaluationsverfahren“ genannt. Die mit der GEBF verbundene Empirische Bildungsforschung tritt mit dem Anspruch auf, mit ihrem Forschungsparadigma, ihrer interdisziplinären und internationalen Vernetzung für die Neuorientierung der Erziehungswissenschaft in der globalisierten Welt zu stehen (cf. Köller 2014). Sie sei „in diesem Sinne […] ein interdisziplinäres Vorhaben von hoher gesellschaftlicher Relevanz“ unter Beteiligung vieler Disziplinen, explizit genannt werden Psychologie, Soziologie, Erziehungswissenschaft, Ökonomie, Fachdidaktiken und Neurowissenschaften (ibid.: 103). Abgesehen von „Teilen der Erziehungswissenschaft und der Fachdidaktiken“ befänden sich „heute unter dem Dach der Bildungsforschung Disziplinen mit stark sozial- und naturwissenschaftlicher Tradition“, die sich dem wissenschaftstheoretischen Verständnis des Kritischen Rationalismus verpflichtet fühlten. Sie verbinde der Anspruch, „ihre Modelle bzw. die aus Theorien abgeleiteten Hypothesen in empirischen Untersuchungen - seien sie quantitativer oder qualitativer Natur - scheitern zu lassen“. Ziel sei eine „Entideologisierung der Pädagogik“ (ibid.: 103). Es ist allerdings nicht immer klar, was unter ‚Fachdidaktiken‘ verstanden und vor allem wie denn nun der ‚Grenzverlauf‘ zwischen Erziehungswissenschaft und Empirischer Bildungsforschung gedacht wird. Denn viele der nachzulesenden Definitionen bleiben unscharf, z. B. wenn es heißt, dass die Empirische (quantitative wie qualitative) Bildungsforschung „Voraussetzungen, Prozesse und Ergebnisse von Bildung über die Lebensspanne“ untersuche und Forschungsgegenstand „Bildungsprozesse innerhalb von typischen Bildungseinrichtungen wie Kindergarten, Schule, Hochschule oder Weiterbildung“ untersuche ebenso wie außerschulische Lernorte (Website 21 Dossier des Susanne-Klatten-Stiftungslehrstuhls für Empirische Bildungsforschung, TU München: http: / / www.ebf.edu.tum.de/ home [5.12.2016]; Hervorh. im Orig.). In vielen Punkten trifft die Definition durchaus auch auf die Erziehungswissenschaft zu, so wie sie sich seit den 1960er Jahren intradisziplinär entwickelt bzw. ausdifferenziert hat. Dies gilt auch für den Satz, dass es das „übergeordnete Ziel der Empirischen Bildungsforschung“ sei, „die Bildungswirklichkeit (besser) zu verstehen und (weiter) zu entwickeln“ (ibid.). Interessanter wird es bei der Feststellung, dass die „Ansätze der empirischen Bildungsforschung meist disziplinübergreifend“ und die Forschung interdisziplinär und komparativ sei. Interdisziplinär und komparativ zu arbeiten würde die Erziehungswissenschaft insgesamt nicht für sich beanspruchen, es ist ihr aber nicht fremd und für manche ihrer Teildisziplinen sogar konstitutiv: interdisziplinär arbeitet z. B. die Geschlechterforschung oder die Interkulturelle Pädagogik und komparativ explizit die International Vergleichende Erziehungswissenschaft. 5. Zum Abschluss Schon aufgrund ihrer Geschichte, aber auch gegenwärtig ist die Erziehungswissenschaft ein disziplinäres Feld ‚in Bewegung‘. Sie hat sich aus einer multidisziplinären Konstellation seit dem 18. Jahrhundert entwickelt, zunächst mit deutlichem Schwerpunkt in den Bereichen Kindheit und Jugend, Schule und Lehramtsausbildung. Ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat sie sich erfolgreich an den Universitäten und (Pädagogischen) Hochschulen etabliert und ihr Gegenstandsfeld deutlich erweitert wie auch intradisziplinär verschiedentlich neu strukturiert. Sie hat zahlreiche Möglichkeiten der innerwissenschaftlichen Kommunikation wie der Kommunikation nach außen geschaffen: vielfältige Publikationsmöglichkeiten, öffentliche Auftritte in Gestalt von Kongressen und Tagungen und die Bildung einer eigenen Fachgesellschaft, die die intradisziplinäre Ausdifferenzierung spiegelt, aber - wie die Geschichte der DGfE zeigt - auch stets in Bewegung ist. Sie bildet ihren eigenen Nachwuchs in einem breit gefächerten Studienangebot für unterschiedliche pädagogische Arbeitsfelder aus. In allen diesen Entwicklungen spielen Interdisziplinarität wie Multidisziplinarität ebenso eine Rolle wie Disziplinverbindungen, z. B. die sogen. Bindestrich- oder Adjektiv-Pädagogiken wie etwa Wirtschaftspädagogik, psychoanalytische Pädagogik, Pädagogische Psychologie, Ethnopädagogik usw. Mit der Empirischen Bildungsforschung ist eine neue Forschungsrichtung hinzugekommen, die sich seit Kurzem professionspolitisch durch die Gründung einer eigenen Fachgesellschaft von der Erziehungswissenschaft distanziert. Sie definiert sich explizit als interdisziplinär, doch bei genauerem Hinschauen zeigt sich, dass sie unter ‚interdisziplinär‘ das versteht, was im vorliegenden Artikel unter ‚multidisziplinär‘ gefasst wird. Unklar bleibt auch, ob man überhaupt von einer neuen Disziplin sprechen kann. Denn die Gründung einer eigenständigen Fachgesellschaft ist zunächst nicht mehr als ein Anzeichen für den Wunsch nach einer eigenständigen Professionspolitik in der Konkurrenz um Ressourcen und Einfluss. 22 Dossier Sieht man von den Auseinandersetzungen um die Empirische Bildungsforschung ab, so kann die mit dem Titel gestellte Frage - „Erziehungswissenschaft in Deutschland - ein inter- oder multidisziplinäres Feld? “ - positiv beantwortet werden: Die Erziehungswissenschaft versteht sich zum einen als eigenständige Disziplin mit unscharfen Grenzen und vielfältigen Bezügen zu anderen Disziplinen. Zum anderen ist sie in Forschung und Lehre - je nach Fragestellung - interdisziplinär ausgerichtet und im Sinne der hier vertretenen Definition von ‚Multidisziplinarität‘ ist sie an multidisziplinären Zusammenschlüssen, z. B. im Rahmen von Studienangeboten oder multidisziplinär organisierten Forschungsprojekten, beteiligt. Berg, Christa / Herrlitz, Hans-Georg / Horn, Klaus-Peter, Kleine Geschichte der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft. Eine Fachgesellschaft zwischen Wissenschaft und Politik, Wiesbaden, VS Verlag für Sozialwissenschaften (Schriftenreihe der DGfE), 2004. Bellmann, Johannes, „Symptome der gleichzeitigen Politisierung und Entpolitisierung der Erziehungswissenschaft im Kontext datengetriebener Steuerung“, in: Erziehungswissenschaft. Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGfE), 50, 2015, 45-54. Brezinka, Wolfgang, Pädagogik in Österreich. Die Geschichte des Faches an den Universitäten vom 18. bis zum 21. Jahrhundert, 4 Bde, Klagenfurt, VÖAW, 2003-2014. Deutscher Bildungsrat, Empfehlungen der Bildungskommission. Zu Neuordnung der Sekundarstufe II, 38. Sitzung der Bildungskommission, 13./ 14.02.74 in Bonn, Stuttgart 1974. Dubielzig, Frank / Schaltegger, Stefan: „Methoden transdisziplinärer Forschung und Lehre. 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Im Folgenden ist der Einfachheit halber nur von ‚Deutschland‘ die Rede, auch wenn die im historischen Abschnitt angesprochenen Entwicklungen nicht in allen Staaten gleichermaßen stattgefunden haben. Die Entwicklung der Erziehungswissenschaft im deutschsprachigen Raum, d. h. unter Einbezug der deutschsprachigen Schweiz und Österreichs wird hier nicht berücksichtigt; Auskunft hierüber gibt u. a. die vierbändige Darstellung von Wolfgang Brezinka (erschienen 2000 bis 2014) und für die Schweiz Hofstetter/ Schneuwly (2010; 2011). 3 Auf die Ausnahmen, die mehrheitlich auch nicht für die Disziplin, sondern für ein multidisziplinäres Studienangebot stehen, gehe ich noch später ein. 4 Die Diskussion über Pluri-, Multi-, Inter- oder auch Transdisziplinariät wird derzeit in Bezug auf neue Disziplinkonzepte, zum Beispiel in Bezug auf die Kulturwissenschaft(en), die Kommunikations- und Medienforschung oder die Sozialwissenschaften diskutiert, und sie spielt eine Rolle in der Auseinandersetzung zwischen Empirischer Bildungsforschung und Erziehungswissenschaft. Auffällig ist, dass die Definitionen dieser verschiedenen Formen der Disziplinstrukturen und -kontakte zum Teil deutlich voneinander abweichen. Dies kann hier nicht weiter behandelt werden; in den folgenden Ausführungen orientiere ich mich weitgehend an den mit Bezug auf die Sozialwissenschaften vorgeschlagenen Definitionen von Dubielzik/ Schaltegger 2008. 5 Letztlich ist es in modernisierter und ggf. erweiterter Form das, was früher an den Pädagogischen Hochschulen in der Ausbildung der Pflichtschullehrkräfte unter ‚Grundwissenschaften‘ und an den Universitäten in der Ausbildung der Gymnasiallehrkräfte unter ‚Philosophicum‘ firmierte. 6 Hier wirkt sich die Tatsache aus, dass die Bildungspolitik (Wissenschaftspolitik) Sache der deutschen Staaten war, so dass die Entwicklung der Pädagogik als akademischer Disziplin 24 Dossier je nach Gliedstaat unterschiedlich verlaufen ist. Die Stellung der Pädagogik hing insbesondere davon ab, ob die Ausbildung der Lehrer insgesamt oder nur die der Gymnasiallehrkräfte an den Universitäten stattfand. Im letzteren Fall, so z. B. in Preußen, war die Pädagogik vor allem an den Institutionen zur Ausbildung der Volksschullehrkräfte präsent (siehe auch weiter unten), an den Universitäten hingegen nur im ‚Kleinformat‘ unter dem Dach der Philosophischen Fakultät. Die Gründung eines eigenen Instituts (Seminars) war sogar dann eine Streit- und Machtfrage, wenn es nur eine Professur für Pädagogik gab. 1807 gab es z. B. an der Universität Heidelberg - damals gehörte Heidelberg zum Großherzogtum Baden - eine Pädagogikprofessur, und der Inhaber gründete das ‚Philologisch- Pädagogische Seminar‘. 1837, nach dem Tod des Lehrstuhlinhabers, wurde das Seminar aufgelöst. Die pädagogische Ausbildung der Lehrer und Pfarrer erfolgte (wieder) durch Philologen und Theologen. Als 1865/ 6 Karl Volkmar Stoy als Honorarprofessor für Pädagogik berufen wurde, wurde ihm die Wiedereinrichtung des Pädagogischen Seminars verweigert. Er verließ 1874 Heidelberg. 7 Die konfessionelle Bindung eines Teils des Bildungssystems spiegelt sich in den ‚Hilfsmitteln‘ der Disziplin, z. B. in den im 19. und frühen 20. Jahrhundert erschienenen Enzyklopädien: aus protestantischer Sicht etwa die Encyklopädie des gesammten Erziehungs- und Unterrichtswesens von Karl Schmidt (11 Bde, 1859-1878) oder das Pädagogische Lexikon, hg. von Ernst Schwartz (4 Bde. 1927-1930) oder aus katholischer Perspektive das Lexikon der Pädagogik, hg. von Ernst M. Roloff (5 Bde., 1913-1917). 8 Schmidt-Herta/ Tippelt beschreiben die Entwicklung anhand des von der DGfE seit 2000 regelmäßig herausgegebenen Datenreports Erziehungswissenschaft. Dieser informiert über die Entwicklung in den Bereichen Personalstellen, Drittmittel, Studiengänge und Standorte, Studierende, Studienabschlüsse, wissenschaftlicher Nachwuchs, Geschlechterverhältnisse usw. 9 Für eine ausführliche Darstellung der Empirischen Bildungsforschung aus Sicht ihrer Vertreter/ innen cf. Reinders/ Ditton/ Gräsel/ Gniewosz 2011 und 2015. 10 In der Zeit wurde die ‚Empirische Wende‘ vielfach mit dem sogenannten Sputnikschock in Verbindung gebracht. Die Tatsache, dass es der Sowjetunion 1957 (zur Zeit des Kalten Krieges) gelungen war, den ersten künstlichen Erdsatelliten erfolgreich zu starten, wurde in den USA und in Westeuropa bzw. in der Bundesrepublik Deutschland als Bedrohung wie auch als Zeichen der wissenschaftlichen Überlegenheit des sowjetischen Bildungssystems gewertet und als Zeichen dafür, dass die westliche Schule zu viele Kinder und Jugendliche (insbesondere Kinder aus sog. bildungsfernen Schichten und Mädchen) aufgrund der hohen Selektivität des jeweiligen Bildungssystems und der mangelnden vorschulischen Förderung nicht hinreichend unterstütze. 11 Unter Bezug auf den Datenreport Erziehungswissenschaft argumentieren Schmidt-Hertha und Tippelt (2014) etwas vorsichtiger. Auch sie konstatieren zwar, dass zwischen 2000 und 2010 sehr viele (107) Stellen für Professuren in Empirischer Bildungsforschung zu Lasten anderer erziehungswissenschaftlicher Teildisziplinen ausgeschrieben worden seien, ob jedoch für diese Stellen „eine grundsätzlich veränderte Rekrutierung aus anderen Fächern“ erfolgt sei, lasse sich den statistischen Daten nicht entnehmen. Zudem seien „in der Erziehungswissenschaft […] multidisziplinäre Studienwege nicht unüblich“ (Schmidt-Hertha/ Tippelt 2014: 175).