eJournals lendemains 32/128

lendemains
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Narr Verlag Tübingen
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2007
32128

Lebensform und Narrative Form

2007
Pablo Valdivia Orozco
ldm321280109
109 Pablo Valdivia Orozco Lebensform und Narrative Form: Zur Epistemologie des Vollzugs und zum Lebensbegriff der Literaturwissenschaften Wie deutlich es Mathematik belegt, daß die gänzliche Elimination der Darstellungsproblematik, als welche jede streng sachgemäße Didaktik sich gibt, das Signum echter Erkenntnis ist, gleich bündig stellt sich ihr Verzicht auf den Bereich der Wahrheit, den die Sprachen meinen, dar. Was an den philosophischen Entwürfen Methode ist, das geht nicht auf in ihrer didaktischen Einrichtung. Und dies besagt nichts anderes, als daß ihnen eine Esoterik eignet, die abzulegen sie nicht vermögen, die zu verleugnen ihnen untersagt ist, die zu rühmen sie richten würde. Walter Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels Nicht was wir gelebt haben, ist das Leben, sondern das, was wir erinnern und wie wir es erinnern, um davon zu erzählen. García Márquez: Leben, um davon zu erzählen Leben und/ oder Erzählen Die enge Beziehung, die das Leben und (s)eine Erzählung unterhalten, ist zweifelsohne ein Allgemeinplatz. Nicht nur die Auto/ Biographieforschung hat uns überzeugend davon in Kenntnis gesetzt, dass Narrationen ein unverzichtbares Instrument sowohl bei der Individualgenese wie auch für die Erschließung, Strukturierung und Sinngebung von biographischem Wissen, also: Lebenswissen sind. In eine ähnliche Richtung stößt die aktuelle Gedächtnisforschung, wenn sie auf das für Lebenserzählungen unentbehrliche Episodische Gedächtnis im Sinne eines dynamischen Lebenswissensspeichers hinweist, dessen Effizienz sich in den situativ sich anpassenden Selektions-, Ordnungs- und Figurierungsleistungen zeigt. Eine stete und rückkopplungsreiche Aktivierung von synthetisierenden, selektierenden und wertenden Kriterien der raum-zeitlichen (Ein-)Ordnung des erinnernden Ichs schützt uns vor der asozialen Tragik von Borges’ Gedächtnismenschen Funes, der nichts weiter als einzelne Momente und Aufnahmen zu erinnern weiß. Auch wenn diese Kriterien nun situativ, historisch und kulturell kontingent sind, sind sie nichtsdestoweniger unverzichtbar, weil erst so ein Sprechen und Urteilen über ein bestimmtes, geführtes Leben und somit auch ein soziales Ich und Handeln zuallererst möglich wird. Der Mensch ist deshalb in dem Maße ein politisches Tier wie er ein sprechendes ist, das seine Sprache zum (sich) Formen, zum (sich) Erzählen zu nutzen weiß. Vor diesem Hintergrund kommt der Fähigkeit zur nachträglichen Formung von Leben mittels Erzählungen eine geradezu vitale, lebenssi- 110 chernde Funktion zu. Der Zusammenhang von Leben und Erzählung scheint für die Lebensform Mensch ein ganz natürlicher und auch alternativloser, da episodische Formen gleichzeitig zu Bedingung, Mittler wie auch Produzenten von jenem werden, was sich im Leben von einem bestimmten Leben sagen und wissen lässt. Jedoch lässt sich dieser Zusammenhang auch als Begrenzung problematisieren, gerade wenn er im Kontext Lebenswissen diskutiert wird. Die narrative Plurifunktionalität ist nämlich nicht ohne Spannung. Wie es das Beispiel der Autobiographie belegt, sind Narrationen stets an eine bestimmte Medialität und Gattung gebunden, welche eine Figurierung (voraus-)setzen, welche sich dem Leben gegenüber durchaus indifferent verhalten können. So hat insbesondere die feministisch und literaturwissenschaftlich ausgerichtete Autobiographieforschung die Mächtigkeit der Lebens-Schrift (life-writing) einerseits als ein Gattungs-Dispositiv von normativen Lebensformen wie auch andererseits als eine das geschlossene Ich oder gar das Leben gefährdende Sphäre der experimentellen Eigenlogik thematisiert. Das Leben wird im Akt der Niederschrift letztlich zum Appendix des Schreibens und sieht sich mit der Aporie „nachgeholter Ursprünglichkeit“ 1 konfrontiert, welche - scheinbar - nur symbolisch-diskursiv und das meint: den Gattungsdispositiven gehorchend sich „bändigen“ lassen 2 oder aber in einer vollständigen Über- und Aufgabe des Lebens an die Schrift aufgelöst werden kann. Die Gleichung Narration=Leben fordert also so oder so einen hohen Preis, der gerade das kassiert, worum es eigentlich ging: das Leben. Damit entzieht es sich seiner Niederschrift und wird als „Reales“ zum eigentlich Unverfügbaren. Dieses Panorama mag einer der Gründe dafür sein, weshalb es Literaturgeschichte gibt und weshalb insbesondere das literarische autobiographische Schreiben textliche Strategien und Darstellungsverfahren entwickelt hat, welche, wenn nicht das Leben selbst, so doch insofern lebendig sind, als sie nicht nur andere Formen erproben, sondern ebenso geronnene Formen entstellen oder resemantisieren, ohne jeden Anspruch auf Relevanz aufgeben zu müssen. Literarische Praktiken wären somit weder als bloße Entäußerung hegemonialer Strukturen noch als semiotisch-neurotische Zeichenlogik angemessen beschrieben. Denn die doppelte Leistung von Literatur als Vollzug dieser signifikanten Praxis bestünde genau darin, dass das Symbolische „[...] nur pulverisiert wird, um dann in einen neuen Apparat überführt zu werden.“ 3 Diese Überführung schließlich ist nach Kristeva „genau das, was den Text als signifikante Praxis vom neurotischen Dis- 1 Carola Hilmes: Das inventarische und das inventorische Ich. Grenzfälle des Autobiographischen, Heidelberg, Carl Winter, 2000, 20. 2 Foucaults Arbeit vor Augen mag es kein Zufall sein, dass von Foucault nur wenig nennenswert Ausgearbeitetes zur Literatur gibt. Diese als produktive Praxis konzipiert, die gerade kein Wahnsinn ist, steht zwischen den Polen seines Hauptinteresses: Diskursive Ordnung/ Bändigung und der Ausschluss des Wahnsinns. 3 Julia Kristeva: Die Revolution der poetischen Sprache, Frankfurt/ M., Suhrkamp, 2005 [1974], 60. 111 kurs unterscheidet.“ 4 Im literarischen Text bzw. der narrativen Praxis wäre es somit möglich, dass „[...] das Subjekt semiotisch und symbolisch ist“, 5 sodass diese Sinnproduktion genau dann einem produktiven Handeln gleichkommt, wenn dieses Signifkationspraxis im Falle einer nicht restlos determinierten oder deduzierbaren Performanz einen substantiellen Bezug zum Leben und im Leben stehend unterhalten kann. Kurzum: Wenn Narrationen zwischen den Polen der symbolischen Disziplinierung und der semiotischen Neurose eine dritte Position signifikanter Praxis einnehmen können, in der sich Leben und Erzählung/ Text als produktive Praxis treffen und eben nicht allenfalls lebensfeindlich entsprechen müssen, dann gilt es im Folgenden, die Bedingungen dieses produktiven Prozesses herauszuarbeiten. Nicht umsonst hat Roland Barthes von der Narration behauptet, sie schere „sich nicht um gute oder schlechte Literatur: sie ist international, transhistorisch, transkulturell, und damit einfach da, so wie das Leben.“ 6 Nun ist es sicherlich nicht der Fall, dass dieses Einfach-Da-Sein einem ebenso einfachen Sein geschuldet wäre. Vielmehr wollen wir diese von Barthes suggerierte Entsprechung als einen Hinweis darauf nehmen, inwiefern die prozessuale und durchaus komplexe Dynamik von Narrationen auch anderen Formen von Vollzugswissen unterstellt werden kann, namentlich dem Lebenswissen. Mit anderen Worten: Ist eine Kongruenz von Leben und Erzählung lediglich ein spezifischer narrativer Aspekt oder verrät uns diese Kongruenz auch etwas über etwas, was ich eine Epistemologie des Vollzugs nennen möchte? Wäre dem so, ließe sich hier nicht nur ein Beitrag zur Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft, sondern ebenso eine Konturierung von jenem leisten, was Ottmar Ette den „Lebensbegriff der Literaturwissenschaften“ 7 genannt hat; ein Lebensbegriff, der das Leben und sein Wissen als produktive Praxis konzipiert und weniger in Termini der Not(wendigkeit), Funktion, Determination oder Lebenserhaltung. Denn dass ein immerwährendes Einfach-Da-Sein überhaupt möglich ist, würde dann weniger die stete Realisierung eines Programms erfordern als einen immerwährend zu leistenden Handlungsvollzug. 8 Leben, um zu erzählen Genau diese Spannung zwischen Leben und Erzählung evoziert der Titel von García Márquez’ Autobiographie Vivir para contarla mit einer schwer zu übersetzenden 4 Ibid. 5 Julia Kristeva: Op. cit. 35. 6 Roland Barthes: Einführung in die strukturale Analyse von Erzählungen, in: ders.: Das semiologische Abenteuer, Frankfurt/ M., Suhrkamp, 1988 [1966], 102. 7 Ottmar Ette: „Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft Eine Programmschrift im Jahr der Geisteswissenschaften“, in: lendemains, 125, 2007, 32. 8 Hannah Arendt: “Freiheit und Politik”, in: dies.: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Köln, Piper, 2000. 112 Zweideutigkeit. Eine der möglichen Interpretationen liefert die deutsche Übersetzung: „Leben, um davon zu erzählen“. In dieser Deutung wird suggeriert, dass erst gelebt worden ist, um anschließend von genau diesem gelebten Leben zu erzählen. Die Erzählung folgt diesem gelebten Leben zeitlich und logisch als Rückblick und ist in ihrer Manifestation durch dieses Leben notwendigerweise strukturiert. Das Leben existiert so zwar unabhängig von seiner narrativen Form. Wie das finale „Um zu“ jedoch nahe legt, findet es seine zweckhafte Vollendung erst in der Erzählung. Es hört auf, ephemere Erlebnismenge zu sein und wird manifeste Form. Erst dank der Erzählung also können wir uns zum Leben verhalten, dem Leben kann ein Zweck und auch eine Gerichtetheit unterstellt werden. Eine andere Lesart, die der weitere Verlauf des Textes durch seine offen zutage tretenden intertextuellen Bezüge zu literarischen Werken des Nobelpreisträgers nahelegt, kehrt dieses Verhältnis um: In dieser Lesart steht das Leben im Dienste der Erzählung: „para“ ist hier somit nicht als finales „Um zu“ zu lesen, sondern erhält die Färbung der Präposition „Für“: „Ein Leben für das Erzählen“ könnte eine in diese Richtung interpretierende Übersetzung lauten. Statt seiner Erzählung gegenüber zeitlich und logisch vorrangig zu sein, wird das Leben zum Vorwand der Erzählung und des Erzählens überhaupt. Die Erzählung ist es somit, welche sich durch das Leben realisiert und manifestiert. Die Erzählung benötigt das Leben somit lediglich als explizierenden Träger. Diese Zweideutigkeit macht sich nicht nur an dem Wort „para“ fest. Sie lässt sich ebenso am Objektpronomen ausführen: „Contarla“ heißt so viel wie „sie zu erzählen“. Die weibliche Form kann hier das im Spanischen weibliche Leben meinen („contar la vida“) und würde dann die erste Lesart - das Leben erzählen - favorisieren. Ebenso aber kann das Pronomen als ein im Spanischen sehr typischer Objekt-Platzhalter fungieren. Dann wäre folgende Übersetzung treffender: „um es zu erzählen“ oder auch: „um überhaupt zu erzählen“ und somit auch die zweite Lesart zu favorisieren, da hier der logische und zeitliche Bezug zwischen Leben und Erzählung nicht mehr auszumachen ist und der Fokus auf die Praxis des Erzählens selbst gelegt wird. Eine Doppeldeutigkeit mit doppelten Verweis also, die sich ein weiteres Mal potenziert, wenn man bedenkt, dass hier die Autobiographie eines lateinamerikanischen Schriftstellers vorliegt, der wohl wie kein anderer als „Erzähler“ gerühmt worden ist, bei dem also (Über-)Leben und Erzählen über weite Strecken tatsächlich ununterscheidbar sind. Hier möchten wir diese Ununterscheidbarkeit von Referenz- und Diskurslogiken als einen Hinweis darauf lesen, dass beide Lesarten ihr Recht haben und dass ihre gleichzeitige Präsenz und ständige gegenseitige Rückkopplung nicht nur eine spielerische Laune des immer schon als Oxymoron daherkommenden Magischen Realismus ist, sondern eine entscheidende Qualität von Erzählungen überhaupt und literarischen Narrationen im Speziellen ist. Es handelt sich dabei um ein wie schon von Certeau für die Historiographie konstatiertes Moment, in dem zwei sich vorerst ausschließende Sphären notwendigerweise nicht anders als nicht-syste- 113 misch und das meint: als stiftender Handlungsvollzug gekoppelt werden können. 9 Ein zu erzählendes Leben vermag narrative Logiken deshalb ebenso zu transformieren wie Narrationen das Leben. An diesem Chiasmus gegenseitiger Durchdringung lässt sich die Performanz von Narrationen nachvollziehen und auch der damit eröffnete (Wissens-)Raum: Weder müssen sie in einem monadischen bzw. neurotischen Schriftgefängnis verharren, noch Ausdruck symbolischer Zurichtung sein. Im Vollzug einer Struktur - so meine zentrale These zum narrativen Wissen als einem dynamischen (Lebens-)Wissen - können sich produktive Sinnhorizonte des Lebens herstellen, gerade weil dieser Vollzug ein Moment der logischen Ununterscheidbarkeit ermöglicht und mit ihr ein Lebenswissen, das nicht mit möglichen Strukturlogiken zusammenfallen muss und auch nicht zusammenfallen kann, wenn wir die logische Überdetermination der Form ernst nehmen: Wenn es einen Diskurs gibt, der nicht bloß Niederschlag, sprachlicher Film oder Archiv für Strukturen ist, auch nicht Zeugenaussage eines zurückgezogenen Körpers, sondern im Gegenteil Element einer Praxis, die die Gesamtheit der unbewußten, subjektiven, gesellschaftlichen Beziehungen enthält in Form von Angriff, Aneignung, Zerstörung und Aufbau, in der Eigenschaft positiver Gewalt also, so ist es die ‘Literatur’ […].10 Eine explizit lebenswissenschaftliche Relevanz entnehme ich Kristeva, wenn sie das Denken der sinngebenden Praktiken vor folgende Wahl stellt: Entweder man schlägt sich auf die Seite „nekrophiler, unterwerfender Strukturen“, 11 welche jede sinngebende Praxis in ein Archiv der dann nur noch und immer wieder zu findenden Grundstrukturen verbannt; oder man versucht anhand einer hierfür exemplarischen und bestimmten sinngebenden Praxis, die nicht semiotischer Wahnsinn ist, nicht einem irrationalistischen Vitalismus das Wort spricht, eine dem narrativen und dem Lebenswissen gemäßere Logik zu formulieren. Eine solchen Logik würde Sinngebung nicht nur mithilfe von Strukturen, sondern „durch sie hindurch“ 12 praktizieren. Wissen als Sinngebung, so ein mögliches Fazit, kann am Beispiel Literatur unter anderem auch deshalb als produktive Praxis gedacht werden, da ihrer Materialität (also das, was Kristeva unter Text verhandelt) eine poietische Logik unterstellt werden kann, welche sie vor einer determinierenden, nekrophilen Formalisierung sichert. Letztere begreift Materialität als Grundlage einer Determination. Ohne weiter auf Kristevas Theorie der Sinngebung einzugehen, lässt sich hier ein bestimmtes, an Literatur formuliertes Paradigma festhalten, das nicht nur einen dynamischen Text- und Signifikationsbegriff ermöglicht, sondern ebenso auf einen bestimmten Lebensbegriff abzielt. Mehr noch: das, was den Einsatz des Lebens und auch die Breite von Lebenswissen ausmacht, gründet sich nämlich auf die Be- 9 Michel de Certeau: L’écriture de l’histoire, Paris, Gallimard, 1975. 10 Julia Kristeva: op. cit. 30. 11 Julia Kristeva: op. cit. 28, meine Hervorhebung. 12 Julia Kristeva: op. cit. 28, kursiv im Original. 114 hauptung einer ebenso für das Leben wie auch das poetische Wort geltenden poietischen Logik des materialen Vollzugs. Die besondere Pointe dieser „Vollzugslogik“ ist somit, dass sie der jeweiligen Praxis - unabhängig davon ob Text- oder Lebensvollzug - weder vorgängig noch wesenhaft eingeschrieben, also nicht bloße Aktualisierung bzw. Oberflächenphänomen wesenhaft unverfügbarer Strukturen und Logiken ist. Das aber heißt auch, dass der Vollzug nicht mit Performanz zusammenfällt. Performanz löst den materialen Bezug nicht auf, sondern stellt ihn in stets neue Konstellationen. Narratives und Lebenswissen sind deshalb auch mehr als implizites Wissen, sondern ebenso und vor allem: Lebensformenwissen. Durch diese materiale Angewiesenheit etabliert sich eine nicht restlos generierbare bzw. struktural zu neutralisierende Form. Produktive Form, die nicht „Archiv für Strukturen“ ist, steht sowohl als Logik des poetischen Wortes wie auch als Lebensform entworfen in einem Widerstandsverhältnis zu dem, was sich mit Agamben als das nackte Leben bezeichnen lässt. Im Vollzug bleibt nämlich offen, ob eine solche poetisch-produktive Logik des Lebens tatsächlich (über)leben machen will. Zweifelsohne macht sie Lebensformen leben, selbst wenn diese lebensbedrohlich sind, wie es das von Ottmar Ette 13 zitierte Beispiel der Juana Borrero zeigt. Borrero, die schon in ihrem Namen das Auslöschen (borrar) trägt. Doch Literatur eignet sich nicht nur als Paradigma der dynamischen Form. Der fiktive Status und dessen Selbstanzeige in moderner Literatur inszenieren explizit jenes Moment der logischen Ununterscheidbarkeit. Mithilfe von Isers Fiktionstheorie lässt sich überzeugend darlegen, dass Fiktion somit nicht die absolute Dominanz einer wie auch immer gearteten Eigen-Logik von Kunst bedeuten muss. 14 Nicht Negation anderer Logiken ist also gemeint, sondern die Emanzipation von einer vermeintlich originären Sach- und Materiallogik, die - aufgehoben, aber nicht suspendiert - in eine narrativ-poetologische Para-Logik eingegliedert wird, die relationiert statt neutralisiert. 15 Literatur ist somit auch Paradigma für das lebende also: tatsächliche Neben-, Mit-, und Gegeneinander widersprüchlicher Logiken und sich gegenseitig ausschließender Referenzbereiche. Leben, Wissen und Erzählung: Kongruenzen Einigen zentralen Aspekten dessen, was Lebenswissen als Vollzugswissen sein kann, wird eine Dynamik unterstellt, die sich mit der des Narrativen Wissens deckt. Die Dynamik der Narrativität betrifft dabei zum einen das Wissen vom Leben insofern, als sich Lebenswissen ein Vollzugswissen meint, das nie frei ist von narrativen Strukturierungs-, Relationierungs- und Produktivmomenten - eine strukturell- 13 Ottmar Ette: op. cit., 35. 14 Wolfgang Iser: Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie, Frankfurt/ M., Suhrkamp, 2002 [1991]. 15 Edouard Glissant: Poétique de la relation, Paris, Gallimard, 1999. 115 prozessuale Kongruenz also. Zum anderen kann diese Dynamik aber auch das Leben selbst betreffen, wenn es zur Narration wird und sich in dieser gar auflöst oder auch rhetorisch setzt und von dieser narrativen Setzung nicht mehr zu trennen ist - eine performative Kongruenz also. Nach der Kongruenz von Leben und Narration in Hinblick auf ein Wissen vom und auch im Leben zu fragen, macht durch die Herausstellung des Narrativen (Lebens-)Wissens bedingt eine bestimmte Setzung unumgänglich, welche erst die oben erwähnte Kongruenz von Leben und Erzählung deutlich macht: Eingenommen und unterstellt wird sowohl für ein solcherart verstandenes Lebenswissen wie auch für das Narrative Wissen eine zeitlich komplexe Doppelperspektive, welche dem Vollzugscharakter geschuldet ist: Zum einen erscheint der jeweils gegenwärtige Vollzug als überschüssige Performanz. Zum anderen wird diese provisorisch eingeholt von einer stets revidierbaren, aber dennoch sinnstiftenden und potentiell produktiven Nachträglichkeit. Diese produktive Prozessualität des Vollzugswissens halte ich für exemplarisch an Narrationen nachvollziehbar. Mit anderen Worten: Nur insofern einem bestimmten, also vollzogenen Leben sowohl ein Figurierungsbedarf als auch diese zeitliche Doppelperspektive unterstellt werden kann, kann es Wissensbereiche des Lebens geben, welche am Beispiel der Narrativität beschreibbar werden. Dadurch, dass sich die Sinnstiftung im Rhetorischen als Evidenz oder gar Identität und der Überschuss im Textlichen als plurivalent-dynamische, nie vollends transparent-präsente oder gar zum Stillstand kommende Figuration zeigt, lassen sich mit der Kongruenz von Leben und Narration zwei stets gleichzeitig gegenwärtige vitale Momente auf einer hier noch recht abstrakten Ebene benennen: Setzung und Bewegung. Poetologisch bzw. strukturalistisch Versierte werden darin ein altes Motiv der Literaturkritik erkennen: Metapher und Metonymie bzw. Paradigma und Syntagma - Modelle, welche im Folgenden gemäß einer prozessualnarrativen Logik des produktiven (Handlungs-)Vollzugs ausgearbeitet werden sollen und eben nicht einer generativ-strukturalen Logik verpflichtet sind. Setzung und Bewegung ermöglichen so erst einen Zusammenhang von Leben und Lebenswissen: das vollzogene Leben wird zum qualitativ bestimmten Leben, das im Ausdruck von sich selbst weiß bzw. sich dadurch wissbar macht und somit auch Form ist. Diese Formung - so die These - lässt sich grundsätzlich narrativ fassen und das Wissen von ihr als narratives. Es handelt sich nämlich dabei um alles andere als eine sich selbst transparente Repräsentation des Lebens - weil nur als Setzung möglich - und um alles andere als ein Verhältnis der notwendigen Entsprechung - da in Bewegung. In dem prekären Moment, da das Lebenswissen narrativ und die Narration zur Lebensform wird, kann sich das Poietische eines sich selbst gegenwärtigen Vollzugs ereignen. In diesem dichten Moment hält das Leben gewissermaßen inne und überantwortet sich einer narrativ funktionierenden Figuration, die als solche nicht eine schlichte Realisierung oder Momentaufnahme ist, sondern Sinnhorizonte und Relationen nicht nur der Narration selbst, sondern 116 auch und durch sie hindurch Relationen des jeweiligen Lebens fassbar machen kann. Wenn also die narrative Form ebenso vom jeweiligen Leben durchdrungen sein kann wie jenes sich der Figuration überantwortet hat, ist eine Unauflösbarkeit von Doppelreferenzen die Folge, welche wir anfangs diskutiert haben die und sich nicht nur auf die gleichzeitige Präsenz von Referenz und Diskurslogiken beschränkt: Hinzu kommt die doppelbödige Präsenz von verbalisierbaren und nichtverbalisierbaren Aspekten des Lebens, die sich ebenso exemplarisch an Narrationen nachvollziehen lässt: Schweigen in Figurationen ist partikular und vermag zu bedeuten. Diese strukturelle und performative Kongruenz mündet so in eine handlungstheoretische Kongruenz von Erzählen und Leben: In dem Moment nämlich, da Erzählungen und erst recht Lebenserzählungen in ihren jeweiligen Performanzen nicht nur als semiotisch-textliche Praktiken, sondern ebenso als (kommunikative) Handlungen oder auch Setzungen verstanden werden, erweisen sich die narrative Inszenierung, Figurierung und Kontextualisierung von Lebenswissen als die poietische Schnittstelle von sprachlichem und Lebenswissen. Lebenserzählungen sind deshalb immer auch Lebens-Praxis. Mit anderen Worten: Die narrative Aneignung und Performanz von Lebenswissen ist in dieser, wenn auch prekären Kongruenz, ebenso ein Lebensformenwissen: Agambens Konzept der Lebensform lässt sich vor diesem Hintergrund grundsätzlich narrativ lesen, wenn man einen Begriff von Narration voraussetzt, der sich auch deshalb dem bloßen Leben widersetzt, weil Narrationen nie nur nackte Information sind, sondern irreduzible Performanzen einer jeweils kodifizierten Materialität. Diese Potenz und vor allem das Moment der logischen Ununterscheidbarkeit als eine dem Leben gemäße komplexe Überdetermination von Materialität bzw. Form meinen somit nicht nur die Ununterscheidbarkeit von Referenz-, Diskurs- und Vollzugslogiken, sondern werden selbst zum Signum von Lebendigkeit, sodass Literatur uns tatsächlich wie das Leben scheint und so auch ein Wissen speichert, das ganz unmittelbar Lebenswissen ist - mit dem nicht unerheblichen Vorteil einer möglichen Relektüre. Dieses „Wie-das-Leben-Sein“ hängt natürlich eng mit einem Literaturbegriff zusammen, welcher selbst wiederum alles andere als selbstverständlich ist. Tatsächlich wird ein bestimmter Begriff von literarischer Autonomie vorausgesetzt, den Blumenberg als die Eigentümlichkeit des modernen Romans bezeichnet, wonach [...] der Mensch einerseits sich in seinem Selbstbewusstsein reflektiert an der Verifikation seiner schöpferischen Potenz, daß er andererseits die Abhängigkeit der Kunstwerke von seinem eigenen Können und Wollen zu verschleiern suchen muß, und zwar deshalb, weil diese Werke nur so jene unfragwürdige Selbstverständlichkeit des Nicht- 117 anders-sein-Könnens gewinnen, die sie ununterscheidbar von den Produktionen der Natur macht.16 Dieser Bedarf an einer naturalisierten Metaebene, die hier dezidiert literarische Narrationen und gerade nicht eine formale Sprache meint, begründet und qualifiziert die Philologie als Lebenswissenschaft. Denn Werke, die ununterscheidbar geworden sind von den Produktionen der Natur, lassen sich nicht kognitionswissenschaftlich als modelling oder game theory neutralisieren. Das meint: Narrationen stellen ein Wissen vom Leben bereit, welches sowohl spezifisch ist als auch insofern irreduzibel, als es in keine andere, nicht-vollzugshafte Wissensform restlos übersetzt werden kann und statt dessen mehr das Denken der durch Formen jeweils ermöglichten Konstellation zum Auftrag macht. Narratives Wissen als Vollzugswissen: Perspektiven eines „literaturwissenschaftlichen Lebensbegriffs“ Wenn im Folgenden sich auf Spezifika des Narrativen Wissens bezogen wird, dann wird dies am Beispiel Literatur diskutiert. Dies begründet sich nicht nur mit dem angekündigten philologischen Beitrag, sondern hat meiner Meinung nach auch dem Gegenstand des Narrativen Wissens geschuldete Gründe: Zwar sind viele der Aspekte wie Perspektivität auch für andere Formen des Narrativen Wissens anzunehmen. Jedoch - so die These - kann sich das Narrative als produktiver Vollzug am ehesten in Literatur äußern. Einige der Gründe hierfür wurden schon genannt: Zum einen kann das rückkoppelnde und selbstbezügliche Moment in der Bildung narrativer Sequenzen explizit sein, d.h.: die Form bzw. die poetische Funktion von Sprache werden gerade nicht von der Kommunikationsfunktion von Sprache unterdrückt. Zum anderen kann durch die Selbstanzeige des fiktionalen Charakters eine Relativierung erfolgen, welche sich auf die vermeintlichen originären Sachlogiken von diversen in Literatur aufgenommen Fremddiskursen auswirken kann. Ohne diese auszuschalten, werden sie dennoch als Elemente innerhalb einer Narration einer anderen als der originären unterstellt, nämlich einer sich erst herzustellenden narrativ-sequentiellen Logik. Das meint: Erstens: Narrationen vermitteln nicht nur etwas, sondern stellen im Vollzug auch etwas her: insbesondere Bedeutungskontexte, narrativ-sequentielle Logiken, Perspektiven und Perspektivenkonflikte und nicht zuletzt ein intertextuelles Netz, kurzum: Relationen. Ihr Wissen ist folglich deshalb nicht informationstheoretisch darstell- oder reduzierbar, weil wir es insofern mit dynamischen Wissensgegen- 16 Hans Blumenberg: „Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans“, in: Anselm Haverkamp (ed.): Hans Blumenberg. Ästhetische und Metaphorologische Schriften, Frankfurt/ M., Suhrkamp, 2001, 69, meine Hervorhebung. 118 ständen zu tun haben, als das in Narrationen vermittelte Wissen sich weder ausschließlich aus seiner Darstellung erschließt noch sich mittels eines „kontextuell relevanten Standard[s]“ 17 explizieren oder gar verifizieren ließe wie es beispielsweise kontextualistische Wissenstheorien suggerieren. Stattdessen produziert sich dieses Wissen im Vollzug der narrativen Form als Konstellation. Diesen Aspekt der Performanz einer Form hat die traditionelle Wissenstheorie selbst in ihrer kontextualistischen Fassung in dem Maße reduziert wie Performanztheorien die Frage der Form neutralisieren. Die besondere Herausforderung liegt aus wissenstheoretischer Sicht jedoch nicht nur in der plurilogischen Dynamik des Narrativen Wissens, sondern dadurch bedingt auch darin, dass das durch Narrationen gewonnene Wissen nicht auf die Produktion wahrer oder falscher Sätze zielt, sondern auf ein Wissen des Gebrauchs dieser Sätze, durch welches diese Sätze in konkrete Relationen und Kontexte stellt. So zeichnet Narratives Wissen vor allem in Literatur neben seiner Formlogik eine besondere Dynamik der (Re-)Kontextualisierung und Relationierung aus. Dieses narrative In-Bezug-Setzen selbst ist mitnichten immer kausal, wohl aber wie oben diskutiert mindestens doppelt motiviert, sodass auch schwerlich eine formale Metalogik der Bezüge formulierbar ist. Zweitens: Diese Herstellung bzw. Poiesis ist historisch und kulturell kontingent und das heißt konsequenterweise auch: Sie sind nicht aus einem scheinbar aperspektivischen und systematischen Gesamtzusammenhang heraus als narrative Brechung eines an sich zugänglichen Sachverhalts ableitbar - ein weiteres Argument gegen die sich stets aperspektivisch gebende Übersetzbarkeit Narrativen Wissens in Information. Die spezifischen Aspekte Narrativen Wissens wie die narrativ-sequentiellen Logiken und Zusammenhänge, die Perspektivität, die tatsächlichen bzw. ermöglichten Kon- und Intertexte sind wie auch eine daran anschließende Funktionszuschreibung demnach nicht der (literarischen) Narration unveränderliche und strukturell inhärente Qualitäten. Vielmehr formieren sich diese Elemente Narrativen Wissens im Vollzug. Der konkrete Vollzug bestimmt somit den diskursiven Status der Narration sowie das Verhältnis von Form und Semantik. Genau diese immer auch konkreten Relationierungen machen Narrationen so mobil und anschlussfähig und einfach-da-seiend wie das Leben. Vor dem Hintergrund einer solchen Bestimmung des Narrativen Wissens scheint es mir sinnvoll, das Wissen der Narrationen und ihre Dynamik im Sinne Certeaus als kulturelle Praktiken zu beschreiben, die einer „wildernden“, 18 epistemischen und strukturellen Gelegenheits-Logik (metis) folgen. Praktiken und Narrationen teilen diesbezüglich, dass sie gleichwohl innerhalb bestimmter Strukturen und Systeme operierend, adäquater als poietische Prozesse oder auch Handlungen denn als systemische Realisierungen beschrieben werden können. Das heißt: Narrationen wie Praktiken sind nicht-nur-systemische „Kombinationsmöglichkeiten von 17 Nikola Kompa: Wissen und Kontext, Paderborn, Mentis, 2001, 157. 18 Michel de Certeau: Die Kunst des Handelns, Berlin, Merve, 1988 [1980], 213. 119 Handlungsweisen“. 19 Im Gebrauch/ Vollzug der Form nämlich werden die strukturalen und systemischen Logiken, gewissermaßen die Überlebensfunktionen, von einer anderen, einer gelebten Logik unterwandert, ohne dass diese andere Logik selbst außerhalb des Vollzugs explizier- oder bestimmbar sein muss: eine Unterwanderung also auch deshalb, weil der Gebrauch/ Vollzug auch im Rückblick nicht von einer Ur- oder Superstruktur ableitbar ist. Die besondere Dynamik wird somit nur dann beschreibbar, wenn man beide, immer aufeinander bezogenen Aspekte dieser Poiesis im Blick behält: sowohl die (para-)syntagmatischen Kombinationsmöglichkeiten (bzw. die narrativ-sequentiellen Logiken des konkreten Vollzugs innerhalb eines bestimmten Kontextes) wie auch die paradigmatischen Handlungsweisen selbst. Anhand dieses Zusammenhangs wird einsichtig, weshalb Certeau mit seiner Theorie der Praktiken und Erzählungen auch gleichzeitig eine des Wissens liefert, welche die Narrativität eben nicht bloß auf das „Gemurmel der Gesellschaften“ 20 beschränkt, sondern sie aufgrund ihrer interaktiv-prozessualen und hochgradig reflexiven Dynamik zu einer „notwendige[n] Funktion“ 21 auch wissenschaftlichen Wissens und des konkreten Gebrauchs von Wissen macht. Das hat weit reichende Folgen für das epistemische Niveau der Narration: Sie kann nicht bloß (geistes- oder sozial)wissenschaftliches Rohmaterial sein, weil sie „einer anderen sprachlichen als der diskursiven Logik“ 22 folgt. Denn das würde bloß zwei Szenarien erlauben: Die (nekrophile) Transformation in disziplinäres Wissen oder andernfalls „zu schweigen und sich der Stimme zu enthalten“. 23 Stattdessen gilt es, sich auf eine „andere Logik als die der Wissenschaften“ 24 einzulassen und die spezifisch narrativen Aspekte und die spezifisch narrativen Logiken im Blick zu behalten, ohne in eine echte Opposition geraten zu müssen: Denn weder setzen Elemente narrativer Wissensformen und Logiken diskursive Wissensformen vollkommen aus noch sind sie dessen genaues Gegenteil. Vielmehr implizieren sie unser diskursives Wissen, indem sie es in konkrete Beziehungen setzen und können es dadurch gleichzeitig implizit überschreiten. Narrative Darstellungsverfahren scheinen außerdem diskursives Wissen besonders dort erst zu ermöglichen und zusammenzuhalten, wo „eine epistemische Ordnung in eine andere übergeht“. 25 Mit anderen Worten: Alle Wissensbereiche, bei denen ein Mo- 19 Ibid., 12. 20 Ibid., 9. 21 Ibid., 157. 22 Julia Kristeva: „Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman“, in: Jens Ihwe (ed.): Literaturwissenschaft und Linguistik, eine Auswahl; Texte zur Theorie der Literaturwissenschaft, Band 3, Frankfurt/ M., Fischer, 1972 [1967], 345 23 Ibid., 345. 24 Ibid. 25 Jeannie Moser: „Poetologien Rhetoriken des Wissens”, in Arne Höcker, Jeannie Moser, Philippe Weber (eds.): Wissen. Erzählen. Narrative der Humanwissenschaften. Bielefeld, transcript, 2006, 12. 120 ment nicht-nur-systemischer Relationen auftritt, bedürfen narrativer Verknüpfungen, Perspektivierungen und Relationen, um als Wissensgegenstand fassbar und darstellbar zu sein. Dies gilt erst recht für das Leben. Dieses bewusste Eingeständnis einer anderen Wissensform und -repräsentation als der diskursiven hat - wie es etwa Ottmar Ette in seiner Programmschrift fordert - eine bestimmte Perspektive zur Folge, wenn das Entscheidende des Narrativen Wissens nicht begrifflich und das heißt: von seinem Vollzugs abstrahierend oder wie seit neuestem im Trend: kognitionswissenschaftlich neutralisiert werden soll. Denn Narrationen im Sinne von Praktiken, die gleichzeitig auch Theorien sind - über beispielsweise nicht-systemische oder nicht-nur-diskursiv-kausal rückführbare Wissensordnungen und okkasionelle Sinnpotenziale oder über das Aushandeln und Nebeneinander widersprüchlicher Logiken, aber auch ganz konkret über Handlungsmöglichkeiten (Certeau) oder Formen des Zusammenlebens (Ette) - können so nicht mehr „das Andere des Wissens [...] [sein], sondern [sind] eine Variante des wissenden Diskurses und eine Autorität in Sachen Theorie“. 26 Das Entscheidende dieser Varianten ist nun, dass diese (Wissens-)Theorien konkreten Vollzügen entstammen und somit nicht restlos ableitbare Varianten. Zu Lebenswissen werden sie, wenn wir das Leben als einen solchen Vollzug denken. Das meint, Narratives und Lebenswissen teilen strukturell a) eine Wiederaneignung bzw. einen (poietischen) Gebrauch (mindestens) einer Struktur, welche im Vollzug sowohl weiter besteht als auch unterwandert wird; b) dass ihre Logiken sich innerhalb (kulturell) spezifischer Raum-Zeit-Gefüge konstituieren und gleichzeitig Produzenten von Kontexten und Bedeutungsräumen sind; c), dass ihr Wissen dialogisch auf Andere(s), also auf ein ganzes Netz von Beziehungen hin entworfen und bezogen sind. Diese Prozessualität - und das mag einer der entscheidenden lebenswissenschaftlichen Beiträge der Philologien sein - setzt einen Formbegriff sowohl des Lebens als auch der Narration, der nicht mehr hinter die Effekte von Bewegung und Setzung greifen kann, d.h.: die reine narrative wie auch die reine Lebensform werden zum notwendigen und retroaktiven Effekt der vollzogenen Form. So sehr also das produktive Potential als Aushandlung mit der und durch die Form gesichert wird und so sehr sich der Vollzug jeder neutralisierenden Formalisierung gerade durch eine irreduzible Beziehung zur Form verweigern kann, so sehr ist die Form als solche nicht verfügbar. Denn Formen stehen im Leben. Das wiederum macht die Lesbarkeit der einzelnen Formvollzüge, das Denken in unterschiedlichen Konstellationen zur entscheidenden lebenswissenschaftlich-philologischen Herausforderung und Kompetenz. Diesem Anspruch werden wir kaum gerecht werden können, wenn wir „auf Bereich der Wahrheit, den die Sprachen meinen“, verzichten. 27 26 Michel de Certeau: op. cit. 157. 27 Walter Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels. Frankfurt/ M., Suhrkamp, 1978 [1928], 9. Zeitschrift für den deutsch-französischen Dialog Wer sich für Frankreich interessiert, liest Dokumente! Fordern Sie Ihr kostenloses Probeexemplar an! Die Fachzeitschrift für Frankreichforschung und deutsch-französische Beziehungen DOKUMENTE informiert alle zwei Monate über die politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklungen in Frankreich sowie über zentrale Fragen der deutsch-französischen Zusammenarbeit. Das Redaktionsprogramm umfasst politische Analysen, Berichte und Kommentare von Sachkennern und Akteuren des deutsch-französischen Netzwerkes, die Sinn und Tragweite aller größeren Veränderungen in Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur des Nachbarlandes veranschaulichen. Gesellschaft für übernationale Zusammenarbeit Redaktion DOKUMENTE Dottendorfer Straße 86 53129 Bonn Bequem bestellen: per Tel.: per Fax: per E-Mail: www.zeitschrift-dokumente.de oder im Internet unter: +49 (0) 228 92 12 93 65 +49 (0) 228 69 03 85 aboservice@guez-dokumente.org