eJournals lendemains 38/152

lendemains
0170-3803
2941-0843
Narr Verlag Tübingen
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2013
38152

Christoph Kalter: Die Entdeckung der Dritten Welt. Dekolonisierung und neue radikale Linke in Frankreich

2013
Patrick Eser
ldm381520142
142 Comptes rendus CHRISTOPH KALTER: DIE ENTDECKUNG DER DRITTEN WELT. DEKOLONI- SIERUNG UND NEUE RADIKALE LINKE IN FRANKREICH, FRANKFURT, CAM- PUS, 2011, 564 S. Christoph Kalter verfolgt in seiner Dissertation das Vorhaben, eine Begriffsgeschichte des Konzepts der ‚Dritten Welt‘, eines „Schlüsselbegriff[s] der sozialwissenschaftlichen, politischen und kulturellen Weltauslegung in der Nachkriegszeit“ (17) zu schreiben. Als Ordnungsbegriff war es seit den 1960er Jahren sehr einflussreich, bevor es in den 1990er Jahren eine rasche Entwertung erfuhr. Der Begriff wird von Kalter in enge Verbindung mit der neuen radikalen Linken in Frankreich gebracht, denn beide „entstanden nicht nur zur selben Zeit, sondern waren aufeinander bezogen“ (114). Die Studie will eine Forschungslücke schließen und zu dem über 30 Jahre lang sehr bedeutenden Begriff, der „nicht weniger als ein Welt-Bild“ (18) begründete, eine Wissenschafts-, Politik- und Kulturgeschichte vorlegen. Im Vordergrund steht dabei die grenzüberschreitende Dimension des Konzepts und der antikolonialen Praxis der radikalen Linken, die dieses seit den 1960er Jahren ins Zentrum ihrer Politik rückte. Die Untersuchung widmet sich dem Zeitraum zwischen den 1950er und den 1970er Jahren und ist eingebunden in Fragestellungen aus der neueren Kolonialismusforschung. Aus einem globalgeschichtlichen Blickwinkel sollen jenseits der Bezugsgröße der Nation alternative Raumbezüge aufgewertet und zugleich eurozentristische Perspektiven überwunden werden. Am Fall Frankreichs, das den Kalten Krieg und die Dekolonisierung „als Konflikte in seinem Inneren erlebte“ (29) und wo erstmals eine antikoloniale radikale Linke entstand, sollen Metropole und Peripherie nicht als dichotome Monaden, sondern als wechselseitig konstitutive Größen „eines gemeinsamen, aber differenzierten imperialen Raums“ (33) verstanden werden. Am Beispiel des Konzepts der ‚Dritten Welt‘ soll gezeigt werden, dass die Dekolonisation die „Welt- und Selbstbilder nicht nur der kolonisierten, sondern zugleich auch der europäischen Gesellschaften veränderte“ (35). Die historischen Voraussetzungen der Gegenstands werden in zwei Abschnitten über die Geschichte der Dritte-Welt-Idee, die sich zu einem Paradigma der Sozialwissenschaft und einflussreichen Welt-Bild entwickelte (44sqq.), sowie über die Ideologie- und Organisationsgeschichte der politischen Linken Frankreichs und deren Haltung in der kolonialen Frage (81sqq.) rekonstruiert. Nach der so genannten ‚Drillingskrise‘ 1956 (Niederschlagung des Volksaufstands in Budapest, Suezkrieg, Verschärfung des Algerienkriegs) konnte sich die neue radikale Linke links vom moskautreuen PCF und der sozialistischen SIFO als politische Alternative entwickeln. Unter ‚neue radikale Linke‘ versteht Kalter alle „intellektuellen und politischen Minderheiten zwischen 1956 und der Mitte der 1970er Jahre“, die in Abgrenzung zu den bestehenden Organisationen der Linken radikal antikolonial waren, sich als revolutionäre Linke mit globaler Perspektive verstanden und der ‚Dritten Welt‘ eine entscheidende Rolle im Prozess der Weltrevolution zuwiesen (113sq.). 143 Comptes rendus Anhand von drei Fallbeispielen wird das Wirken der radikalen Linken und ihres Dritte-Welt-Konzepts analysiert: am Beispiel der gedächtnispolitisch aufgeladenen Kritik am westlichen Kolonialismus, der Zeitschrift Partisans sowie der internationalistischen Praxis linksradikaler Organisationen. Schon in den frühen Nachkriegsjahren benutzten linke Intellektuelle die heroische französische Weltkriegsdeutung dazu, um ihre Kritik des Kolonialismus zu untermauern. Am Beispiel des Dokumentarfilms Afrique 50 (1950) von René Vautier wird gezeigt, wie das NS- Massaker in Oradour-sur-Glane zu einem transnationalen Erinnerungsort stilisiert und als Vergleichsfolie benutzt wurde, um die Militär- und Polizeieinsätze der französischen Kolonialverwaltung zu kritisieren. Die Meistererzählung der französischen Nachkriegszeit von der französischen Nation als Märtyrerin wird auf den Kopf gestellt, die Franzosen werden von „Opfern“ zu „Tätern“ (132sqq.). Noch präsenter wurde der gedächtnispolitisch argumentierende Antikolonialismus im Kontext des Algerienkriegs, als die Kolonialpraktik des französischen Staates durch Faschismus-Vorwürfe und Vergleiche mit den deutschen Tätern diffamiert wurde, während sich die „antifaschistische-antikoloniale“ Politik, die die algerische Befreiungsbewegung unterstützte, in die Tradition der Résistance stellte. Der mit NS- Vergleichen und Résistance-Bezügen diskutierte Algerienkrieg kann als das „eigentliche Gründungsereignis der neuen radikalen Linken in Frankreich“ (195) gelten, nicht zuletzt da diese Argumentation die Distanzierung von der etablierten Linken ermöglichte. Am Beispiel der 1961 gegründeten Zeitschrift Partisans, der wichtigsten linksradikalen Dritte-Welt-Zeitschrift Frankreichs, werden die Topoi und Argumentationsstrategien des Dritte-Welt-Bezugs nachgezeichnet. Partisans erschien wie auch Les damnés de la terre von Frantz Fanon im Verlag Maspero. Fanons Text begründete zusammen mit dem Vorwort von Jean-Paul Sartre eine „intellektuelle Maximalposition“ (260) im Verständnis der Dekolonisierung als dem Ende westlicher Vorherrschaft - eine Positionierung, die in den Artikeln von Partisans fortgeschrieben wurde. Die ‚Dritte Welt‘ wurde unter dem euphorischen Begriff der Kolonialrevolution ‚entdeckt‘ und die antikolonialen Bewegungen zu politischen Vorbildern. Partisans pflegte einen „kontroversen Pluralismus linker Strömungen“ (239), wobei die Distanznahme zum Parteikommunismus ein zentrales Charakteristikum war. In der ‚Dritten Welt‘ schien die radikale Linke der ersten Welt die Widersprüche des Kapitalismus in ihrer eigentlichen, dramatischen Form studieren zu können und somit zu einem besseren Verständnis der eigenen Gesellschaft zu gelangen. Am Beispiel der Zeitschrift wird aufgezeigt, wie der Diskurs über die ‚Dritte Welt‘ einen transnationalen Kommunikationsraum eröffnete, in dem qualitativ hochwertige Beiträge aus Europa wie aus den Bewegungen des Trikonts (in Partisans schrieben u. a. P. Anderson, R. Debray, A.G. Frank, C. Fuentes, J. Rancière, P. Vidal-Naquet) veröffentlicht wurden. In einer dritten Fallstudie wird die internationale Politik der neuen radikalen Linken am Beispiel des 1960 gegründeten Parti Socialiste Unifié (PSU), der eine große intellektuelle Ausstrahlungskraft entfaltete, jedoch parteipolitisch unbedeutend 144 Comptes rendus blieb, sowie des Centre Socialiste d'Études et de Documentation sur le Tiers- Monde (CEDETIM) untersucht. CEDETIM machte „praktische Politik in der, mit der und für die sogenannte Dritte Welt“ (42) und richtete sich gegen den „französischen Imperialismus“, dessen Entwicklungspolitik sich lediglich an den neokolonialen Interessen orientiere. Am Beispiel politischer Feste und antiimperialistischer Kulturtage werden schließlich die alltagskulturelle Dimension der politischen Praxis veranschaulicht und die vielgestaltige Medialität der ‚Dritte-Welt‘-Bezüge „an der Schnittstelle von Akteuren, Ideen und Handlungen als gelebtes Erfahrungswissen“ (463) untersucht. Die Betonung der kulturellen Dimension ist eine Stärke der Arbeit. Der Welt- und Selbstbezug des ‚Dritte-Welt‘-Konzepts wird hervorgehoben und dargestellt, wie es „Sinn stiftet, Deutungen ermöglicht und Handlung motiviert“ (64). Zudem wird überzeugend gezeigt, wie durch den linksradikalen ‚Dritte-Welt‘-Bezug eine transnationale Öffentlichkeit konstituiert wurde, die eine globalisierte Wissensmobilität ermöglichte: „Nicht nur als Reisende, auch als Medienproduzenten und -rezipienten waren Linksradikale also ,Antreiber‘ und ,Empfänger‘ politischer und kultureller Globalisierung“ (480). Im Lichte des ‚Dritte-Welt‘-Konzepts wurden gemeinsame Erfahrungen und politische Forderungen intersubjektiv und international kommunizierbar, das Konzept wurde zum Medium der Artikulation grenzüberschreitender Weltbilder, Selbstbilder und Zugehörigkeitsgefühle sowie globaler Handlungsverzüge. Die Dekolonisierung, der Kalte Krieg und die globalen Wirtschaftsstrukturen wurden aufeinander bezogen und somit ein Begriff der Welt als globaler Verflechtungszusammenhang entwickelt. Es liegt nahe, die Verbindung zur globalisierungskritischen Bewegung herzustellen. Trotz der Krise des ‚Dritte-Welt‘-Bezugs seit Mitte der 1970er Jahre - ein „diffuses Ende“ (119sqq.), dessen Ausgang darin bestand, dass die nun tonangebenden nouveaux philosophes das negativ konnotierte Klischee des realitätsfremden tiers-mondisme etablierten - hat die radikale Linke einen nachhaltigen Einfluss auf die Vorstellungen der „internationalen Solidarität“ und „Ausbeutung“ ausgeübt, wie im Ausblick am Beispiel der globalisierungskritischen Bewegung aufgezeigt wird. Auch im postkolonialen Diskurs lassen sich Fernwirkungen des ‚Dritte- Welt‘-Diskurses aufspüren. Die postkoloniale Kritik wurde von diesem vorstrukturiert, wenn sie auch zugleich einen Bruch mit ihrem gescheiterten Vorläufer, der viele Muster des kolonialen Diskurses (z.B. die essenzialistischen Kollektivbegriffe ‚der Westen‘ oder ‚die Dritte Welt‘) fortschrieb, markiert. Der ‚Dritte-Welt‘-Diskurs der radikalen Linken ist insofern in einem „Zwischenraum von Anti- und Postkolonialismus, von Eurozentrismus und dezentrierender Multiperspektivität“ zu verorten (492). Der Band von Kalter bietet nicht nur einen höchst informativen Einblick in die Geschichte des linken Antikolonialismus im Nachkriegsfrankreich, sondern zugleich auch eine vielschichtige Darstellung der politischen Ideengeschichte im Kontext und Gefolge der Dekolonisation. Die Skizze der Fernwirkungen des Begriffs werfen anregende ‚archäologische‘ Perspektiven auf die postkoloniale Ge- 145 Comptes rendus genwart, wenn auch die abschließende Bemerkung Kalters, dass „das reiche, aber schwierige Erbe des linksradikalen Dritte-Welt-Bezugs“ in „die ,kulturelle Identität‘ westlicher Gesellschaften ( ) eingegangen ist“ (492), etwas überzogen erscheint. Patrick Eser (Kassel) —————————————————— SAULO NEIVA: DESIRS & DEBRIS D’EPOPEE AU XX e SIECLE, BERN / BERLIN / FRANKFURT, LANG, 2009, 391 S. Ist die jüngste Literatur noch zur Produktion von Epen oder zumindest episch gefärbten Werken fähig oder geht mit der Individualisierung und Zersplitterung der Wahrnehmung sowie der systematischen Infragestellung von Normen und Ideologien auch der Tod einer bis zum 18. Jahrhundert gefeierten Großform einher? Als Nachfolger der 2008 erschienenen Avatars de l’épopée dans la poésie brésilienne 1 und Déclin & confins de l’épopée au XIX e siècle 2 schließt der vorliegende Sammelband das vom Centre de recherches sur les Littératures et la Sociopoétique (CELIS / CRLMC, Univ. Clermont II) initiierte Forschungsprogramm ab, welches sich mit der Frage nach Abnutzung und Wiederaufwertung der epischen Literatur im modernen und postmodernen Zeitalter befasst hat. Zwanzig Fallstudien und zwei übergreifende Reflexionen suchen Antworten auf sie zu geben. Saulo Neivas einleitender Aufsatz widmet sich nach dem kurzen Vorwort des Herausgebers literaturtheoretischen Fragestellungen, die einen gelungenen Brückenschlag vom Vorgängerband zur Neuerscheinung darstellen. Dass die von Hegel über Hugo und Poe bis ins 20. Jahrhundert geltende teleologische und somit normative Sichtweise der Gattungspoetik selbst bei jüngeren Theoretikern wie Lukács, Bachtin oder Fowler nicht zureichend in Frage gestellt wird, erscheint erstaunlich. Die abschließende Feststellung, dass es den vergangenen hundert Jahren nicht an episch geprägten Formen mangelt, sondern eher an ihrer Sichtbarkeit, wird im Folgenden durch das breite Spektrum von Maiores und Minores untermauert, mit denen sich die einzelnen Autoren beschäftigen. Die erste Abteilung konfrontiert den holistischen Anspruch des Epos mit seinem Gegenpol, der für das letzte Jahrhundert typischen Tendenz zur individualisierten und damit fragmentarischen Sichtweise. Antoine Raybaud eröffnet diesen Teil mit seinen Betrachtungen zu drei von Saint-John Perse, Glissant und Butor verfassten und Amerika gewidmeten Werken (Vents, Les Indes und Mobile), die veranschaulichen, dass sich nach der ‚Pleite‘ des Alten Europas durch Krieg und Kolonialherrschaft die Langform einen neuen geographischen Rahmen sucht. Von der Glo- 1 Saulo Neiva, Avatares da epopéia na poesia brasileira do fim do século XX, Übersetzung Carmen Cacciocarro, Recife, Massanga / Ministério da Cultura, 2008. 2 Saulo Neiva (ed.), Tübingen, Narr, 2008 (= études littéraires françaises).