eJournals lendemains 32/128

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Narr Verlag Tübingen
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2007
32128

Lebenskunst, nicht Lebenswissenschaft

2007
Klaus-Michael Bodgal
ldm321280092
92 tun. Erst in konkreter und geduldiger Zusammenarbeit, die der schieren Sonntagmorgen-Rhetorik vom wechselseitig guten Willen nicht mehr bedarf, wird sich herausstellen, welche spezifischen Kompetenzen und Erfahrungen seitens der Geisteswissenschaftler gefragt sein werden. Ottmar Ette verdanken wir die energische Erinnerung daran, dass in solcher Zusammenarbeit und ihren Debatten eine möglicherweise viel versprechende Zukunft selbst für die Literaturwissenschaft liegen könnte. Klaus-Michael Bogdal Lebenskunst, nicht Lebenswissenschaft Vor nicht allzu langer Zeit versammelten sich in der klösterlichen Abgeschiedenheit von Irrsee rund drei Dutzend Germanisten, um auf einem DFG-Symposium über die Grenzen ihres Fachs und die Frage „Rephilologisierung oder Erweiterung“ 1 nachzusinnen. Ottmar Ette, hätte er Gelegenheit erhalten, seine Überlegungen zur „Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft“ dort vorzutragen, wäre auf offene Ohren und dennoch auf wenig Zustimmung gestoßen. Aus Sicht der Germanistik nähert er sich allzu gelassen den unterschiedlichen Theorien und Methoden und stellt erst gar nicht mehr die Frage, ob der Literaturwissenschaft nicht durch die Entgrenzung ihr Gegenstand, die Literatur, abhanden kommen könnte. 2 Von der germanistischen Introspektion unterscheidet ihn erfrischend der Blick über den Tellerrand der Literaturwissenschaften hinaus. Entschieden fragt er, wie schon eine Generation vor ihm in den Sechzigern, nach dem Nutzen unseres Tuns, nach der spezifischen Leistung unserer Wissenschaft für die Gesellschaft. Und mit Neugierde schaut er auf die Erfolgskarrieren von Fächern und Disziplinen, denen es gelungen ist, unverzichtbar zu erscheinen, wenn es um wirtschaftlichen Erfolg, die Sicherung von Macht und die Minderung von Lebensrisiken geht. Bevor ich einige Rückfragen an Ottmar Ettes Programmschrift richte, möchte ich, ohne irgendeine Verbindung auch nur im Entferntesten unterstellen zu wollen, darauf hinweisen, dass der Begriff der Lebenswissenschaften in der Germanistik durch seine Verwendung im Nationalsozialismus auf unerträgliche Weise belastet ist. Dies wäre - vor jeder argumentativen Diskussion über die von Ette gemeinte 1 Grenzen der Germanistik. Rephilologisierung oder Erweiterung? DFG-Symposium 2003, hrsg. v. Walter Erhart, Stuttgart - Weimar 2004. 2 Mit der Frage „Kommt der Literaturwissenschaft ihr Gegenstand abhanden? (in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 41, 1997, 1-8) initiierte der Göttinger Literaturwissenschaftler Wilfried Barner eine intensive fachinterne Diskussion. 93 Sache - ein in der Germanistik wohl auch zu Recht nicht auszuräumender Einwand gegen seine Wiederverwendung. Walther Linden führt ihn 1933 an prominenter Stelle in der „Zeitschrift für Deutschkunde“ ein, und zwar im Zusammenhang mit Forderungen an die Männer des ‘Geistes’, sich entschieden dem Leben des deutschen Volkes zuzuwenden. Die politisierende lebenswissenschaftliche Wende 3 zielte auch damals darauf ab, den Legitimationsvorsprung der Naturwissenschaften zu verringern und gleichzeitig z.B. über morphologische Ganzheits- und Strukturtheorien Verbindungen zu ihnen zu knüpfen. Mit dem Begriff der Lebenswissenschaft begibt man sich in eine unheimliche Nachbarschaft. Rückfragen, die gemeinsame Sache betreffend 1. Worin liegt der Gewinn einer Wissenschaft, die Gesellschaft, Kultur, Geschichte, Technik und Natur umfasst? Der letzte große Versuch einer monistischen, das ‘ganze Leben’ in den Blick nehmenden Wissenschaft, der Historische und Dialektische Materialismus, hat es trotz des eingebauten Humanismus letztlich dazu gebracht, sein beträchtliches Wissen auf den unterschiedlichen Gebieten zu einer Technologie der Unterdrückung zu kombinieren. Der lebenswissenschaftliche Anspruch, z.B. auch geistige Hervorbringungen von der Biologie her umfassend beschreiben zu können, erinnert an die in den sechziger Jahren in der DDR vorherrschenden wissenschaftstheoretischen Homogenisierungstendenzen. So wurden unter dem Begriff der Produktivkräfte Naturressourcen, Kulturgüter, Wissenschaften, Technik und die „Produktivkraft Mensch“ zusammengefasst und einer einheitlichen Betrachtung unterworfen. Die Gegenposition würde mit Max Weber davon ausgehen, dass wir „in einer Vielheit von Welten“ 4 leben, denen man sich in der Wissenschaft nur auf eine ebenso vielfältige Weise nähern kann. „Leben“ stellt zwar im allgemeinen Sprachgebrauch, jedoch nicht in den Naturwissenschaften, die ihre interdisziplinären Forschungen neuerdings mit dem Terminus Lebenswissenschaften belegen, eine lockere und vage Zusammenhangskonstruktion dar, deren innere Kohärenz sich erst noch erweisen muss. Von einem Begriff kann man nicht reden, eher von einem nebelhaften Großsignifikanten wie „Geist“ und „Volk“, die stets Einheit und Bedeutung versprechen und zugleich als positiver Wert zu Handlungen auffordern. Die terminologische Interferenz kennzeichnete schon in den fünfziger Jahren eine erbittert geführte Debatte, die in der Psychologie zwischen der empirischen Richtung des „Laboratoriumsexperiments“ und einer „nicht-operationistischen“ 3 Sie dazu: Gerhard Kaiser, Paratexte 1941/ 42. Eine Annäherung an die „Literatur der Literaturwissenschaft während des Nationalsozialismus, in: Zeitschrift für Germanistik, H. 1, 2007, 64-78. 4 Otto Gerhard Oexle, „Wissenschaft“ und „Leben“. Historische Reflexionen über Tragweite und Grenzen der modernen Wissenschaft, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 41 (1990), H. 3, 158 (145-161). 94 geisteswissenschaftlichen Richtung entbrannte. 5 Immerhin gab es noch ein Bewusstsein dafür, dass es nicht vollständig problemlos sein könne, die Ratte als Versuchstier für Aussagen über den Menschen zu wählen. 6 Ebenso erinnert die damalige Frage, ob entweder Sätze wie „Mir ist so eigen zumute“ oder „Ich weise bestimmte Veränderungen der elektrischen Potentialdifferenzen meiner Zellen auf“ zum Ausgangspunkt psychologischer Forschung genommen werden sollten, 7 an aktuelle Debatten über Gedächtnis oder die Evidenz artspezifischer Normen. Im Zentrum der Auseinandersetzung stand der von beiden Seiten erhobene Anspruch auf eine allgemeine Theorie des Lebens. Auch damals, als die Anthropologie als Vermittlungswissenschaft ins Spiel gebracht wurde, vermochte die (fachpolitisch) pragmatische Kombination unterschiedlicher Wissensbestände nicht die Frage nach den Gegenständen und der Theorie der eigenen Wissenschaft und damit nach der Differenz zu den anderen - benachbarten oder entfernten - Wissenschaften zu beantworten. Ich möchte hier nicht dafür plädieren, dass eine Wissenschaft nicht in die Praxis einer anderen Wissenschaft eingreifen sollte - wie z.B. die Geschichtswissenschaft in die Literaturwissenschaft seit den Versuchen im 19. Jahrhundert, eine Geschichte der deutschen Nationalliteratur zu schreiben. (Der umgekehrte Fall ist neueren Datums und komplikationsreicher.) Durch Interventionen werden wichtige Anschlussmöglichkeiten an andere Wissensbestände hergestellt und interdisziplinäre Kommunikationsformen gestiftet. Ein neues Wissenschaftsparadigma entsteht so nicht. Ottmar Ette ist zuzustimmen, dass die Literaturwissenschaft sich heute nicht allein mit freundlichen Blicken auf ihre geisteswissenschaftlichen Schwestern begnügen darf, sondern die Implikationen der Forschungsergebnisse einiger Naturwissenschaften mit bedenken muss, auch wenn diese thematisch beschränkt sind. Ebenso muss sie ihre eigene Reichweite und ihre Grenzen erkennen. Ohne eigene disziplinäre Organisation und Leistung jedoch verschwindet sie samt ihrem Gegenstand, der Literatur. 2. Es muss auch mit einer gewissen theoretischen Strenge gefragt werden, was die Literatur mit dem ‘Leben’ zu tun hat, es sei denn man möchte umstandslos zur Widerspiegelungstheorie, zur Sozialgeschichte der Literatur der Siebziger oder zur Geistesgeschichte der Zwanziger zurückkehren. Auch wenn Nietzsche die Staub schluckenden Philologen seiner Zeit dem Gelächter preisgegeben hat, so spielt sich ein nicht unbeträchtlicher und unverzichtbarer Teil literaturwissenschaftlicher Praxis weiterhin in den Mausoleen und Katakomben von Weimar, Marbach, Wolfenbüttel, Berlin und München ab, in denen die Bücher und Handschriften dem ‘Leben’ aus guten Gründen entzogen werden. Nicht nur in der alten paulinischen Tra- 5 Siehe Albert Wellek, Der Rückfall in die Methodenkrise der Psychologie und ihre Überwindung, 2. Aufl., Göttingen, 1970. [1. Aufl. 1959] Zur Vorgeschichte vgl. Nicole D. Schmidt, Philosophie und Psychologie. Trennungsgeschichte, Dogmen und Perspektiven, Reinbek b. Hamburg, 1995. 6 Ebd., 16. 7 Ebd., 12. 95 dition, auch in der noch jungen Literalitätsforschung ist die Schrift ein ‘toter Buchstabe’, der von der ‘lebendigen Rede’ zu unterscheiden ist. Trotz aller Imaginationskraft der lesenden Subjekte untersucht die Literaturwissenschaft nicht die Dinge des Lebens, sondern Wörter und ihr Verhältnis zueinander sowie zu ihrer sprachlichen und nicht-sprachlichen Umwelt. Und wenn wir die Dinge in den Blick nehmen, auf die sich die Literatur bezieht oder die Lebenszusammenhänge, denen sie sich verdankt, lesen wir auch diese als Zeichen, schreiben ihnen Bedeutung zu, erforschen sie aber nicht in ihrer Dinghaftigkeit. Peter Szondis Konzept einer besonderen philologischen Erkenntnis hat sich genau an dieser nicht hintergehbaren Konstellation abgearbeitet. 8 Kunstwerke sind aber nicht nur durch das Medium der Schrift dem ‘Leben’ im Sinne Nietzsches entzogen, sondern ebenso durch die Tatsache, dass sie im Blick auf den Augenblick des Sagens, der Vergangenheit angehören. ‘Leben’ in Nietzsches Historienschrift zeichnet sich durch Gegenwart und eine sich beständig-unbeständig ändernde (Un-)Ordnung aus. Von Leben zu reden ist nur sinnvoll, wenn es um etwas Präsentes (und bei Nietzsche auch mit Energien/ Macht/ Willen Geladenes) geht. Literatur jedoch ist die Umschrift eines Vorgängigen und garantiert dessen Abwesenheit. Im Unterschied zur Kommunikation von Subjekten ‘im Leben’ könnte man die Literatur mit Foucault eine Nicht-Sprache nennen, bzw. eine Sprache, die nur in dieser einmaligen, vergangenen Gestalt existiert. Vielleicht konzentriert sich Ette deshalb in seinen Ausführungen vor allem auf den welthaltigen Roman und erwähnt die Lyrik und das Drama so gut wie gar nicht. 3. Warum wird in der Programmschrift die Argumentationsrichtung umgekehrt, wenn es um die Lebensnähe und Lebensferne bestimmter Wissenschaften und damit auch um die Frage, warum und zu welchem Ende wir Literaturwissenschaft betreiben, geht? Es gibt doch eine lange Tradition der Kritik an der Praxis der Naturwissenschaften, die seit der Kernspaltung und ihren desaströsen Folgen nicht mehr verstummt ist. Das Misstrauen richtet sich gegen szientistische, allein ihrem Forschungsziel verpflichtete, durch Spezialisierung sich der allgemeinen öffentlichen Kontrolle entziehende Wissenschaften und Techniken. Die Literatur hat die Bedrohung humanen Lebens durch Forschungen, deren Kontrolle die sozialen und politischen Möglichkeiten der Gesellschaft überfordern, wiederholt (Brecht, Dürrenmatt u. a.) zum Thema gemacht. Ein gemeinsames lebenswissenschaftliches Dach würde, auch wenn es als mobile Konstruktion gedacht ist, die berechtigte Skepsis und notwendige Kritik nicht gerade befördern. Skepsis und Kritik bilden jedoch die Voraussetzung für Ettes Forderung, sich „um das Leben zu kümmern“. Die Literaturwissenschaft sollte sich dann aber unter Konzentration auf die sprachlich-ästhetische Dimension im Sinne Bert Brechts der Förderung der „größten aller Künste, der Lebenskunst“ zuwenden. Um das Leben kümmern sich leider auch 8 Peter Szondi, Hölderlin-Studien. Mit einem Traktat über philologische Erkenntnis, Frankfurt/ M., 1970. 96 jene, die in ihren Laboratorien an einem „Menschenpark“ bauen und diejenigen, die erfolgreich Fun-Parks betreiben. Mit beiden sollten die Literaturwissenschaften, wenn nötig, in Streit geraten. 4. Empirische Wissenschaften erzielen valide Ergebnisse durch die unmittelbare Beobachtung in der Gegenwart, auch wenn sie Verfahren zur Speicherung von Informationen oder zur Simulation (Beschleunigung oder Verlangsamung) von Prozessen entwickelt haben. Die Literaturwissenschaft hat es im strikten Sinn mit Gegenständen zu tun, die sich in einer unaufhebbaren zeitlichen Distanz zum Forscher befinden. Die Historizität ist nicht weniger als die Empirie eine Errungenschaft der Moderne. Auf welche Weise soll die grundlegende temporale Differenz im Rahmen einer Lebenswissenschaft aufgehoben oder zumindest überbrückt werden? Die literarischen Werke, mit denen wir uns vornehmlich beschäftigen, gehören als überlieferte Monumente Diskursen an, „die gerade aufgehört haben, die unsrigen zu sein“. 9 Die empirische Beobachtung würde nicht über die linguistische Deskription hinausführen, wie wir seit den entsprechenden strukturalistischen Versuchen in den Sechzigern wissen. Ein Zugang zu den Werken der Vergangenheit gelingt nur durch die Rekonstruktion ihrer jeweiligen historischen Kontexte und die Dekonstruktion der Sinnzuschreibung, die zwischen diesem Ereignis und unserer Gegenwart erfolgten. Doch vermag die literaturwissenschaftliche Analyse es nicht, die historische Distanz zu den Texten jemals vollständig aufzuheben, noch diese wieder zum Leben zu erwecken. 5. Sehr zuzustimmen ist Ottmar Ettes Forderung, sich nicht nur mit den Emanationen des Geistes zu beschäftigen, sondern ebenso mit den uns weithin noch unerklärbaren Übergängen von der Natur zur Kultur und von der Biologie zur Geschichte. Aber auf welche Weise sollen diese Übergänge gedacht werden, von welchen Grundannahmen können wir ausgehen? Die Lebenswissenschaften zielen auf ein Modell ab, das Kultur und Gesellschaft als Funktion evolutionärer Prozesse (z.B. der Assimilation) erklären möchte. In Zeiten ideologischer Auseinandersetzungen hätte man solche Vorstellungen als ‘vulgärmaterialistisch’ bezeichnet. Müssten nicht die Geisteswissenschaften von Annahmen ausgehen, mit denen sich das Anderswerden, die Kontingenz und Differenzen zum Lebensbegriff der Lebenswissenschaften beschreiben ließen? An ‘starken’, durchaus konkurrenzfähigen Theorien besteht kein Mangel, wenn wir an Aristoteles für die Kunst, an Kant für das Wissen, an Hobbes für die Politik, an Marx für die Ökonomie, an Weber für die Gesellschaft, an Freud für das Begehren etc. denken. Entfalten und vervielfältigen sich Kulturen und Gesellschaften nicht dann, wenn der „Druck des Biologischen auf das Historische“ 10 nachlässt, wenn sich Menschen allmählich 9 Michel Foucault, Archäologie des Wissen, Frankfurt/ M., 1973, 189. 10 Michel Foucault, Sexualität und Wahrheit, Bd.1, Der Wille zum Wissen, Frankfurt/ M., 1977, 169. 97 von den elementaren, evolutionsbedingten Lebensbedingungen lösen und der Aufschub und die Variation biologischer Zyklen zu einer eigenzeitlichen Geschichte führt? Foucault hat diese Loslösung als Geschichte der Subjektwerdung (der Freiheit, der Ethik, der Kunst, des Rechts etc.) und der Entstehung eines diskursiven „Raums“ des Wissens und der Macht skizziert. Geschichte und Gesellschaft sind nicht einfach eine Fortsetzung oder „Unterart des Lebens“. 11 Nicht die Einheit des Lebendigen oder des Lebens ist das Entscheidende für die Entwicklung der Kultur und Gesellschaft, sondern die Natur zerstörende Schaffung eines von ihr unterschiedenen und unterscheidbaren Lebens. Deshalb ist es sinnvoll, von einer zweiten Natur (oder einem anderen Leben) zu sprechen, um die Differenz zur Geltung zu bringen. Der hohe Komplexitätsgrad und die große Ausdifferenzierung, die Kulturen und Gesellschaften erreicht haben, sprechen dafür, bei ihrer Erforschung vor allem dort - wenn auch nicht ausschließlich dort - anzusetzen, wo sich ihre Besonderheit und Eigengesetzlichkeit ausgeprägt haben: in ihrem historischen Werden. Die neueren Lebenswissenschaft beginnen uns allerdings unabweislich daran zu erinnern, dass vor und unterhalb der Geschichte menschlicher Kultur und Gesellschaft eine stumme Ordnung des Lebendigen existiert, von der wir jetzt allmählich erfahren, dass sie für uns mehr birgt als nur Gefahren, Begrenzungen und den Tod. 6. Wie ein roter Faden zieht sich durch Ettes Entwurf das Versprechen der Nützlichkeit einer komplementär verfahrenden, Natur- und Kulturwissenschaft verbindenden Lebenswissenschaft. Sollte damit gemeint sein, dass das kritische Potential der Geisteswissenschaften auf die Naturwissenschaften abfärbt? Auf deren Theorien und Methoden wohl kaum, auf die Handlungen der Forscher vielleicht. Doch wo bleibt die Domäne der Geisteswissenschaften, die Erkundung der Nachtseiten der Kultur und der Schattenseiten der Gesellschaft? Und wo ihre ‘vornehmste’ Aufgabe, die Erforschung des Zusammenhangs von Macht, Wissen und Herrschaft? ‘Nützlich’ sind die Geisteswissenschaften, wenn sie Unterdrückung, Ungleichheit, Konkurrenz, Ignoranz, Lüge, Verstellung, religiösen Hass und deren sprachlich-ästhetische Repräsentationsformen untersuchen. All das mit dem Begriff des „Lebensreichtums“ zu belegen, fällt schwer. Der allzu emphatische Begriff erschwert die Wahrnehmung des Lebens in seiner Widersprüchlichkeit, Ungeheuerlichkeit und Unbegreiflichkeit. Geschichte-Kultur-Gesellschaft sind die in der Moderne entstandenen Rahmenbegriffe, um die Besonderheiten menschlicher Entwicklung jenseits der Evolutionen des Lebendigen zu denken und ihnen einen Sinn zu geben. Ihr Erklärungspotential ist noch lange nicht ausgeschöpft. 11 Michel Foucault, Zur Geschichte zurückkehren, in: Ders.: Schriften in vier Bänden, Band II, Frankfurt/ M., 2002, 347.