eJournals lendemains 32/128

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Narr Verlag Tübingen
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2007
32128

Wie könnte man nicht einverstanden sein?

2007
Hans Ulrich Gumbrecht
ldm321280089
1: 58 89 Hans Ulrich Gumbrecht Wie könnte man nicht einverstanden sein? Beistimmender Widerspruch zu Ottmar Ette Es gibt viel mehr als genug Gründe, um einverstanden zu sein mit Ottmar Ettes Programmschrift „Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft“. Wie könnte sich irgendeine Institution, zumal eine Wissenschaft, dagegen sperren, an dem gemessen zu werden, was sie zum „Leben“ beiträgt? Und obwohl die Frage natürlich rhetorisch ist, impliziert sie keinesfalls, dass es nicht immer wieder einmal an der Zeit sein kann [und heute an der Zeit ist], diese an sich selbstverständliche Bestimmung wort- und argumentationsstark in Erinnerung zu bringen. Umso lieber stimmt man zu, als Ette ja - zweitens - darauf besteht, dass die geforderte Zuwendung zum Leben weder den historisch gewachsenen Autonomie-Status der Literatur aufheben, noch das über die zwei Jahrhunderte ihres Bestehens erreichte Komplexitäts-Niveau der Literaturwissenschaft unterbieten darf. So sehr also zu hoffen ist, dass dieses Manifest unter Geisteswissenschaftlern eines Tages populär wird, hat es doch nichts mit [dem sehr wohl existierenden] akademischen Populismus gemein. Von einer Konvergenz in Richtung auf die Naturwissenschaften könnten - drittens - die Geisteswissenschaften im allgemeinen und die Literaturwissenschaft im speziellen gewiss nur profitieren, schon wegen der unvergleichlich größeren Aufmerksamkeit und des viel höheren Ansehens, das den Naturwissenschaften heute in der Gesellschaft - meistens zurecht, glaube ich - zukommen. Als Klammer für eine solche Konvergenz scheint sich der Begriff der „Lebenswissenschaften“ in der Tat anzubieten. Und schließlich stimme ich mit Ettes Eindruck überein, dass die großen Autoritäten, auf die wir romanistischen Literaturwissenschaftler stolz sind - Leo Spitzer und Erich Auerbach zum Beispiel - dem Sinn und den Intentionen seines Manifests beigestimmt hätten, auch wenn ich andererseits überzeugt bin, dass er die Signifikanz des Lexems „Leben“ im letzten Absatz von Auerbachs Mimesis bei weitem überschätzt. Aber davon hängt eigentlich nichts ab. Wo immer ich mit Ottmar Ette nicht ganz vorbehaltlos einverstanden bin, trennen uns höchstens Nuancen - und genau da liegt das eine Problem, das ich mit seiner Programmschrift habe. Es ist mir nämlich kaum vorstellbar, dass irgendeine Kollegin oder irgendein Kollege anders reagieren könnten. Sollten der Text und sein Programm aber nun wirklich keinen potentiellen Adressaten ausschließen, dann wäre dies wohl ein Anzeichen dafür, dass die Konturen der vertretenen Position noch nicht in allen Fällen wünschbar deutlich und kraftvoll sind. In diesem Sinn und in dieser Richtung möchte ich nun - bei aller Beistimmung - drei Vorschläge zur Konturenverstärkung formulieren. Erstens und ganz im Ernst also: wie ließe sich Ettes Zuordnung der Literaturwissenschaft aufs Leben so spezifizieren, dass sie in Widerspruch zu wenigstens einigen anderen Varianten des Selbstverständnisses in unserem Beruf geriete? Für 90 meinen Teil und in diesem Sinn möchte ich den Anspruch ausschließen, dass die Literaturwissenschaft „der Gesellschaft“ schlechthin normative Modelle und Vorstellungen des Zusammenlebens zu stiften imstande sei. Woher sollten ausgerechnet wir, die Literaturwissenschaftler, Kompetenz und Rechtfertigung beziehen, um den Zeitgenossen zu erklären und sogar vorzuschreiben, wie sie ihr Leben einzurichten haben? Nicht wenige Vertreter unserer Vorgängergenerationen haben das Konto in dieser Hinsicht so grotesk überzogen, dass man sich eigentlich - statt ständig über mangelndes Ansehen und mangelnde Finanzierung zu klagen - fragen muss, wie das Fach jene Phase hypertrophen Selbstbewusstseins überleben konnte. Ein solcher Anspruch war ja auch nicht durch die Tradition jener Textbestände gedeckt, auf die wir uns konzentrieren sollten. Die potentiell größte Stärke der Literatur und mithin der Literaturwissenschaft liegt, meine ich, in ihrer Fähigkeit, individuelle Leser zum Nachdenken über die Probleme ihrer individuellen Existenz zu bringen [was die Möglichkeit ausschließt, ihnen bündige Antworten auf ihre Probleme bereitzustellen]. In diesem - tatsächlich wieder: existentialistischen - Gestus sehe ich eine Konvergenz von neuen literaturwissenschaftlichen Tendenzen nach Dekonstruktion und identity studies, welche auch das Verständnis der Klassiker unseres Fachs langsam zu verändern beginnt. Das Motiv von der „Tragödie des alltäglichen Lebens“ etwa, wie es Erich Auerbach in Mimesis aus der Text-Genealogie des europäischen Realismus entwickelt, wird an keiner Stelle des Buchs in ethische Empfehlungen umgesetzt. Gerade deshalb wohl hat es in den vergangenen sechs Jahrzehnten ganz verschiedene Generationen von Lesern mit ihren ganz verschienen Erwartungen und Problemen faszinieren können. Zweitens: gewiss, Ottmar Ette tut gut daran, die in literarischen Texten und Gattungen bewahrten Wissensbestände wieder in den Blick zu rücken. Aber in dieser Hinsicht unterscheidet sich Literatur keinesfalls von anderen Text-Traditionen, von denen der Philosophie und der Theologie etwa, der Wissenschaften, aber auch von jenen bis heute kaum aufgearbeiteten diskursiven Beständen, in denen über die Jahrhunderte immer komplexeres Berufswissen vermittelt wurde. Dass jeder ernsthafte Versuch zur Entwicklung eines metahistorischen und transkulturellen Begriffs von „Literatur“ zum Scheitern verurteilt ist, wissen wir längst. Doch wie würden Sie auf die Frage antworten, welche - streng genommen kontrafaktische - Intuition uns doch immer wieder dazu bringt, von „Literatur“ in einem universalen Sinn zu reden? Für mich ist es die zu einer - längst nicht von allen Kollegen geteilten - Erwartung gewordene Überzeugung, dass literarische Texte die Welt aus Perspektiven beschreiben und in den Blick rücken, welche vielfach exzentrisch sind im Verhältnis zu den institutionalisierten Weltverhältnissen ihrer eigenen Zeiten und oft auch zu den Weltverhältnissen ihrer verschiedenen Lesergenerationen. Tendenziell macht Literatur also unseren Blick auf die Phänomene spannungsreicher, komplexer und - vor allem unter Bedingungen der Moderne - auch konkreter. Das erreichen literarische Texte meist durch die - im jeweiligen historischen Kontext: ebenfalls exzentrische - Verwendung sprachlicher Formen [durch „literarische Verfahren“, hätten die russischen Formalisten gesagt], welche unvermeidlich 91 wohl in Ottmar Ettes Programmschrift eine eher untergeordnete Rolle spielen. Mag dies nun ein unvermeidlicher Preis sein, den Ette um der zentralen Stossrichtung seiner Polemik willen zahlen muss, jedenfalls wird so auch der Blick auf eine spezifische intellektuelle Stärke der Literaturwissenschaftler [oder zumindest: ihrer Elite] verstellt. Die besten Literaturwissenschaftler sind - wie Karl Valentin ganz ohne politische Richtungs-Semantik hätte sagen können - entweder „Linksdenker“ oder für „Linksdenken“ besonders sensibel. Um ein letztes Mal zu Erich Auerbach und Mimesis zurückzukehren: niemandem vor Auerbach war aufgefallen, dass am Beginn des europäischen Realismus eine Konvergenz zwischen den erhabensten Inhalten und den bescheidensten sprachlichen Formen gestanden war. So wie es keinem Literaturwissenschaftler vor Harold Bloom aufgefallen war, dass die künstlerische Energie literarischer Autoren häufiger denn aus elementarer Bewunderung für ihre Vorgänger von dem ödipal-ressentimentgeladenen Wunsch kommt, diese zu „verwunden“. Durch Linksdenken solchen Stils vor allem - und nicht durch vollmundiges Predigen ethischer Prinzipien - unterscheiden sich die besten Literaturwissenschaftler von den Philosophen, aber gewiss nicht einfach dadurch, dass sie Wissen vermitteln. Drittens: Friedrich Nietzsches meist polemisch gebrauchter Begriff des „Lebens“, an dem mir, meine ich, trotz aller von uns geteilten Vorbehalte am Ende ebenso viel liegt wie Ottmar Ette, lässt sich nicht ohne weiteres mit dem Begriff von „Leben“ vermitteln, wie ihn die Life Sciences unterstellen. Das hat wohl vor allem mit dem an sich banalen Sachverhalt zu tun, dass dieses Konzept erst im zwanzigsten Jahrhundert zum zentralen Organon der Naturwissenschaften geworden ist, oder doch zumindest: dass der naturwissenschaftliche Begriff des „Lebens“ heute biochemische Einsichten einschliesst, welche seine Entfernung zu einem in Nietzsches Welt möglichen „Lebens“-Begriff haben wachsen lassen. Trotzdem scheint mir die Bemühung lohnend, eine neue Konvergenz zwischen Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften zu fördern - und zwar genau an der epistemologischen Stelle einer neuer Konzeption vom „Leben“. Dazu gibt es bereits eine reiche intellektuelle Vorgeschichte [etwa in der Philosophie von Hans Jonas], deren Ergebnisse und potentielle Vorgaben wir Literaturwissenschaftler nicht übersehen dürfen, wenn wir je in dieser Debatte ernst genommen werden wollen. Es trifft ja auch nicht ganz zu und stellt deshalb unsere Ernsthaftigkeit in ein zweifelhaftes Licht, wie Ottmar Ette [einem Lieblingsgerücht der Geisteswissenschaften folgend] zu unterstellen, dass das von den Biowissenschaften thematisierte Leben und das von ihnen hervorgebrachte Wissen über das Leben kein „Wissen von sicht selbst habe“. Im Gegenteil, seit „Selbststeuerung“ als eine zentrale Komponente des biologischen Lebensbegriffs entdeckt wurde, steht eher der philosophische Begriff der Selbstreflexivität unter einer - wohl bis heute noch nicht eingelösten - Verpflichtung zur Komplexitätssteigerung. Vor allem aber gibt es keinen Anlass zu der immer wieder gemachten Unterstellung, dass Naturwissenschaftler über die Konsequenzen ihrer Entdeckungen für das alltägliche Leben der Menschen und seine Zukunft weniger nachdenken als es Geisteswissenschaftler 92 tun. Erst in konkreter und geduldiger Zusammenarbeit, die der schieren Sonntagmorgen-Rhetorik vom wechselseitig guten Willen nicht mehr bedarf, wird sich herausstellen, welche spezifischen Kompetenzen und Erfahrungen seitens der Geisteswissenschaftler gefragt sein werden. Ottmar Ette verdanken wir die energische Erinnerung daran, dass in solcher Zusammenarbeit und ihren Debatten eine möglicherweise viel versprechende Zukunft selbst für die Literaturwissenschaft liegen könnte. Klaus-Michael Bogdal Lebenskunst, nicht Lebenswissenschaft Vor nicht allzu langer Zeit versammelten sich in der klösterlichen Abgeschiedenheit von Irrsee rund drei Dutzend Germanisten, um auf einem DFG-Symposium über die Grenzen ihres Fachs und die Frage „Rephilologisierung oder Erweiterung“ 1 nachzusinnen. Ottmar Ette, hätte er Gelegenheit erhalten, seine Überlegungen zur „Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft“ dort vorzutragen, wäre auf offene Ohren und dennoch auf wenig Zustimmung gestoßen. Aus Sicht der Germanistik nähert er sich allzu gelassen den unterschiedlichen Theorien und Methoden und stellt erst gar nicht mehr die Frage, ob der Literaturwissenschaft nicht durch die Entgrenzung ihr Gegenstand, die Literatur, abhanden kommen könnte. 2 Von der germanistischen Introspektion unterscheidet ihn erfrischend der Blick über den Tellerrand der Literaturwissenschaften hinaus. Entschieden fragt er, wie schon eine Generation vor ihm in den Sechzigern, nach dem Nutzen unseres Tuns, nach der spezifischen Leistung unserer Wissenschaft für die Gesellschaft. Und mit Neugierde schaut er auf die Erfolgskarrieren von Fächern und Disziplinen, denen es gelungen ist, unverzichtbar zu erscheinen, wenn es um wirtschaftlichen Erfolg, die Sicherung von Macht und die Minderung von Lebensrisiken geht. Bevor ich einige Rückfragen an Ottmar Ettes Programmschrift richte, möchte ich, ohne irgendeine Verbindung auch nur im Entferntesten unterstellen zu wollen, darauf hinweisen, dass der Begriff der Lebenswissenschaften in der Germanistik durch seine Verwendung im Nationalsozialismus auf unerträgliche Weise belastet ist. Dies wäre - vor jeder argumentativen Diskussion über die von Ette gemeinte 1 Grenzen der Germanistik. Rephilologisierung oder Erweiterung? DFG-Symposium 2003, hrsg. v. Walter Erhart, Stuttgart - Weimar 2004. 2 Mit der Frage „Kommt der Literaturwissenschaft ihr Gegenstand abhanden? (in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 41, 1997, 1-8) initiierte der Göttinger Literaturwissenschaftler Wilfried Barner eine intensive fachinterne Diskussion.