eJournals lendemains 32/128

lendemains
0170-3803
2941-0843
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/
2007
32128

Philosophie als Überlebenswissenschaft

2007
Jorge Semprún
ldm321280080
1: 58 80 Jorge Semprún Philosophie als Überlebenswissenschaft Rede zur Verleihung der Ehrendoktorwürde der Philosophischen Fakultät der Universität Potsdam (25. Mai 2007) In der Zeit - sie liegt weit zurück - als ich mich besonders für die Philosophie interessierte, nicht nur als „Berufung“, sondern als möglichen „Beruf“, waren es einige Sätze von Edmund Husserl, die meine Auffassung der philosophischen Tätigkeit spiegelten und zusammenfassten: Sätze, die meiner Meinung nach das konzeptionelle Programm jedes ehrgeizigen und rigorosen Denkens begründeten. Ein Programm, das vielleicht nicht ganz zu vollenden war, das als letztes Ziel unerreichbar blieb, aber auf das man in keinem Fall verzichten durfte. Ein (über)lebenswichtiges Programm. Husserl hatte in der Tat gerade die Bereiche des theoretischen und praktischen Lebens eingegrenzt und sich die Frage nach den Beziehungen zwischen beiden Sphären gestellt. Er zeigte auf, dass es eine Form der Verbindung gibt, die nicht mehr mythisch-religiös bestimmt war, und die auch keine rein theoretische Haltung blieb. Dieser dritte Weg, so betonte Husserl, ist etwas Neues, das man folgendermaßen definieren könnte: Er ist eine neue Art der Praxis, die auf einer universellen Kritik jeder Art von Leben, aller Ziele eines Lebens gründet. Kurzum: eine Kritik aller kulturellen Formationen und Systeme, die sich aus dem Leben der Menschheit entwickelt haben. Folglich würde besagte neue Praxis in einer Kritik der Menschheit selber und der Werte, die sie direkt oder indirekt leiten, münden. Schließlich müsste sich diese neue Praxis vornehmen, die Menschheit dank der universellen wissenschaftlichen Vernunft zu höheren Ebenen zu leiten, sie zu Höherem zu animieren - nach Normen jedweder Art, deren Ziel es wäre, eine Art grundlegend neuer Humanität zu schaffen, dazu fähig, für sich selbst auf die Herausforderungen des Lebens kraft einer globalen theoretischen Vision zu antworten. Diese Formulierung schien mir, so abstrakt sie auch klingt, so sehr sie auch einer konkreten und historisch determinierten Analyse oder Entfaltung bedarf, diese Formulierung erschien mir in jenen weit zurückliegenden Jahren meiner philosophischen Bemühungen, in meiner Jugend also, die bestmögliche Definition der theoretischen Tätigkeit, wenn man sie in ihrer konzeptionellen Ehrlichkeit versteht und zugleich in ihrem heilsamen Bemühen, Einfluss in der Welt des Lebens auszuüben. Diese Formulierung Husserls schien mir darüber hinaus, auch wenn dies heute überraschend, sogar paradox klingt, eine gute Definition der marxistischen Konzeption der Praxis zu begründen. Wenn man also diesen Bezug zum theoretischen Denken von Marx verstehen will - der heute arrogant oder vielleicht sogar naiv klingt, der sozusagen engels- 81 gleich abstrahiert von den historischen Bedingtheiten, den späteren Erscheinungsformen des Marxismus, seinen beunruhigenden epigonalen Abdriftungen, dann muss man das philosophische Panorama jener zurückliegenden Jahre, den Kontext, in dem diese Referenz auf Marx steht, unbedingt, und sei es nur ganz kurz, aufzeigen und erörtern. Welche Art von Philosophie wurde zu Beginn der 40er Jahre in Frankreich in den Oberstufen des Gymnasiums und in den ersten Semestern an der Universität gelehrt? In welchem konkreten Rahmen entwickelte sich damals meine philosophische Ausbildung, mein Werdegang? Man kann das in wenigen Worten sagen. Auf dem Feld der eigentlichen Philosophie - wenn man also die Vorherrschaft der Historiographie ausklammert, in der die Schule der Zeitschrift Les Annales mit Marc Bloch, Lucien Febvre und vielen anderen eine Bewegung in Gang brachte, die überaus fruchtbar und wichtig geworden ist; wenn man außerdem die Soziologie ausklammert, in der Emile Durckheim und seine Gruppe eine kreative Epoche vielschichtiger, nuancenreicher und hochspezialisierter Forschungen eingeleitet haben, die unverändert andauert; wenn man sich also nur auf die streng definierte philosophische Theorie bezieht, dominierte im Frankreich jener Jahre eine sonderbare Mischung aus einem diskret rationalen und positiven Spiritualismus und einem freundlich spiritualistischen und vitalistischen Positivismus - und dies ohne eine proklamierte Absicht von Hegemonie, sondern auf eher informelle Weise. Die Epoche, in der Henri Bergsons Denken in der Kulturgesellschaft und an den französischen Universitäten herrschte, war bereits zu Ende gegangen. Der breite Strom des Denkens, Lehrplan und Universität hatten zu ihrem althergebrachten Bett des subjektiven Idealismus zurückgefunden - und zwar in einer ideologischen Fassung, die sich besonders vom Werk Victor Cousins herleitete. Eine evidente nationale Endogamie spiegelte sich in den philosophischen Strömungen, die am meisten gelehrt und verbreitet wurden. Die einzigen Ausnahmen von dieser endogamischen Norm stammten aus den ebenfalls traditionellen Gepflogenheiten des akademischen Austausches, dem Kontakt mit der deutschen Philosophie. Das wurde besonders deutlich an zwei Phänomenen, die zwar beide nur in ihren Anfängen standen, aber dennoch schon signifikativ waren. Einerseits konnte man ein zwar nur minoritäres, aber wachsendes Interesse für die Philosophie Hegels feststellen - auch wenn dies mit einer objektiven Verspätung geschah. Man begann, seine Werke zu übersetzen und sachliche Untersuchungen und scharfsinnige Kommentare dazu zu publizieren. In diesem Kontext muss ich auf jeden Fall den Namen von Jean Hyppolite nennen, dessen Einfluss auf die französische Universität jedoch erst später, seit den fünfziger Jahren, wirklich wichtig wurde. Ein anderer Brennpunkt von Hegels Einfluss in Frankreich war das berühmte Seminar von Alexandre Kojève, einem brillanten und enigmatischen Denker, ein Seminar, das er von 1933 bis 1939 hielt und in dem er eine überaus geistreiche und originelle Lektüre von der Phänomenologie des Geistes gab. Seine Anmerkungen, Konzepte und Vorlesungen wurden später publiziert, nämlich von einem sei- 82 ner Assistenten, dem Schriftsteller Raymond Queneau. Das geschah im Jahr 1947. An diesem Seminar nahmen regel- oder unregelmäßig so unterschiedliche, aber zugleich so einflussreiche und für das französische Kulturleben wichtige Persönlichkeiten teil wie Raymond Aron, Georges Bataille, Jacques Lacan, Raymond Queneau, Maurice Merleau-Ponty, Jean Hyppolite, André Breton oder Roger Caillois. Und alle haben auf die eine oder andere Weise in ihrem Werk den Einfluss widergespiegelt, den das Seminar von Alexandre Kojève auf sie ausgeübt hatte. In diesen Kontext der zunehmenden Verbreitung und Kenntnis von Hegel fällt auch der offenkundige, zunehmende Einfluss der Ideen von Karl Marx - nicht der politischen, der sich anderen strukturellen Gründen verdankt - sondern der streng philosophischen Ideen. Junge französische Philosophen und Professoren, wie Georges Politzer, der während der Résistance von den Nazis erschossen wurde, Henri Lefebvre, Paul Nizan und Norbert Guterman waren herausragende und polemische Neuerer, die das Marx’sche Denken in die französische Kultur brachten. Und selbst - und das war bevor ich einen einzelnen Band von Schellings Werken in der Bibliothek von Buchenwald fand - mein erster persönlicher Kontakt mit diesem Philosophen verdankte sich einer französischen Übersetzung der Untersuchungen über die Freiheit des Menschen von Georges Politzer, mit einer Einführung von Henri Lefebvre. Beide waren die marxistischen Philosophen, die damals am bekanntesten waren. Die zweite Ausnahme von der während meiner Studienzeit ziemlich selbstzufriedenen Endogamie der französischen Universität war die allmähliche Einführung einiger Themen aus der Phänomenologie Husserls, die Teil der philosophischen Debatten Frankreichs in den 30er Jahren wurden. Hier handelt es sich nicht darum, jene Frage detailliert zu erörtern - das ist ja selbstverständlich. Ich werde lediglich einige wichtige Fakten aufzählen, die objektiv relevant sind und darüber hinaus einen großen Einfluss auf meinen eigenen Werdegang hatten. Als erstes sollte man die frühen theoretischen Schriften von Jean-Paul Sartre in Erinnerung rufen. Ich beziehe mich nicht auf sein Werk Das Sein und das Nichts aus dem Jahre 1943, das ich im gleichen Winter im Gefängnis von Auxerre las, nachdem mich die Gestapo verhaftet hatte. Das ist ein in gewisser Weise maßloses und ausschweifendes Buch, in dem der keineswegs zu verachtende philosophische Inhalt eher wie ein romanhaftes Epos des Ichs und seiner Bedingtheiten denn als strenge Wissenschaft erläutert wird. Ich beziehe mich viel mehr auf seine Arbeiten aus den 30er Jahren, bevor Sartre die Romanform als entscheidendes, als fundamentales Ausdrucksmittel seiner Ideen wählt. Ich denke an Über die Einbildungskraft (1936); an Die Transzendenz des Ego. Versuch einer phänomenologischen Beschreibung (1938), an: Das Imaginäre: Phänomenologische Psychologie der Einbildungskraft (1938), und schließlich an Eine fundamentale Idee der Phänomenologie Husserls: die Intentionalität (1939). 83 Die Lektüre dieser Texte - so bahnbrechend neu sie für einen Studenten wie mich waren, der sich leidenschaftlich für die philosophische Forschung interessierte, aber gelangweilt war von der banalen Oberflächlichkeit des akademischen Unterrichts, sowohl in seiner spiritualistischen Strömung, die an der Sorbonne ehrwürdige, aber blasse Figuren wie Louis Lavelle oder René Le Senne verkörperten oder in seiner positivistischen Version Professor Guillaume, Ordinarius der Psychologie - die Lektüre besagter Texte von Sartre sowie die Entdeckung eines langen, gehaltvollen Artikels von Emmanuel Levinas in der Revue Philosophique, in dem er eine brillante Einführung in das Werk Husserls lieferte, führten mich dazu, alle Arbeiten dieses Philosophen - und es waren nicht viele - zu studieren, die mir damals in Paris zur Verfügung standen. Dieses persönliche Bemühen, Kenntnisse zu erwerben - ohne sie irgendwie verwerten zu können, denn das Werk Husserls stand auf keinem universitären Lehrplan für die Abschlussprüfungen - hatte jedoch eine unerwartete, aber glückliche akademische Konsequenz. Wenige Monate später wurde ich in der Tat für einen zentralen Wettbewerb ausgewählt, der jedes Jahr unter den besten Studenten eines jeden Jahrgangs an allen Gymnasien und Oberschulen Frankreichs stattfindet. Ich wurde natürlich ausgewählt, an der Philosophieprüfung teilzunehmen. Das Glück wollte es, dass das Thema, das den Teilnehmern an diesem Examen im Jahre 1941 vorgelegt wurde, das der philosophischen Intuition war. Meine kürzlich erfolgte Lektüre von Husserl und Levinas erlaubte es mir daher, eine etwas ungewöhnliche Arbeit zu verfassen, die die routinemäßigen Pfade dieser Art von Prüfung verließ, da weder Husserl noch Levinas Gegenstand des vorgeschriebenen Lektürekanons, der Pflichtlektüren für die Schüler der Philosophieklassen war. Wie dem auch sei, ich belegte bei dieser Gelegenheit den zweiten Platz im Wettbewerb. Da meine Studien kurz danach durch die langen Kriegsjahre - Résistance und Deportation - und später durch die anti-franquistischen Jahre im Untergrund, in der Klandestinität unterbrochen wurden, war dieser Preis im französischen Wettstreit bis zu dieser heutigen Verleihung des Doktorats honoris causa meine einzige akademische Auszeichnung, obwohl ich mich in meinem ganzen Leben immer weiter mit der Philosophie beschäftigt habe. Jahre später, besser gesagt Jahrzehnte später, als ich Kulturminister in der Regierung von Felipe González war und dem gleichen Kabinett angehörte wie Javier Solana, der soeben in Aachen den Karlspreis erhalten hat, fiel mir die Ehre zu, eine Veranstaltungsreihe in Madrid über Emmanuel Levinas zu präsidieren. Ich nutzte diese Gelegenheit, um ihm zu erzählen, wie ich vor so langer Zeit den zweiten Preis in dem allgemeinen Philosophie-Wettbewerb in Frankreich gewonnen hatte. Diese Anekdote brachte ihn zum Lächeln, es amüsierte ihn, wenigstens indirekt, Anlass für meinen Preis gewesen zu sein. Ich erinnere mich aber, dass mir in seinem Blick ein gewisses Staunen aufgefallen war: Es musste ihm sonderbar vorkommen, dass ein Minister, auch wenn es der Kulturminister war, seinen Essay über Die Theorie der Intuition in der Phänomenologie Husserls gelesen hatte. 84 Diese knappen Andeutungen wären jedoch nicht korrekt, sogar ungerecht, wenn ich nicht den ungeheuren Einfluss erwähnen würde, den ich der Lektüre der philosophischen Werke des jungen Marx verdanke: diesem Schöpfer neuer Ideen, die alte Überzeugungen zu Fall brachten. Heute würde es einem achtzehnjährigen Studenten, sollte er eine exklusive und possessive Leidenschaft für die Philosophie haben, sicher nicht leicht fallen, nachzuvollziehen oder sich vorstellen zu können, was die Entdeckung des theoretischen Denkens von Marx für mich, für eine ganze Generation bedeutet hat. Sicher werden sich die Studenten und Studentinnen von heute, genau wie wir damals, in der Zeit des antifaschistischen Krieges, unverändert für die griechischen Denker interessieren, für die klassischen Autoren der Philosophie, vor allem für die Giganten des deutschen objektiven Idealismus. Sicher gibt es für die Studenten und Studentinnen von heute auch zeitgenössische Philosophen, die ihnen dabei helfen, sich in der anarchischen Komplexität eines in schnellem Wandel befindlichen Universums zurechtzufinden, das unentwegt von sozialen und ideologischen Bewegungen umgewälzt und revolutioniert wird, insbesondere von den zügellosen Fortschritten der planetarischen Technologien; ein Universum, das von dem Zusammenbruch der traditionellen Imperien in seinen Grundfesten erschüttert worden ist. Es wird Theorien geben, die ihnen helfen, eine Moral des Engagements, der klaren Analyse und des intellektuellen Abenteuers aufzustellen. Aber ich glaube andererseits nicht, dass einer dieser Autoren, so wichtig sie auch sein mögen, so sehr sie es auch verdienen, studiert und gehört zu werden, heute eine vergleichbare theoretische und praktische Begeisterung wecken könnte, wie die Entdeckung von Marx durch meine Generation. Ich möchte mich auf diese knappe Behauptung beschränken. Um dieses Thema nämlich wirklich aufzurollen, würde die wenige Zeit, die mir für diese kurze Danksagung zur Verfügung steht, keineswegs ausreichen. Dafür wäre ein ganzes Semester an dieser philosophischen Fakultät notwendig, und da wir in Potsdam sind, am besten ein Sommersemester, nicht wahr? Dennoch will ich es wagen, hier zwei Beobachtungen oder Kommentare zu skizzieren. Als erstes möchte ich - und das halte ich für eine Verpflichtung intellektueller Redlichkeit - meine aktuelle Beziehung, in diesem konkreten historischen Moment, zum Denken von Marx, zum Marxismus von Marx - wie Raymond Aron und Kostas Papaïannou zu sagen pflegten - erläutern. Natürlich bedeutet das blutige oder blutrünstige Scheitern der Russischen Revolution sowie aller Revolutionen, die sich in der Folge vom Leninismus inspirieren ließen, die Verpflichtung, auf das Schärfste zwischen dem originellen, fragmentarischen, nicht geschlossenen, manchmal widersprüchlichen und schwankenden Denken von Marx selber und dem seiner Epigonen zu unterscheiden, angefangen bei dem Schlimmsten, bei dem, der das meiste Unheil gebracht hat, Wladimir Iljitsch Lenin, ein großer Kriegsherr, ein guter Taktiker, ein miserabler Philosoph, 85 der keinerlei moralische Skrupel kannte und Schuld an der ersten ideellen und praktischen Vereisung trägt, die den Weg für den Stalinismus frei machte - ein Phänomen, das heute ausreichend untersucht worden ist. Diese deutliche Unterscheidung, diese Rückkehr zum ursprünglichen Marxismus ist sicher eine akademische Aufgabe, ohne große praktisch-historische Auswirkungen. Es ist ein Unterfangen, dessen positive Ergebnisse, sollte es sie geben, unmöglich bewertet werden können. Das hat man schon hier und da einmal versucht, und im allgemeinen, man weiß nicht warum, in Ländern, in denen die historisch-kulturelle Tradition das Entstehen von starken kommunistischen Massenparteien zum Glück verhindert hat. Auf jeden Fall war die Rückwendung zu Marx nicht nur ein widersprüchliches - jeder Autor hat beim ursprünglichen Marx die Rechtfertigung für seine eigene Dissidenz gesucht -, sondern immer auch nur ein minoritäres, fast vertrauliches Unterfangen, das sich auf universitäre Kreise beschränkte. Ich persönlich muss in diesem Kontext eine entschiedene, aber ziemlich dialektische, also eine in sich, in ihrem eigenen Gehalt widersprüchliche Meinung äußern, die aber sowohl in ihrem positiven wie negativen Aspekt aussagekräftig ist. Ich werde das in wenigen Worten sagen und laufe dabei natürlich Gefahr, unzulässig zu reduzieren oder zu schematisieren. Ich möchte sagen, dass der Marxismus heute, auch wenn er auf seine konfuse und aufkeimende originäre Reinheit zurückgeführt wird, d.h. frei von allen Zugaben und Abweichungen des Leninismus ist, seien sie stalinistischen oder trotzkistischen Ursprungs, dieser gereinigte Marxismus könnte dennoch heute niemals mehr auf historischer Ebene wirksam sein, d.h. im sozialen Kampf, der eine mehr oder weniger aktive Beteiligung der Massen bedeutet. Der Marxismus von Marx kann heute - zum Glück oder Unglück - nur noch als eine interessante geistige Übung angesehen werden, geeignet für internationale Seminare auf höchster Ebene, aber mit bescheidenen Einflussmöglichkeiten. Aber sofort muss ich hinzufügen, im gleichen konzeptionellen Bogen, dass der Marxismus von Marx ohne Zweifel heute aktueller ist denn je, wenn man die analytische Art und Weise betrachtet, wie er die Mechanismen der kapitalistischen Marktwirtschaft erforscht und aufgedeckt hat und dabei seine prophetischen Aspekte, seien sie Voraussagen oder Predigten, außer Acht lässt. Die heutige globalisierte kapitalistische Gesellschaft ähnelt in der Tat viel mehr dem, was Marx in seinen Manuskripten von 1857/ 1858 beschreibt, den berühmten Grundrissen, als dies für die Gesellschaft seiner Zeit zutraf. Manche halten die Grundrisse für Skizzen und Vorarbeiten zu dem Werk, welches Das Kapital wurde. In Wirklichkeit sind sie jedoch viel mehr: Sie erforschen theoretisch einen viel weiteren Horizont, eine Perspektive der Entwicklung des Kapitalismus, den der Lauf der Geschichte nur bestätigt hat. Trotz ihrer unorganischen, unvollständigen Form befassen sich die Grundrisse mit der entscheidend wichtigen Frage der vorhersehbaren Entwicklung des Kapitalismus, seinen permanenten Transformationen und dies auf eine Art, die viel hellsichtiger ist als die Bücher des Kapitals. Marx hat nämlich dieses letzte 86 Werk in Wirklichkeit nie beendet, weil es nicht beendet werden kann, es behandelt lediglich einen Teil des vorhersehbaren historischen Horizonts, mit dem sich die Grundrisse so meisterhaft beschäftigt haben. Um diesen Punkt abzuschließen, möchte ich noch hinzufügen, dass der Marxismus die Jugend meiner Generation nicht wegen seines proklamierten wissenschaftlichen Charakters oder wegen der vermeintlichen globalen Kohärenz seiner Weltanschauung verlockt, verführt oder begeistert hat: Wir erwarteten vom Marxismus nicht die Gewissheiten einer strengen Wissenschaft, sondern die Losungen für eine revolutionäre Aktion. Wir wiederholten voller Freude die berühmte These von Marx über Feuerbach, in der behauptet wird, dass die Philosophen sich bislang darauf beschränkt hatten, die Welt nur verschieden zu interpretieren, wo es doch darauf „ankommt, sie zu verändern“. Das klang gut, war kriegerisch und eloquent, aber doch nichts weiter als ein Sophismus: Man kann nur das umwandeln, was man korrekt interpretiert hat. Das hat die Geschichte bis zum Überdruss gelehrt. Was uns am Marxismus interessierte und mobilisierte war das metaphysische Postulat über die Existenz einer universellen Klasse, des Proletariats, dessen historische Aufgabe darin bestand, die Klassengesellschaft zu beseitigen und darüber hinauszugehen. Vor vielen Jahren habe ich diese Frage in meinem Roman Was für ein schöner Sonntag so formuliert: Aber jener blinde Punkt in der Theorie von Marx [...] ist auch sein verblendender Punkt. Ich meine damit den Brennpunkt, in dem die ganze grandiose Illusion der Revolution erstrahlt. Ohne jene falsche Vorstellung von der universalen Klasse wäre der Marxismus nicht zu der materiellen Macht geworden, die er gewesen ist, die er teilweise noch immer ist, indem er die Welt grundlegend umwandelt, sei es auch, um sie noch weniger lebenswert zu machen. Ohne jene Verblendung wären wir keine Marxisten geworden. Nur um die Produktionsmechanismen des Mehrwerts abzubauen, nur um die Fetichismen der Unternehmergesellschaft zu enthüllen, ein Gebiet, auf dem der Marxismus unersetzlich ist, wären wir keine Marxisten geworden. Wir wären Professoren geworden. Der tiefe Un-Sinn des Marxismus, der konzipiert wurde als Theorie einer universalen revolutionären Praxis, ist unser Lebenssinn gewesen. Meiner jedenfalls. Ich habe also keinen Lebenssinn mehr. Ich lebe ohne Sinn.1 Das schrieb ich in dem Roman Was für ein schöner Sonntag. Würde ich das heute auch sagen? Natürlich nicht. 1980, als ich das Buch schrieb, hatte ich meine Trauerarbeit noch nicht beendet, hatte ich die letzten Konsequenzen noch nicht gezogen. Heute würde ich das nicht mehr sagen. Heute möchte ich andere Dinge über den Sinn des Lebens sagen, über meine neuen Gründe, zu leben. Auch wenn ich unverändert denke, dass Leben Überleben ist. Das meine, auf jeden Fall. 1 Semprún, Jorge: Was für ein schöner Sonntag“ - Aus dem Franz. von Johannes Piron. - Frankfurt/ M.: Suhrkamp, 1999, 155. 87 Es war an einem Januartag, 1944, am frühen Morgen. Es war in Buchenwald. Wir hatten das Ende eines langen Wegs der Initiation erreicht. Nach der Zeremonie der Desinfizierung gelangten wir durch einen Tunnel des Gebäudes in die ‘Effektenkammer’. Wir kamen nackt an, wie Neugeborene. Oder besser gesagt, wie künftige Kadaver. Es war sowohl Tod wie Geburt. Ein Abschnitt des Lebens ging zu Ende, eine Epoche des Todes begann. Auch wenn wir noch nichts Genaues über die Existenz wussten, die wir in Buchenwald führen würden, hatten wir bereits ein vages Bewusstsein für die Situation. In dem langen Gang der ‘Effektenkammer’ warfen ein paar Männer von einem an der Seite stehenden Tisch uns, die wir vorbeigingen, ein paar Kleiderstücke hin, eher Lumpen, nachdem sie sicher einen Blick auf uns geworfen hatten, um die Größe und Beschaffenheit eines jeden auszumachen. Diese Männer waren nicht die Militärs der Waffen-SS, die uns seit dem Lager von Compiègne, in Frankreich, begleitet und bewacht hatten; es waren auch keine Nazi-Funktionäre, denn ihre Ausstattung war anders, sie trugen auf der Brust ein rotes Dreieck und eine Nummer, in die Jacke auf der Höhe des Herzens eingenäht; es waren Männer, die weder brüllten noch uns beleidigten wie die Soldaten und Unteroffiziere der Waffen- SS es bislang gemacht hatten; nein, diese Männer hier waren erstaunlich ruhig. Sie gaben uns Zivilkleidung, aber die Teile gehörten nicht zueinander, passten auch nicht und wirkten irgendwie komisch oder tragisch absurd. Am Ende des Ganges, angezogen wie die Clowns, standen wir dann vor einem langen Tisch, wo unsere Identitäten auf Karteikarten festgehalten wurden. Ich kam an die Reihe, sagte meinen Vor- und Nachnamen, das Alter, die Nationalität. Dann fragte mich der deutsche Deportierte, der meine Karteikarte ausfüllte, ein Mann von etwa 40 Jahren, mit einem eisigen, stahlblauen Blick, einem verzweifelten Blick - wie aus einem jenseitigen Leben - nach meiner Tätigkeit. „Beruf? “, fragte er. Aber ich habe diese Geschichte, diese Episode von meiner Ankunft in Buchenwald ja schon erzählt. Susan Rubin Suleiman, eine amerikanische Professorin der Harvard University, widmet ein Kapitel ihres Essays Crises of Memory and the Second World War darauf, die Beziehung zwischen Zeugnis und Fiktion in meinen Erinnerungsbüchern über die Erfahrungen von Buchenwald zu analysieren. Und sie führt die vielen Variationen dieser Episode auf, vier oder fünf, die sich alle leicht voneinander unterscheiden. Von dieser Unterschiedlichkeit ausgehend leitet Susan Rubin Suleiman ein paar Beobachtungen ab oder zieht Schlussfolgerungen, die den Sinn des Erzählens und des literarischen Schaffens betreffen. Interessante Beobachtungen. Damit will ich sagen: Sie haben auch mich, den Erzähler, interessiert. Ich werde sie hier natürlich nicht aufführen. Ich möchte nur sagen, dass vermutlich noch 88 weitere Fassungen zu den bereits existierenden dieser Episode hinzukommen werden. Denn die Erinnerung ist, zunächst einmal, unerschöpflich. Und dann auch, weil die Gesichtspunkte sich ändern, weil die Intentionalität der Erzählung eine andere wird. In dem Buch, an dem ich jetzt arbeite, Exercices de survie, weil sich dieses Buch auf Französisch schreibt, komme ich ausführlich auf die Episode mit der Karteikarte zurück. „Beruf? “, fragte mich der deutsche, unbekannte Kamerad. „Student“, antwortete ich ihm. Und fügte hinzu: „Philosophiestudent, genauer gesagt“. Er schaute mich lange an, mit einem gewissen Mitleid, aber mit Sympathie. „Das ist doch kein Beruf“, sagte er. Ich bestand auf meiner Antwort: „Kein Beruf, aber eine Berufung! “ Er schaute mich wieder an, noch überraschter, mit noch mehr Mitleid. Auch mit mehr Sympathie, glaube ich zu erinnern. Er erklärte mir kurz, warum es in Buchenwald besser war, einen Beruf zu haben und, noch besser, ein Spezialist zu sein: ‘Facharbeiter’. Ich bestand auf meiner Aussage ‘Philosophiestudent’, denn das war ich, nichts anderes, ich konnte auch nichts anderes sein. Er verabschiedete mich mit einer gebieterischen Handbewegung. Ich dachte, er habe sich damit abgefunden und mich als ‘Student’ eingetragen. Erst ein halbes Jahrhundert später, bei meinem ersten Besuch in Buchenwald 1992, habe ich erfahren, dass er nicht ‘Student’ auf meiner Karteikarte eingetragen hatte, sondern ‘Stuckateur’, sicher wegen der phonetischen Assoziation. Da wusste ich, dass mir jener deutsche unbekannte Kommunist wahrscheinlich das Leben gerettet hatte, da er mich als ‘Fach-arbeiter’ davor bewahrt hatte, direkt nach der Quarantäne auf eines der mörderischen Außenkommandos geschickt zu werden, wie zum Beispiel das von Dora. Sie sehen also, dass ich in einem neuen Buch noch einmal auf diese Episode zurückkommen werde, mit phänomenologischer Präzision, um ihre Bedeutung in der ganzen Tiefe zu erforschen: Immer bleiben Dinge, die es noch zu entdecken gilt. Übungen zum Überleben, genau darum geht es. Mein Leben heißt Überleben. Verholfen haben mir dazu Glück, Solidarität und die Philosophie. (aus dem Spanischen von Michi Strausfeld)