eJournals lendemains 35/137

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2941-0843
Narr Verlag Tübingen
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2010
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Ch. Grivel: Alexandre Dumas, l’homme 100 têtes

2010
Michael Hohmann
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159 Comptes rendus ter einer interdisziplinär ausgerichteten Germanistik deutlich, der mit seinem Anspruch, wissenschaftliche Erkenntnisse medial zu vermitteln, seiner Zeit wiederum voraus war. Gaby Sonnabend (Heidelberg) CHARLES GRIVEL: ALEXANDRE DUMAS, L’HOMME 100 TETES. VILLENEUVE D’ASCQ, PRESSES UNIVERSITAIRES DU SEPTENTRION, 2008. 3 Der emeritierte Professor der Universität Mannheim, nach Stationen in Holland; Brasilien, Québec, Costa Rica und Frankreich, hat sich in seinen Forschungen neben der fantastischen Literatur und der Literatur des fin de siècle über lange Jahre dem großen Erzähler Alexander Dumas gewidmet. So ist der im vergangenen Jahr erschienene umfangreiche Band Alexandre Dumas, l’homme 100 têtes, wie eine Summe oder summum seiner Beschäftigung des von ihm geschätzten, ja bewunderten Sohnes eines Generals der Republik, Abkömmling einer afrikanischen Sklavin und eines ausgewanderten nordfranzösischen kleinen Adligen zu verstehen. In fünf teilweise sehr umfangreichen Kapiteln finden sich überarbeitete Versionen von zum Teil zuvor an verschiedenen Stellen publizierten Aufsätzen wieder, allein deshalb ist dieses Buch schon eine Freude für die Dumasiens wie für Freunde einer literarisch-archäologischen Literaturwissenschaft: Schicht für Schicht wird das Geheimnis und der Grund des Vielschreibers freigelegt. Eine Arbeit, die so voller Leseerfahrungen steckt, wie sie kein zweiter in diesem Feld bewerkstelligt. Den Hintergrund der Betrachtungen Grivels liefern Dumas’ Memoiren, für den Beginn seines Lebens, und sein Grand dictionnaire de cuisine für den rückblickenden Schluß. Dort und in seinem ganzen Werk finden sich die Momente, wenn auch nicht biographisch im strengen Sinne, die erst in der ganzen Schau die Linie des Lebens wie des Werks ausmachen. Von den hunderten Werken, die uns Alexandre der Große hinterlassen hat, hat das wache Auge von Charles Grivel an die hundert ausgelesen - die Drei Musketiere und der Graf von Monte-Cristo spielen praktisch keine Rolle - und ist somit eine Referenz sondergleichen für alle, die sich nach ihm über diesen Autor auslassen wollen. Die detailreiche Analyse setzt bei dem Vertrag an, den der Erzähler oder mehrere Erzähler, in letzter Instanz natürlich Dumas selbst, mit dem Leser schließt. Dies ist eine alte Geschichte. Doch genau hier setzt die Beharrlichkeit an, wie Grivel aufzeigt, mit der Dumas durch eine wieder und wieder verschachtelte Angabe von Quellen und minutiösen Angaben von Ort und Zeit dem Leser die Wirklichkeit und Wahrhaftigkeit regelrecht aufdrängt, daß er nicht den geringsten Zweifel an der geschichtlichen Treue der Erzählung hegen kann. Anekdotenhaft wird dies deutlich an Dumas’ höchstpersönlichem Besuch des Doktors Widemann in Heidelberg, Sohn desjenigen Scharfrichters, der Karl Sand, Mörder und politischer Attentäter in einem, bei Mannheim im Jahr 1820 in den Tod beförderte. Zum einen erfährt Dumas, daß das Schafott durch den Scharfrichter abgebaut und das Holz in seinem Landhaus verbaut wurde, damit das gleiche Holz nicht durch eine mindere Hinrichtung entehrt werde. Zum anderen nimmt er das Schwert in Augenschein, auf dem der Rost ihm, Dumas, als Spur des Blutes umgedeutet wurde. Dumas gibt gewissermaßen sein Letztes, schlüpft eins ums andere in die Rolle des Reporters, um die Wahrheit ans Licht und an den Mann zu bringen. Den Reporter gibt er, fast naturgemäß, insbesondere auf seinen vielfältigen Reisen in die Schweiz, nach Deutschland, in den Kaukasus, nach Italien und Spanien. Er benutzt jede Gelegenheit, um das, was er erzählt und schreibt, durch Zeugen zu belegen und noch nie Gehörtes den Lesern darzubieten. „L’auteur auquel nous avons affaire est le mieux informé du monde“ (49), so die Ausgangslage für Grivel. 3 Im gleichen Verlag erschien von Charles Grivel (ed.): Les vies parallèles d’Alexandre Dumas, 2008. 160 Comptes rendus Das Motiv fürs Schreiben liegt jedoch in der Reproduktion, genauer noch, in dem Neuzusammensetzen (recomposition) der Geschichte selbst. Wo der Historiker sich mit der Allgemeinheit des geschichtlichen Ereignisses befaßt, geht Dumas einen oder zwei Schritte weiter. Er möchte den Schock, den ein geschichtliches Ereignis wie beispielsweise die zwölf Stunden von Louis XVI in Varennes auslöst, in seinen Wellen, seinen Reaktionen im dichten Gewebe der Beziehungen beschreiben und damit festhalten, bzw. die komplexen Momente darstellen, die in ihrem Zusammenspiel erst zu einem geschichtlichen Ereignis werden. Der letzte Beweger und Bewegte ist und bleibt immer der einzelne Mensch mit seinen Gefühlen. Hier taucht eine klare Vorstellung von Geschichte auf, dessen Archäologe Alexandre Dumas sein will (60). Eine Panhistoire, so Grivel, die letztlich das stetige, ja rastlose Schreiben Dumas’, seine Vielschreiberei begründet: alles sagen, alles aufschreiben. Eine zweite Regel steht fest: Dumas schreibt faktenbasiert und frei, will sagen, er ist ungemein dokumentiert und erfindet das, wofür er keine Quellen hat. Auch nichts Neues, doch Dumas forciert das Spiel, denn es müsse ein zweites und ein drittes Mal darüber geschrieben sein, um ans Wahre zu gelangen. Eine tiefere Schicht, die Charles Grivel freilegt, betrifft den letzten anzunehmenden Grund für das viele Schreiben von Dumas. Wie bei allen Autoren anzunehmen, trifft Grivels Annahme, er schreibe vor allem für sich selbst, unumstößlich zu. Da er nun aber so viel schreibt, sich darin der Figur der Scheherezade annähert (72), unterscheidet er sich von anderen, und läßt ans Sprichwort denken, daß, wer viel sagt, etwas zu verbergen hat. Auf der Suche nach dem Geheimnis also, in der Annahme, daß nicht alles, aber ausreichendes über das Geheimnis zu finden sei, stößt Grivel auf die Négritude des Autors. Denn neben einer allgemein üblichen Erzählstrategie, der Verrätselung, finden sich, wie Grivel äußerst umfangreich und ergiebig nachweist, durchs gesamte Werk durchzogen ein Zusammenspiel von Schwarz und Weiß wieder. Im erzählerischen Untergrund wird die Schicht des „parler nègre“ freigelegt. Dies betrifft Namensgebungen von Mensch und Tier, aber auch „reelle“ schwarze oder farbige Figuren in seinen Romanen und Reiseberichten, und schließlich auch eine gewisse Obsession für den Wechsel von Hell und Dunkel, Schwarzwald und Montblanc (Les Alpes)! Dazu kommen drei Romane (Georges, La Tulipe noire und Le Meneur de loups) die sich den Schwarzen und dem Schwarzsein unmittelbar widmen. Das Biographische an dieser Beschäftigung wird deutlich an Dumas’ überlieferter Auseinandersetzung mit seinem Vaternamen Davy de la Pailletterie und seinem Mutternamen, genauer Großmutternamen Dumas’, einer schwarzen Sklavin von Santo- Domingo. Nebenbei gibt ihm seine Mutter, da er, bei der Geburt durch die Nabelschnur fast erdrosselt, dunkelblau zur Welt kam, den Spitznamen Berlick, was, wie Grivel nachweist, aufs Schwarze und Bastardhafte hinweist. Sein Schreiben, dies die Generalthese des Buches, dient dem Autor zur Weißwaschung oder Weißwerdung seines Namens Dumas, denn er erschafft sich ständig selbst neu! Zum Schluß dekliniert Grivel seine These durch unter dem Aspekt der Rolle der Jagd, des Kochens und seinem Verhältnis zu Tieren, alles drei eminent bedeutende Beschäftigungen von Alexandre Dumas. So wird die Parallele des Jägers und des Autors angespielt, die beide gleichermaßen mit ihrem wachen Blick, als Spurenleser gar, definiert sind. Und oft bringt die Jagd, neben dem Erlegen von Hasen oder Rebhühnern, den Erzähler auch erst auf die Geschichte, die am Ende erzählt wird (Le Château d’Eppstein). Und mit der Jagd, das erwähnt Grivel nicht, genauer mit dem Verkauf des erlegten Wildes, finanziert der junge Dumas seine erste Fahrt nach Paris. Und das Kochen, respektive Essen, wie das Töten der Tiere bei der Jagd, was für Dumas auch moralische Dimensionen besitzt, werden bei Grivel zu emblemhaften Spiegelungen seiner Grundproblematik: Wenn ich das Tier, also das, was ich erjage, und was mein Ziel ist, esse, inkorporiere ich gewissermaßen das Weiße ... oder, wenn es das falsche Tier ist, das Schwarze. Michael Hohmann (Frankfurt/ M.)