eJournals lendemains 35/137

lendemains
0170-3803
2941-0843
Narr Verlag Tübingen
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2010
35137

G. Mannes: Luxemburgische Avantgarde / G. Goetziner/G. Mannes/P. Marson (eds.): Exilland Luxemburg. 1933-1947.

2010
Walter Fähnders
ldm351370155
155 Comptes rendus einfach theoretisch festgestellt werden könne (Zwischen Realismus und Figuration: Auerbachs dezentrierter Realismus). Es reicht nicht, Literaturgeschichte nur gleichsam reflexhaft ‚gegen den Strich zu bürsten’; zu begreifen ist mit Auerbach, wie die Striche, mit denen und gegen die gebürstet wird, selbst Produkt der Aneignung der Geschichte sind: „verum et factum convertuntur“. Wie aktuell das ist, zeigt sich daran, wie solche Überlegungen selbst Auerbachs Verehrer provozieren. So ist der vorliegende Band nicht allein wertvoll als Sammlung überwiegend ausgezeichneter Untersuchungen zu Auerbach. Er zeigt zugleich an der Art und Weise, wie die Autoren auf Auerbachs Provokation reagieren, welche Sprengkraft sie abseits aller modischen Tagesaktualität bergen. Carlo Ginzburg empfiehlt einleitend die Konzentration auf die „blinden Flecke, deretwegen große Wissenschaftler die Elemente nicht sehen, mit deren Hilfe sie die Widersprüche und Schwächen ihres eigenen Werks überwinden könnten“ (45). Eine solche Lektüre wünscht man auch den Beiträgen dieses Bandes: Sie würde die hier bezeugte hochproduktive Arbeit ‚im Geiste Auerbachs’ fortsetzen. Jan Müller (Stuttgart) GAST MANNES: LUXEMBURGISCHE AVANTGARDE. ZUM EUROPÄISCHEN KULTUR- TRANSFER IM SPANNUNGSFELD VON LITERATUR, POLITIK UND KUNST ZWI- SCHEN 1916 UND 1922. ESCH/ ALZETTE: EDITIONS PHI 2007, 423 S. GEB. 33 € (ISBN 978-2-87962-235-4). GERMAINE GOETZINGER/ GAST MANNES/ PIERRE MARSON (EDS.): EXILLAND LU- XEMBURG. 1933-1947. SCHREIBEN, AUFTRETEN, MUSIZIEREN, AGITIEREN, ÜBER- LEBEN. [AUSSTELLUNGSKATALOG.] MERSCH: CENTRE NATIONAL DE LITTERA- TURE 2007, 308 S. KART. 25 EUR (ISBN 978-2-919903-24-5). Wie aufregend und innovativ die Beschäftigung mit Literatur und Kultur ‚kleiner’ Länder sein kann, machen zwei Publikationen über die historische Avantgarde und über das deutsche Exil in Luxemburg deutlich. Das Großherzogtum hat seine Identität wie seine Zwischen- und Mittlerposition zwischen deutscher und französischer Kultur vielfach zu bestimmen gesucht, und es ist gewiß kein Zufall, wenn die historische Avantgarde mit ihrem Anspruch auf Internationalität auch in dieser ‚kleinen’ Literatur eine Rolle gespielt hat. Welche das war, wissen wir nun Dank der akribischen und ergebnisreichen Untersuchung des luxemburgischen Literaturwissenschaftlers Gast Mannes, der bereits im Untertitel seines Buches die Richtung angibt: „europäischer Kulturtransfer“. Mannes legt einen Avantgardebegriff zugrunde, der sich an Peter Bürgers „Theorie der Avantgarde“ (1974) orientiert und dabei besonders den avantgardistischen Manifestantismus, wie er in den letzten Jahren von Wolfgang Asholt, Hubert van den Berg u.a. erarbeitet worden ist, betont. Zurecht, denn im untersuchten Zeitraum der Jahre vor und nach den Revolutionen von 1917/ 18, also der zweiten Hochzeit der historischen Avantgarde nach ihrem Aufbruch um 1910, dominieren die Proklamationen und Manifeste, und dies auch, wie wir nun wissen, im eher konservativ grundierten Luxemburg, in dem 1918 der Versuch eines republikanischen sozialistischen Umsturzes scheiterte. Es beginnt gut avantgardistisch mit „Wir! Manifest des ‘Cénacle des extrêmes’“ (39-41) in der ersten Nummer der „Voix des jeunes“ (1917) und zeitigt eine Fülle von Folgetexten, die auf eine intensive Rezeption von Expressionismus, Aktivismus, Futurismus, Dada und Zenitismus sowie der aktuellen Auseinandersetzung mit Kommunismus und Sozialismus verweist. Mannes präsentiert und analysiert das engmaschige Netzwerk eines derartigen Manifestantismus, aber auch anderer Textsorten (Lyrik, Essay), das zwischen Luxemburg und Avantgardezentren in Deutschland und Frankreich geknüpft wurde und sich in regem 156 Comptes rendus Textaustausch und Kulturtransfer äußert. Dabei ist Luxemburg auch Umschlagsplatz eines deutsch-französischen Kulturtransfers, das erste (und einzige) Heft von „Utopie“ (1920) trägt z.B. den Untertitel: „Wir fordern die Verbrüderung des deutsch-französischen Volkes“ (164). Die Avantgarde Luxemburgs schaffte sich eigene Periodika („Voix des jeunes“, „Die Schmiede“, „Der Kampf“, „Utopie“, „Der Junge Kommunist“) und tauschte sich mit Zeitschriften aus Paris („Les Humbles“, „Action“), Berlin („Die Aktion“, „Die Erde“), Köln („Der Strom“), Wien („Der Friede“), schließlich Zagreb („Zenit“) und anderswo aus. Eine Zentralfigur dabei ist der lange vergessene Pol Michels, 1 der in Frankreich wie in Deutschland mit seinen Texten präsent war, der sich seinerseits für Avantgardisten beider Länder in Luxemburg engagierte, gelegentlich auch als Dadaist auftrat und mit „Dada-duc“ zeichnete (172). Zudem existierte eine Luxemburger Clarté-Gruppe (Nicolas Konert), und an kontroversen Debatten der Zeit, so über die Rolle des Intellektuellen in der Revolution, nahmen auch die Luxemburger teil. Dies alles wird in dieser sorgfältigen, so kenntniswie detailreichen Studie erstmals aufgearbeitet. Sie ist weit mehr als Regionalforschung - diese im allerbesten Sinne aber auch - und erweitert merklich unser Bild von der historischen Avantgarde, von ihrer Internationalität und von den deutsch-französischen Literaturbeziehungen. Auf einen Kulturtransfer anderer Art verweist der Ausstellungskatalog über Luxemburg als Exilland für Flüchtlinge aus Nazi-Deutschland. Der ebenso reichhaltige wie ansprechend und äußerst professionell gestaltete Katalog dokumentiert Leben und Werk von exilierten Autoren, Bühnenkünstlern, Musikern, Politikern und anderen Emigranten oftmals jüdischer Herkunft. Seit 1933 suchten mehrere Tausend Emigranten in Luxemburg Asyl, die hier, soweit sie literarisch tätig waren, ein deutschsprachiges Publikum mit entsprechenden Publikationsbedingungen vorfanden und die bis Kriegsbeginn bzw. dem Überfall auf Luxemburg im Mai 1940 produktiv werden konnten, auch wenn Luxemburg oft nur Zwischenstation war. Unter literaturwissenschaftlichem Aspekt besonders interessant sind die Materialien über den kaum bekannten Autor Paul Scholl, der sich später den Internationalen Brigaden im Spanischen Bürgerkrieg anschließen wird, das Ehepaar Maria Gleit und Walter Victor, die heute noch am ehesten bekannt sein dürften, und Karl Schnog. Letzterer hätte eine Renaissance verdient, über ihn ist jüngst an anderer Stelle eine erste Auswahlbibliographie erschienen, die auch seine Luxemburger Arbeiten erschließt. 2 Auch insofern sind die Impulse aus Luxemburg in Sachen Exil und Avantgarde hoch willkommen. Walter Fähnders (Osnabrück) KATJA MARMETSCHKE: FEINDBEOBACHTUNG UND VERSTÄNDIGUNG. DER GER- MANIST EDMOND VERMEIL (1878-1964) IN DEN DEUTSCH-FRANZÖSISCHEN BE- ZIEHUNGEN, BÖHLAU VERLAG, KÖLN U.A. 2008 Mit der Abkehr von rein diplomatiegeschichtlichen Fragestellungen bei der Untersuchung der deutsch-französischen Beziehungen im 20. Jahrhundert gerieten zunehmend kulturelle Mittlerfiguren in den Fokus des Forscherinteresses. Diese verkehrten nicht nur in beiden Ländern und kannten die existierenden Bilder und Stereotypen übereinander, son- 1 Vgl. Pol Michels: Choix de textes, 1917-1922. Textes présentés, annotés et commentés par Gast Mannes. Mersch: Editions du Centre national de littérature, 2004. 2 Schnog-Bibliographie sowie Texte von und über Karl Schnog in: Deutsches Lied. Hrsg. Gregor Ackermann/ Walter Delabar/ Carsten Würmann. 2 Bde. Bd. 1: Von den Hymnen bis zum Baum der Schmerzen. Bielefeld: Aisthesis, 2007 (=JUNI. Magazin für Literatur und Politik. Heft 39/ 40).