eJournals lendemains 35/137

lendemains
0170-3803
2941-0843
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/
2010
35137

M. Treml/K. Barck (eds.): Erich Auerbach

2010
Jan Müller
ldm351370153
153 Comptes rendus weise zu Tage tretenden Resilienz O’Rileys gegenüber einer Problematisierung der von ihm verwendeten Begrifflichkeiten gelingt es der Studie somit, auch jene Momente aufzuzeigen, in denen Djebar über den bereits bestehenden postkolonialen Theoriehorizont hinausgeht und damit ihrerseits eine kritisch-innovative Form postkolonialer Geschichtsschreibung praktiziert. Beatrice Schuchardt (Siegen) MARTIN TREML/ KARLHEINZ BARCK (EDS.): ERICH AUERBACH. GESCHICHTE UND AKTUALITÄT EINES EUROPÄISCHEN PHILOLOGEN, BERLIN, KADMOS, 2007, 512 S. Als Mitteilung der Beiträge zu der 2004 vom Berliner „Zentrum für Literaturforschung“ ausgerichteten Tagung zu Werk und Persönlichkeit Erich Auerbachs präsentiert der vorliegende Band zugleich Querschnitt und Summe der gegenwärtigen Auerbach-Forschung. Das hatten die Herausgeber wohl auch im Sinn, als sie die Annäherung an „Geschichte und Aktualität eines europäischen Philologen“ in sechs Blöcke gliederten: „Auerbachs Anfänge“, „Korrespondenzen“, „Orte“, „Konzepte“, „Nachleben“ und „Spuren“. Letztere umfassen dreizehn bislang verstreut publizierte oder unbekannte Texte Auerbachs, darunter neben Briefwechseln die zentralen „Epilegomena zu Mimesis“, die frühen Abhandlungen „Romantik und Realismus“ (1933) und „Über die ernste Nachahmung des Alltäglichen“ (1937); schließlich ist dem Band eine CD mit der Aufzeichnung des bislang unbekannten, 1948 am Pennsylvania State College gehaltenen und nun von Martin Vialon transkribierten und edierten Vortrags „The three traits of Dante’s poetry“ beigegeben. Auf solche „Spuren“ läuft sachgemäß die Behandlung der Geschichte des „europäischen Philologen“ Erich Auerbach hinaus. Sie besteht in der Mitteilung persönlicher Erinnerungen daran, wie Auerbachs Lehre selbst vom diskursiven Impetus des sermo humilis getragen war (Geoffrey H. Hartmann), und der Rekonstruktion seiner Lebensstationen (Kader Konuk, Martin Treml). Über Auerbachs Freundschaften (Johannes O. Riedner zu E.A. und S. Kracauer, Manfred Naumann mit einer einfühlsamen Ausdeutung von „Auerbach im Fühlen und Denken von Werner Krauss“) wird der persönliche mit dem geistesgeschichtlichen Kontext verschränkt. So erweitert sich die Würdigung der Person zu einer „intellektuellen Topographie“ - Karlheinz Barcks Portrait entwickelt sie meisterhaft für Auerbachs Umfeld in den 20er Jahren (Auerbach in Berlin) -, die auch Auerbachs Stellung in den zeitgenössischen Debatten (Robert Stockhammer zu E.A. und E.R. Curtius, Petra Bodens Referat der schulspezifischen Rezeptionen von „Mimesis“) und seine Nachwirkung zu beurteilen erlaubt. Edward Saïd etwa schulte an Auerbach sein ausgeprägtes Misstrauen gegen abstrakte Begriffsbildung; der „kontrapunktische Eurozentrismus“ und das Konzept vom „weltzugewandten Kritiker“ markieren einen „auerbach’schen Zug“ seines Denkens (Herbert Lindenberger und - gelungen - Jane O. Newman über „Saïds Auerbach und die ‚neue’ Komparatistik“). Carlos Rincón rekonstruiert konzise, wie Auerbach in literatur- und kulturwissenschaftlichen Debatten Lateinamerikas als moderne Legitimationsfigur der eigenen literarischen Mischtradition aufgenommen wurde. Erst mit den Diskussionen zu Postmoderne und „Magischem Realismus“ habe Walter Benjamin Auerbach in dieser Referenzfunktion abgelöst. - Freilich geschieht es leicht, dass über solche kontextuellen Einsortierungen spezifische Differenzen verloren gehen. So wäre zur Engführung der Überlegungen Auerbachs und Walter Benjamins Deutlicheres zu sagen, als bloß eine über Zeitgenossenschaft motivierte Familienähnlichkeit der Konzepte beider zu konstatieren (Robert Kahn über E.A. und W. Benjamin). Im selben Sinn scheint es Richard Faber mit der Einordnung Auerbachs in eine Geschichte des „modernen Marcianismus“ („Humilitas sive sublimitas. E.A.s Literaturreligionssoziologie im Kontext modernen Marcionismus“) eingedenk dessen kritischer Lektüre des Tertullian-Kommentars eher um eine 154 Comptes rendus „große Erzählung“ der Säkularisierung in Anknüpfung an Jacob Taubes zu gehen, als um die systematische Reflexion Auerbachs doch gerade nicht geschichtsphilosophisch motivierter Metareflexionen historischer Bibellektüren. In solchen Aneignungsweisen prävaliert eine gewisse Musealisierung, ein Eindruck, den die fehlende Einbindung der beigegebenen „Spuren“ in die Beiträge des Bandes verstärkt. Sie werden ausnahmslos nach ihrer Erstveröffentlichung zitiert; gern würde der Leser an entsprechender Stelle auf ihre Edition im Anhang verwiesen, um den prominenten Auerbachlesern synchron beim „Spurensuchen“ nachspüren zu können. Ungeschickt auch, dass Martin Vialons Beitrag (Die Stimme Dantes und ihre Resonanz. Zu einem bisher unbekannten Vortrag Erich Auerbachs aus dem Jahr 1948), der Einleitung und Kommentar zum Dantevortrag von 1948 ist, ohne Querverweis im vorderen Drittel steht, während die (ebenfalls von Vialon gründlich edierte) Transkription des Vortrags ebenfalls ohne Rückverweis auf den Kommentar im Anhang platziert ist. Immerhin will der Band Auerbachs Aktualität bezeugen. Aber ist Auerbachs „Aktualität“ so fraglich, dass sie gegen (fingierte) Anwürfe bewiesen werden müsste? Und meint „Aktualität“ dann mehr als die Feststellung, dass Auerbach auch zu rezenten Fragen etwas beitragen oder - vollendeter Anachronismus - gar hätte „prognostizieren“ können? Hans- Jörg Neuschäfers streitlustiger Beitrag nimmt die Frage nach Auerbachs „Aktualität“ als die nach seiner Relevanz; und relevant ist Auerbach, insofern sein eigener sermo humilis entgegen einer durch exaktes Wissenschaftsvokabular geprägten Überformung der kulturwissenschaftlichen Praxis die stetige sinnkritische Reflexion auf die Form seiner eigenen Gegenstandsbetrachtung umfasst. Dass Auerbach gleichwohl das didaktische Verhältnis von Haupthandlung und Nebenepisoden im „Don Quijote“ übersehe und so seinen eigenen „doppelten Relativismus“ unterlaufe, zeige, so Neuschäfer, nur eine lässliche „Betriebsblindheit“. Neuschäfer selbst nimmt indes Auerbachs „Provokation“ womöglich nicht ernst genug, wenn er dessen ambivalente Interpretation der modernen Literatur lediglich als Ausdruck eines letztlich geschichtsphilosophisch begründeten „Kulturpessimismus“ abtut. Diane Meur (Auerbach und Vico: Die unausgesprochene Auseinandersetzung) zeigt überzeugend, wie Auerbachs Aneignung von Vicos „Neuer Wissenschaft“ die Übernahme platonischer Argumente vermeidet und auf die Darstellungsprinzipien genetischer Rekonstruktion fokussiert. Dadurch sei die Geltungsfrage gerade nicht geschichtsphilosophisch beantwortbar; Auerbachs Geschichtsauffassung sei „weder pessimistisch noch optimistisch, sondern unteleologisch und nüchtern deskriptiv“. Das Geltungsproblem des „doppelten Relativismus“ fungiert als gemeinsames, untergründiges Leitmotiv der systematischen Beiträge des Bandes. In vorbildlicher Klarheit verdeutlicht Leopoldo Waizbort (E.A. im Kontext der Historismusdebatte), wie Auerbach sich mit seinem Anschluss an Vico in der zeitgenössischen Historismusdiskussion gegen „Volksgeist“-Konzepte romantischer Provenienz verortete. Er verweigere sich sowohl einem historischen, wie auch einem geltungstheoretischen Relativismus; gleichwohl sei die situativ vom Gegenstand ausgehende und prinzipiell unabschließbare Aneigung des literarischen Werks durch den Philologen keineswegs beliebig, sondern Objekt eines „dialektisch-dramatischen Vorgangs“. Diese Auffassung unterscheidet Auerbach etwa von Karl Löwith, der allzu bereitwillig diese Dramatik durch den Rückzug auf eine einfältige stoizistische Geschichtserzählung beruhigte (Matthias Bormuth: „Menschenkunde zwischen Meistern - E.A. und K. Löwith im Vergleich“), und sie unterstreicht die ausgesprochene Wahlverwandtschaft zu Hegel. Auerbachs Gegenstand sind die sprachlichen Artikulationen spezifischer praktischer Weltverhältnisse, die Wirklichkeit, wie sie sich am Widerstand bildet, den die Welt dem Tun der Menschen entgegensetzt (Ernst Müller: „Auerbachs Realismus“). Flankierend argumentiert Luiz Costa Lima, Auerbach sei es mit seinem Realismuskonzept und dem Denkbild der figura um ein Denken der Geschichte „ohne telos“ zu tun, mithin einer Geschichte, deren Verlauf zwar rekonstruiert, aber nicht 155 Comptes rendus einfach theoretisch festgestellt werden könne (Zwischen Realismus und Figuration: Auerbachs dezentrierter Realismus). Es reicht nicht, Literaturgeschichte nur gleichsam reflexhaft ‚gegen den Strich zu bürsten’; zu begreifen ist mit Auerbach, wie die Striche, mit denen und gegen die gebürstet wird, selbst Produkt der Aneignung der Geschichte sind: „verum et factum convertuntur“. Wie aktuell das ist, zeigt sich daran, wie solche Überlegungen selbst Auerbachs Verehrer provozieren. So ist der vorliegende Band nicht allein wertvoll als Sammlung überwiegend ausgezeichneter Untersuchungen zu Auerbach. Er zeigt zugleich an der Art und Weise, wie die Autoren auf Auerbachs Provokation reagieren, welche Sprengkraft sie abseits aller modischen Tagesaktualität bergen. Carlo Ginzburg empfiehlt einleitend die Konzentration auf die „blinden Flecke, deretwegen große Wissenschaftler die Elemente nicht sehen, mit deren Hilfe sie die Widersprüche und Schwächen ihres eigenen Werks überwinden könnten“ (45). Eine solche Lektüre wünscht man auch den Beiträgen dieses Bandes: Sie würde die hier bezeugte hochproduktive Arbeit ‚im Geiste Auerbachs’ fortsetzen. Jan Müller (Stuttgart) GAST MANNES: LUXEMBURGISCHE AVANTGARDE. ZUM EUROPÄISCHEN KULTUR- TRANSFER IM SPANNUNGSFELD VON LITERATUR, POLITIK UND KUNST ZWI- SCHEN 1916 UND 1922. ESCH/ ALZETTE: EDITIONS PHI 2007, 423 S. GEB. 33 € (ISBN 978-2-87962-235-4). GERMAINE GOETZINGER/ GAST MANNES/ PIERRE MARSON (EDS.): EXILLAND LU- XEMBURG. 1933-1947. SCHREIBEN, AUFTRETEN, MUSIZIEREN, AGITIEREN, ÜBER- LEBEN. [AUSSTELLUNGSKATALOG.] MERSCH: CENTRE NATIONAL DE LITTERA- TURE 2007, 308 S. KART. 25 EUR (ISBN 978-2-919903-24-5). Wie aufregend und innovativ die Beschäftigung mit Literatur und Kultur ‚kleiner’ Länder sein kann, machen zwei Publikationen über die historische Avantgarde und über das deutsche Exil in Luxemburg deutlich. Das Großherzogtum hat seine Identität wie seine Zwischen- und Mittlerposition zwischen deutscher und französischer Kultur vielfach zu bestimmen gesucht, und es ist gewiß kein Zufall, wenn die historische Avantgarde mit ihrem Anspruch auf Internationalität auch in dieser ‚kleinen’ Literatur eine Rolle gespielt hat. Welche das war, wissen wir nun Dank der akribischen und ergebnisreichen Untersuchung des luxemburgischen Literaturwissenschaftlers Gast Mannes, der bereits im Untertitel seines Buches die Richtung angibt: „europäischer Kulturtransfer“. Mannes legt einen Avantgardebegriff zugrunde, der sich an Peter Bürgers „Theorie der Avantgarde“ (1974) orientiert und dabei besonders den avantgardistischen Manifestantismus, wie er in den letzten Jahren von Wolfgang Asholt, Hubert van den Berg u.a. erarbeitet worden ist, betont. Zurecht, denn im untersuchten Zeitraum der Jahre vor und nach den Revolutionen von 1917/ 18, also der zweiten Hochzeit der historischen Avantgarde nach ihrem Aufbruch um 1910, dominieren die Proklamationen und Manifeste, und dies auch, wie wir nun wissen, im eher konservativ grundierten Luxemburg, in dem 1918 der Versuch eines republikanischen sozialistischen Umsturzes scheiterte. Es beginnt gut avantgardistisch mit „Wir! Manifest des ‘Cénacle des extrêmes’“ (39-41) in der ersten Nummer der „Voix des jeunes“ (1917) und zeitigt eine Fülle von Folgetexten, die auf eine intensive Rezeption von Expressionismus, Aktivismus, Futurismus, Dada und Zenitismus sowie der aktuellen Auseinandersetzung mit Kommunismus und Sozialismus verweist. Mannes präsentiert und analysiert das engmaschige Netzwerk eines derartigen Manifestantismus, aber auch anderer Textsorten (Lyrik, Essay), das zwischen Luxemburg und Avantgardezentren in Deutschland und Frankreich geknüpft wurde und sich in regem