eJournals lendemains 35/137

lendemains
0170-3803
2941-0843
Narr Verlag Tübingen
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2010
35137

M. O’Riley: Postcolonial Haunting and Victimization. Assia Djebar’s New Novels

2010
Beatrice Schuchardt
ldm351370149
149 Comptes rendus nicht mehr so zwingend wie die bisherige Argumentation: Im Vergleich der Todesszenen Esmeraldas und Emmas (Kap. 7) webt Zollinger zwar selbst ein „dichtes Netz an Verweisen, das Flaubert zwischen Ovid und Hugos Text in seinen eigenen Roman eingesponnen hat“ (99), doch die Analyse des Todes Emmas vor der Folie des Todes von Esmeralda ist insofern problematisch, als Zollinger hier die Spinne auf zu vielen Ebenen und mit zu vielen Bedeutungen am Werk sieht: Nicht nur soll sie auf thematischer Ebene Esmeraldas und Emmas Opferschaft symbolisieren, auch ist sie die shifter-Figur von der thematischen auf die poetologische Ebene, was wohl bei Hugo, aber nicht ohne Weiteres bei Flaubert funktioniert: Dort muss die Verbindung zwischen Spinne, Tod und Text auf dem Umwegen konstruiert werden. Die Spinne in der Dachluke von Emmas Haus als Symbol des „ennui“ führt dabei zwar zur Todesszene mit dem Erbrechen der schwarzen, tintenähnlichen Flüssigkeit als Zeichen von Emmas Melancholie - die klare poetologische Konnotation der Spinne, die sich bei Hugo findet, bleibt bei Flaubert aber aus. Von hier aus stellt sich die Frage, ob denn Hugos und Flauberts Schreibkonzepte wirklich so direkt miteinander konkurrieren, wie dies Zollinger vom Zentrum seines Assoziationsnetzwerks aus behauptet, bzw. genauer: was eigentlich auf dem Spiel steht, wenn Flaubert sich an Hugo abarbeitet. Zwar deckt Zollinger bisher wenig gesehene intertextuelle Verbindungen auf, belässt es aber im Ungefähren, welche Funktion bspw. die Verschiebung der Stadtbeschreibung von Paris bei Hugo in die ‘Architektur’ einer Flaubertschen Hochzeitstorte hat. Angesichts solcher Registerwechsel müsste deutlicher als Zollinger dies tut, wenn er von einem „leicht ironischen Erzählton“ (105) Flauberts spricht, herausgestellt werden, dass Flaubert Hugo nicht einfach überbieten, sondern ihn ironisieren will. Bei Flaubert ist die fatalité bezeichnenderweise nicht mehr das Konstruktionsprinzip eines ganzen Romans, sondern in erster Linie der lächerliche Ausspruch einer ironisierten fiktiven Person. Flauberts Weben ist somit nicht einfach die agonale Überbietung, sondern vor allem eine indirekte Distanzierung von der Ästhetik Hugos, deren Versatzstücke er Personen der erzählten Geschichte als romantische Klischees in den Mund legt. Man muss, um die Spielregeln dieser Distanzierung deutlich zu machen, nicht unbedingt die Folie bekannter Theoriemodelle bemühen, wie etwa Harold Blooms „anxiety of influence“ oder René Girards „mimetische Rivalität“, auf die Zollinger im Interesse der Lesbarkeit seiner Studie verzichtet. Dennoch hätte erst die theoretisch fundierte Frage nach der genauen Funktion der intertextuellen Beziehung zwischen Hugo und Flaubert das ganze Potenzial von Zollingers genauen und aufschlussreichen Textlektüren entfaltet. Jörg Dünne (München) O’RILEY, MICHAEL: POSTCOLONIAL HAUNTING AND VICTIMIZATION. ASSIA DJE- BAR’S NEW NOVELS, NEW YORK [U.A.]: PETER LANG 2007, 148 S. Michael O‘Rileys Studie zur Dialektik von postkolonialer Heimsuchung und Viktimisierung widmet sich anhand der Romane La femme sans sépulture, La Disparition de la langue française und Les nuits de Strasbourg den rezenteren Romanen Assia Djebars zu. Somit löst das Buch die Ankündigung des Titels zunächst einmal ein. Ein im Titel nicht adressierter, ebenfalls zentraler Themenkomplex des Buches, ist die zentrale Stellung der visuellen Ästhetik Djebars, welche zugleich die Grundlage für O’Riley Lektüre der genannten Romane - und somit das erste Kapitel - bildet. Entsprechend ist die Frage nach dem Sehen und seinen Bedingungen im postkolonialen Kontext für O’Riley eine wesentliche Voraussetzung für die Behandlung des von ihm gewählten Themenkomplexes: Gemeint ist eine Heimsuchung der ehemaligen Kolonien ebenso wie des Westens durch die gewaltsamen Strukturen der Kolonisierung, welche in der Gegenwart in Form von Extremismus, Selbstmordattentaten und Terrorismus zu Tage treten und wiederum eine Kriminalisierung der Migran- 150 Comptes rendus ten aus ehemaligen Kolonialstaaten zur Folge haben, die sich in der Einwanderungspolitik westlicher Staaten zeigt. Ein solches, die ehemaligen Kolonialstaaten wie die ehemaligen Kolonialmächte gleichermaßen betreffendes Verharren in den Strukturen des Kolonialismus, gilt es zunächst einmal wahrzunehmen, um aus dem circulus viciosus kolonialer und nachkolonialer Gewalt heraustreten zu können. Dieser Teufelskreis gründet laut O’Riley in der gewaltsamen Unterwerfung der kolonisierten Staaten und der damit verbundenen Rolle des Kolonisierten als Opfer; eine Rolle, die sich „postkoloniale“ Staaten laut O’Riley ihrerseits zunutze gemacht haben, und die wiederum eine Perpetuierung der gewaltsamen Machtstrukturen des Kolonialismus auch nach seiner vermeintlichen Überwindung erlaubt. Die diskursive Konstruktion des „postkolonialen Subjekts“ als Opfer - welche O’Riley mit dem Begriff der „Viktimisierung“ (engl. „victimization“) benennt - stellt dabei zugleich eine Flucht nachkolonialer Regime aus der Verantwortung dar und ist wiederum an das Bild des Helden rückgekoppelt, der in nachkolonialen historischen Diskursen seinerseits zum Märtyrer stilisiert wird. Die hier bewusst vorgenommene Verwendung des Begriffs „postkolonial“ in Anführungszeichen deutet bereits auf ein wesentliches Dilemma der Studie O’Rileys hin: Dieses besteht in dem Fehlen einer Definition dieses Terminus, der in ganz unterschiedlichen und zum Teil konträren Sinnzusammenhängen verwendet wird. So bezeichnet der Begriff bei O’Riley ebenso einen historischen Abschnitt, welcher die Phase nach der Kolonisierung meint - etwa, wenn O‘Riley von „postkolonialen Staaten“ spricht -, wie er sich auf den Komplex der „postkolonialen Theorien“ bezieht. Kritische Stimmen wie die Bill Ashcrofts und Fernando de Toros haben bereits davor gewarnt, den Begriff des „Postkolonialen“ im Sinne einer - ohnehin illusorischen - Überwindung des Kolonialzeitalters, und damit als ein ‚Danach‘, zu verstehen. Vielmehr plädieren sie für ein kritisches Verständnis des Postkolonialen unter Berücksichtigung der Persistenz neokolonialer Strukturen. Durch jene fehlende Markierung und Problematisierung der möglichen Sinnzusammenhänge des „Postkolonialen“ in O’Rileys Studie, erklären sich auch zunächst widersprüchlich erscheinende Thesen, die Djebar zugleich als „postkoloniale Historikerin“ und als dem Trend der aktuellen „postkolonialen historiographischen Praxis“ zuwiderlaufend bewerten. Eine Stärke der Untersuchung ist hingegen ihre Wachsamkeit gegenüber den Stolpersteinen der Darstellung der Kolonialzeit im Kontext der postkolonialen Theoriebildung, die Gefahr läuft, sich in ihren diskursiven Strukturen und thematischen Schwerpunkten nicht wesentlich von den ideologisch behafteten Erzählungen nachkolonialer Staaten zu unterscheiden. So zeigt O’Riley nicht nur die Djebars späten Romanen zugrunde liegende Besonderheit, die Verknüpfung zwischen der historiographischen Repräsentation der Kolonialgeschichte im nachkolonialen Algerien und der dort vorherrschenden, politischen Ideologie der kulturellen Ausgrenzung zu reflektieren. Er macht uns zudem auf die mit dem Projekt Djebars verbundene Gefahr und mögliche Aporie aufmerksam, selbst einer Heimsuchung zum Opfer zu fallen. Diese Gefahr ist darin begründet, dass die Topoi des kolonialen Geschichtsdiskurses durch eine neuerliche Fokussierung von Opferrolle und Heldentum im Zuge der Aufdeckung einer verschütteten Kolonialgeschichte möglicher Weise reproduziert werden. Im ersten Kapitel seiner Untersuchung, „Visual Aesthetics and the Banality of Seeing“, zeigt O’Riley, wie sich Djebar mittels des von ihr in Ces voix qui m’assiègent entwickelten, kinotheoretischen Konzepts des „image-son“ als politisch engagierte Cineastin erweist. Als solche versucht sie einer Abstumpfung des Blicks angesichts der Allgegenwärtigkeit der Gewalt im historischen und gegenwärtigen Algerien mittels einer kinematographischen „Ästhetik der Spur“ zu begegnen, die Bild und Ton chiastisch verschränkt. Somit entsteht ein gegenwartsorientiertes Kino, das seinerseits als Gegenentwurf zu den rückwärtsgewandten Propagandafilmen des algerischen Nationalstaates fungiert und damit eine Neuperspektivierung der algerischen Identität erreicht. Für diese Identität steht bei Djebar, wie 151 Comptes rendus O’Riley herausarbeitet, die Metonymie des „nationalen Körpers“. Dieser Körper wird durch das am kinematographischen Realismus Pasolinis orientierte Filmschaffen Djebars in seiner Gegenwärtigkeit sichtbar gemacht. Jene gegenwärtige Präsenz ist, so O’Riley, die eines pluralistischen, organischen und dynamischen Algeriens, das somit der von der algerischen Kulturpolitik propagierten arabischen Monokultur entgegensteht. Für beide Algerien wählt O’Riley aufbauend auf Djebar eine sicherlich nicht unproblematische Dichotomie: die einer politisch ‚künstlich‘ geschaffenen und durch Gewalt geprägten „Realität“ der Einheit einerseits, und die einer ‚wahren‘ „algerischen Realität“ der Vielfalt andererseits. Letztere wird durch die Nachhaltigkeit der kolonialen Bildwelten von Helden und Opfern, die ihrerseits die politischen Diskurse Algeriens heimsuchen, verdeckt. Angesichts von O’Rileys nuancierter Skizzierung der durch Djebars „images-son“ erreichten Deplatzierung der stereotypen Bilder der algerischen Geschichte, offenbart sich das Fehlen einer Problematisierung der von ihm verwendeten Begriffe des ‚Natürlichen‘ und des ‚Authentischen‘ als blinder Fleck seiner Studie. Im zweiten Kapitel, „Postcolonial Haunting in La femme sans sépulture“, wendet sich O’Riley der Frage zu, inwiefern Djebars Auseinandersetzung mit der verschwundenen Leiche der algerischen Widerstandskämpferin Zoulikha eine Wesensbestimmung der Mechanismen postkolonialer Heimsuchung leistet. Hier illustriert O’Riley, wie der Roman eine Durchkreuzung des - zeitlichen wie theoretischen - postkolonialen Raums durch einen erotisierten Todestrieb offenbart, der Algerien und Frankreich in ihrer Arretierung im Zeitalter des Kolonialismus ebenso vereint, wie er sich zugleich als trennende Barriere erweist. Jener Todestrieb wurzelt, so argumentiert O’Riley mit Djebar, in der Erfahrung des kolonialen Eindringens und der damit verbundenen Erotisierung des vereinnahmten Territoriums, das diskursiv als gewaltsam penetrierter Frauenkörper konstruiert wird. Das Mosaik der drei Vogelfrauen als zentrales Bildmotiv des Romans identifiziert O’Riley folglich als eine mise en abyme des Geschichtskonzepts Djebars, allegorisiere das Mosaik doch die Platzierung und Deplatzierung der unzähligen Einzelbilder, aus denen sich das tableau des Imperialismus zusammensetze. Diesbezüglich weist O’Riley zugleich auf ein dem Roman zugrunde liegendes Dilemma hin: Um eine innovative Form der Geschichtsschreibung wirkungsvoll etablieren zu können, die auf dem Prinzip der zweckfreien Vergebung - und somit auf dem Konzept der mémoire pure nach Derrida - basiert, müsse es Djebar vermeiden, in der romanesken Vermittlung der historischen Ereignisse ihrerseits einer territorialen Wiederaneignung der Gedächtnisorte der Kolonialgeschichte zu verfallen. In einer differenzierten Analyse des auf theoretischer Ebene „postkolonialen“ Geschichtskonzepts Djebars veranschaulicht O’Riley, dass dieser territorial gebundene Gedächtnisort der weibliche Körper ist. Die Auseinandersetzung mit Djebars 2003 erschienenen Roman La Disparition de la langue française im dritten Kapitel („Victims, Heroes, and Specters“) bildet zweifelsohne den schwächsten Teil der Studie. Obwohl O’Riley zunächst theoretisch innovativ von Achille Mbembe und seiner psychoanalytisch anmutenden Konzeption der „Postkolonie“ als heimgesuchtem „Nichtort“ ausgeht, in dem die postkolonialen Subjekte aufgrund der alltäglichen Erfahrung von Tod und Gewalt zu lebenden Toten werden, verharrt seine Textanalyse jedoch im Gestus des Deskriptiven. So mündet die dem Kapitel zugrunde liegende Zielsetzung, auf der Basis von Mbembe die Prägung der politischen Rhetorik nachkolonialer Staaten durch eine Ästhetik kolonialer Gewalt aufzuzeigen, in die nur wenig neue Erkenntnisse liefernde Paraphrase der bereits in der Einleitung dargelegten Verquickung von Helden- und Opferfigur in postkolonialen Geschichtsdiskursen. Neben der Charakterisierung der Kasbah als labyrinthischem Nicht-Ort, den O’Riley überzeugend als Falle der mnemonischen Struktur des Kolonialismus liest, bieten in diesem Kapitel vor allem die dort nachgewiesenen intertextuellen Bezüge zu Duviviers Film Pépé le Moko (1937) neue Perspektiven auf den Roman. Dessen hohe politische Sprengkraft scheint 152 Comptes rendus O’Riley jedoch zu überlesen, wenn er die dort aufgeworfene Reflektion einer Problematik postkolonialer Geschichtsschreibung ausschließlich in der Frage gegeben sieht, wie eine Erinnerung an den Algerienkrieg jenseits der Gespenstwerdung möglich sein kann. Der romanesken Dekonstruktion der politischen Diskurse des Algeriens der 1990er Jahre kommt hingegen nur eine Randstellung zu. Auch lässt der Umstand, dass mit den ungeklärten Umständen des Verschwindens der Hauptfigur Berkane das Ende des Romans selbst ein heimgesuchtes bleibt, O’Rileys doppeldeutige Schlussfolgerung fraglich erscheinen, Djebar praktiziere ein „Schreiben des Verschwindens“ der Gespenster von Heldentum und Opferkult. Hier bleibt offen, ob es sich dabei um ein Verschwinden im Sinne einer Verabschiedung oder um eine Taktik der neuerlichen Verdrängung handelt. Mit seiner Analyse des Romans Le nuits de Strasbourg im vierten Kapitel („Haunting Translations“) wendet sich O’Riley auf der Basis von Slavoj Žižek dem Fleck zu, eine Figur der Widerständlichkeit des Gedächtnisses, die in der Analyse auf das Nicht-Übersetzbare übertragen wird. Ausgehend von der durch Djebar mit Les nuits de Strasbourg aufgeworfenen Frage nach der Möglichkeit einer Transposition der gegenwärtigen Gewalt in Algerien in einen anderen kulturellen Kontext, zeigt O’Riley, inwiefern dieser im Elsass verortete Roman mit dem Referenzpunkt kolonialer Gewalt innerhalb einer nicht minder gewaltsamen europäischen Geschichte spielt. Dabei vermeidet es O’Riley, in seiner kritischen Lektüre der historischen Intertexte des Romans dem von Kien Nghi Ha bemängelten „Hype um Hybridität“ anheim zu fallen. Stattdessen prüft er diese Texte auf ihre machtpolitischen Implikationen. Vor diesem Hintergrund macht die Analyse die Frage nach der Möglichkeit, die Problematik der Übersetzung kultureller Spannungen auch über große zeitliche Distanz hinweg zu vermitteln, als das zentrale Thema des Romans aus. Dies illustriert O’Riley, wenn er die Rezitation der Straßburger Eide durch die Jüdin Eva und den Deutschen Hans nicht etwa als Akt der Performanz kultureller Hybridität - und somit eben nicht als Überwindung des historischen Traumas - liest, sondern stattdessen die strategisch-politische Bedeutung des Dokuments als das Bündnis zweier Brüder gegen einen Dritten betont. So deutet O’Riley auch den in den Eiden geleisteten Übersetzungsakt als Gestus, der immer auch ein gewaltsames Moment beinhaltet. Entsprechend interpretiert er die durch die Ermordung der Regisseurin verhinderte Aufführung einer zeitgemäßen Version des Stücks Antigone durch eine algerisch-französische Jugendgruppe als mise en abyme einer durch die Nicht-Tilgbarkeit historischer Traumata begründeten, fehlgeschlagenen kulturellen Übersetzung. Dies erklärt auch O’Rileys abschließende Deutung des Suizids der Hauptfigur Thelja am Ende des Romans im Sinne eines kritischen Kommentars der Autorin zu den Grenzen kultureller Übersetzbarkeit. Trotz dieser berechtigten Kritik an dem in den postkolonialen Theorien stellenweise zu euphemistisch angelegten Konzept der Hybridität, stellt sich hier dennoch die Frage nach einer Marginalisierung der transkulturellen Momente des Romans - wie sie etwa in den Liebesnächten zwischen der Algerierin Thelja und dem Franzosen François andeuten - zugunsten der pessimistischen Leitthese der Heimsuchung. Trotz der hier genannten Kritikpunkte, kann O’Rileys Buch als entscheidender Beitrag zu einer kritischen Perspektivierung einer im Kontext der postkolonialen Theoriebildung stehenden literarischen Produktion angesehen werden, verdeutlicht sie doch die Gefahren, die ein Verharren in den Kreisläufen einer Heimsuchung der Gegenwart durch die koloniale Vergangenheit mit sich bringt. Die Analyse urteilt diesbezüglich nicht vorschnell, sondern hütet sich vor voreiligen Lösungsansätzen und zeigt stattdessen, dass die durch Djebars Spätwerk geleistete Erkenntnis der Mechanismen der Heimsuchung eine wichtige Voraussetzung zu ihrer Überwindung ist. Eine weitere Leistung O’Rileys besteht in der Nachzeichnung der in den neueren Romanen Djebars nachhallenden, theoretischen Konzepte, zu denen das Spätwerk Derridas ebenso gehört wie die auf Bhabha und Mbembe zurückgehenden Konzepte einer gespenstischen Wiederkehr des Verdrängten. Trotz einer stellen- 153 Comptes rendus weise zu Tage tretenden Resilienz O’Rileys gegenüber einer Problematisierung der von ihm verwendeten Begrifflichkeiten gelingt es der Studie somit, auch jene Momente aufzuzeigen, in denen Djebar über den bereits bestehenden postkolonialen Theoriehorizont hinausgeht und damit ihrerseits eine kritisch-innovative Form postkolonialer Geschichtsschreibung praktiziert. Beatrice Schuchardt (Siegen) MARTIN TREML/ KARLHEINZ BARCK (EDS.): ERICH AUERBACH. GESCHICHTE UND AKTUALITÄT EINES EUROPÄISCHEN PHILOLOGEN, BERLIN, KADMOS, 2007, 512 S. Als Mitteilung der Beiträge zu der 2004 vom Berliner „Zentrum für Literaturforschung“ ausgerichteten Tagung zu Werk und Persönlichkeit Erich Auerbachs präsentiert der vorliegende Band zugleich Querschnitt und Summe der gegenwärtigen Auerbach-Forschung. Das hatten die Herausgeber wohl auch im Sinn, als sie die Annäherung an „Geschichte und Aktualität eines europäischen Philologen“ in sechs Blöcke gliederten: „Auerbachs Anfänge“, „Korrespondenzen“, „Orte“, „Konzepte“, „Nachleben“ und „Spuren“. Letztere umfassen dreizehn bislang verstreut publizierte oder unbekannte Texte Auerbachs, darunter neben Briefwechseln die zentralen „Epilegomena zu Mimesis“, die frühen Abhandlungen „Romantik und Realismus“ (1933) und „Über die ernste Nachahmung des Alltäglichen“ (1937); schließlich ist dem Band eine CD mit der Aufzeichnung des bislang unbekannten, 1948 am Pennsylvania State College gehaltenen und nun von Martin Vialon transkribierten und edierten Vortrags „The three traits of Dante’s poetry“ beigegeben. Auf solche „Spuren“ läuft sachgemäß die Behandlung der Geschichte des „europäischen Philologen“ Erich Auerbach hinaus. Sie besteht in der Mitteilung persönlicher Erinnerungen daran, wie Auerbachs Lehre selbst vom diskursiven Impetus des sermo humilis getragen war (Geoffrey H. Hartmann), und der Rekonstruktion seiner Lebensstationen (Kader Konuk, Martin Treml). Über Auerbachs Freundschaften (Johannes O. Riedner zu E.A. und S. Kracauer, Manfred Naumann mit einer einfühlsamen Ausdeutung von „Auerbach im Fühlen und Denken von Werner Krauss“) wird der persönliche mit dem geistesgeschichtlichen Kontext verschränkt. So erweitert sich die Würdigung der Person zu einer „intellektuellen Topographie“ - Karlheinz Barcks Portrait entwickelt sie meisterhaft für Auerbachs Umfeld in den 20er Jahren (Auerbach in Berlin) -, die auch Auerbachs Stellung in den zeitgenössischen Debatten (Robert Stockhammer zu E.A. und E.R. Curtius, Petra Bodens Referat der schulspezifischen Rezeptionen von „Mimesis“) und seine Nachwirkung zu beurteilen erlaubt. Edward Saïd etwa schulte an Auerbach sein ausgeprägtes Misstrauen gegen abstrakte Begriffsbildung; der „kontrapunktische Eurozentrismus“ und das Konzept vom „weltzugewandten Kritiker“ markieren einen „auerbach’schen Zug“ seines Denkens (Herbert Lindenberger und - gelungen - Jane O. Newman über „Saïds Auerbach und die ‚neue’ Komparatistik“). Carlos Rincón rekonstruiert konzise, wie Auerbach in literatur- und kulturwissenschaftlichen Debatten Lateinamerikas als moderne Legitimationsfigur der eigenen literarischen Mischtradition aufgenommen wurde. Erst mit den Diskussionen zu Postmoderne und „Magischem Realismus“ habe Walter Benjamin Auerbach in dieser Referenzfunktion abgelöst. - Freilich geschieht es leicht, dass über solche kontextuellen Einsortierungen spezifische Differenzen verloren gehen. So wäre zur Engführung der Überlegungen Auerbachs und Walter Benjamins Deutlicheres zu sagen, als bloß eine über Zeitgenossenschaft motivierte Familienähnlichkeit der Konzepte beider zu konstatieren (Robert Kahn über E.A. und W. Benjamin). Im selben Sinn scheint es Richard Faber mit der Einordnung Auerbachs in eine Geschichte des „modernen Marcianismus“ („Humilitas sive sublimitas. E.A.s Literaturreligionssoziologie im Kontext modernen Marcionismus“) eingedenk dessen kritischer Lektüre des Tertullian-Kommentars eher um eine