eJournals lendemains 35/137

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0170-3803
2941-0843
Narr Verlag Tübingen
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2010
35137

E. Zollinger: Arachnes Rache

2010
Jörg Dünne
ldm351370148
148 Comptes rendus sous Vichy pour „a minority within the pre-war minority“ (213) du comité central de la Ligue, y compris des figures importantes. Reste à mentionner un point gênant pour le lecteur: plusieurs des citations en français ont besoin d’être corrigées. Stephen Steele (Simon Fraser University) EDI ZOLLINGER: ARACHNES RACHE. FLAUBERT INSZENIERT EINEN WETTKAMPF IM NARRATIVEN WEBEN: MADAME BOVARY, NOTRE-DAME DE PARIS UND DER ARACHNE-MYTHOS, MÜNCHEN, FINK, 2007, 140 S. Würde man versuchen, Edi Zollingers Flaubert-Studie mit dem schönen Titel Arachnes Rache in Missachtung des Unterschieds zwischen Objekt- und Metasprache mit erzähltheoretischen Kategorien zu analysieren, so müsste man Zollinger zweifellos das Attribut eines auktorialen Erzählers zukommen lassen. Seine Studie ist - selten genug bei wissenschaftlichen Monographien - kompakt, gut geschrieben und mit synoptischen Kapitelüberschriften versehen, die man eher bei Rabelais, Fielding oder auch Victor Hugo vermuten würde als in einer wissenschaftlichen Arbeit. Ein Beispiel: „3. Der Ochsenziemer. An dem hässlichen Ding hängt ja ein Ochsenschwanz! Wie Charles sein Geschlecht verliert. Und wie er es wieder findet. Wovon seine feuchten Träume handeln. Der Ochse fühlt sich als Stier“ (45, Kap. 3). Diese Kostprobe lässt schon erahnen, dass Zollinger seinen Gegenstand in narrativer Art und Weise entfaltet und in Kapitel 8 („Der perfekte Text“) auf einen Höhepunkt zulaufen lässt, der dem Leser in detektivischer Manier die komplette, zuvor verborgen gehaltene These enthüllt: Nach Zollinger ist Flauberts Madame Bovary eine „Wettkampfansage“ (103) an Victor Hugos Notre-Dame, bei dem es Flaubert nicht nur darum geht, Hugos Konzeption der ananke zu überbieten, sondern auch mit einem „Literaturgott“ (ebd.) in ähnlicher Weise zu rivalisieren, wie im Mythos die sterbliche Arachne die Göttin Minerva zum Wettstreit im Weben fordert. Es gelingt Zollinger, den Arachne-Mythos und Hugos Konzeption des Schicksals, vermittelt über die symbolische Bedeutung der Spinne, überzeugend als Kontrastfolie für eine spannende Lektüre Flauberts aufzubauen, bei der sich zwei Dinge herauskristallieren: 1) wie weit man auch bei einem der meistinterpretierten Texte der Literaturwissenschaft mit genauer, intertextuell informierter Textlektüre immer noch kommen kann; 2) wo die Grenzen eines narrativen Ehrgeizes liegen, der seine Energie in die Präsentation schöner Funde legt, ohne allzu genau nach deren Funktion zu fragen. Zollinger gelingt es, vielfältige versteckte Anspielungen Flauberts auf Notre-Dame de Paris aufzuspüren: Das berühmte Diktum Charles Bovarys nach dem Tod seiner Frau, es sei alles „la faute de la fatalité“ (vgl. Kap. 1), liefert Zollinger dabei den Anfangsverdacht für eine Verbindungslinie zwischen Flaubert und Hugos Verständnis der ananke / des fatum / der fatalité. Ingeniös aufgedeckte Anspielungen machen einen literaturwissenschaftlichen Indizienbeweis möglich: So verweist Charles’ Kappe beispielsweise auf den Buckel von Quasimodo (Kap. 2), Charles’ und Emmas Hochzeitstorte auf Hugos Beschreibung von Paris (Kap. 4), die Apparatur, mit der Hyppolites operierter Klumpfuß gestreckt wird, auf die Folter Esmeraldas (Kap. 5) und der „Djali“ genannte Windhund (levrette) Emmas auf die Ziege (chevrette) Esmeraldas mit gleichem Namen (Kap. 6). Geschult gleichermaßen an den Detaillektüren der critique thématique um Jean-Pierre Richard wie am dekonstruktiven Wissen um die Bedeutung der Signifikanten steuert Zollinger zielsicher seine Schlussthese an, die die bisherigen Lektüren auf eine poetologische Ebene hebt und die Flaubertsche réécriture von Details aus Notre-Dame de Paris als Konkurrenz mit Victor Hugo interpretiert. Dabei ist jedoch ausgerechnet der Schlussstein des Arguments, nämlich die Darstellung der Bedeutung des ovidischen Arachnes-Mythos bei Flaubert, 149 Comptes rendus nicht mehr so zwingend wie die bisherige Argumentation: Im Vergleich der Todesszenen Esmeraldas und Emmas (Kap. 7) webt Zollinger zwar selbst ein „dichtes Netz an Verweisen, das Flaubert zwischen Ovid und Hugos Text in seinen eigenen Roman eingesponnen hat“ (99), doch die Analyse des Todes Emmas vor der Folie des Todes von Esmeralda ist insofern problematisch, als Zollinger hier die Spinne auf zu vielen Ebenen und mit zu vielen Bedeutungen am Werk sieht: Nicht nur soll sie auf thematischer Ebene Esmeraldas und Emmas Opferschaft symbolisieren, auch ist sie die shifter-Figur von der thematischen auf die poetologische Ebene, was wohl bei Hugo, aber nicht ohne Weiteres bei Flaubert funktioniert: Dort muss die Verbindung zwischen Spinne, Tod und Text auf dem Umwegen konstruiert werden. Die Spinne in der Dachluke von Emmas Haus als Symbol des „ennui“ führt dabei zwar zur Todesszene mit dem Erbrechen der schwarzen, tintenähnlichen Flüssigkeit als Zeichen von Emmas Melancholie - die klare poetologische Konnotation der Spinne, die sich bei Hugo findet, bleibt bei Flaubert aber aus. Von hier aus stellt sich die Frage, ob denn Hugos und Flauberts Schreibkonzepte wirklich so direkt miteinander konkurrieren, wie dies Zollinger vom Zentrum seines Assoziationsnetzwerks aus behauptet, bzw. genauer: was eigentlich auf dem Spiel steht, wenn Flaubert sich an Hugo abarbeitet. Zwar deckt Zollinger bisher wenig gesehene intertextuelle Verbindungen auf, belässt es aber im Ungefähren, welche Funktion bspw. die Verschiebung der Stadtbeschreibung von Paris bei Hugo in die ‘Architektur’ einer Flaubertschen Hochzeitstorte hat. Angesichts solcher Registerwechsel müsste deutlicher als Zollinger dies tut, wenn er von einem „leicht ironischen Erzählton“ (105) Flauberts spricht, herausgestellt werden, dass Flaubert Hugo nicht einfach überbieten, sondern ihn ironisieren will. Bei Flaubert ist die fatalité bezeichnenderweise nicht mehr das Konstruktionsprinzip eines ganzen Romans, sondern in erster Linie der lächerliche Ausspruch einer ironisierten fiktiven Person. Flauberts Weben ist somit nicht einfach die agonale Überbietung, sondern vor allem eine indirekte Distanzierung von der Ästhetik Hugos, deren Versatzstücke er Personen der erzählten Geschichte als romantische Klischees in den Mund legt. Man muss, um die Spielregeln dieser Distanzierung deutlich zu machen, nicht unbedingt die Folie bekannter Theoriemodelle bemühen, wie etwa Harold Blooms „anxiety of influence“ oder René Girards „mimetische Rivalität“, auf die Zollinger im Interesse der Lesbarkeit seiner Studie verzichtet. Dennoch hätte erst die theoretisch fundierte Frage nach der genauen Funktion der intertextuellen Beziehung zwischen Hugo und Flaubert das ganze Potenzial von Zollingers genauen und aufschlussreichen Textlektüren entfaltet. Jörg Dünne (München) O’RILEY, MICHAEL: POSTCOLONIAL HAUNTING AND VICTIMIZATION. ASSIA DJE- BAR’S NEW NOVELS, NEW YORK [U.A.]: PETER LANG 2007, 148 S. Michael O‘Rileys Studie zur Dialektik von postkolonialer Heimsuchung und Viktimisierung widmet sich anhand der Romane La femme sans sépulture, La Disparition de la langue française und Les nuits de Strasbourg den rezenteren Romanen Assia Djebars zu. Somit löst das Buch die Ankündigung des Titels zunächst einmal ein. Ein im Titel nicht adressierter, ebenfalls zentraler Themenkomplex des Buches, ist die zentrale Stellung der visuellen Ästhetik Djebars, welche zugleich die Grundlage für O’Riley Lektüre der genannten Romane - und somit das erste Kapitel - bildet. Entsprechend ist die Frage nach dem Sehen und seinen Bedingungen im postkolonialen Kontext für O’Riley eine wesentliche Voraussetzung für die Behandlung des von ihm gewählten Themenkomplexes: Gemeint ist eine Heimsuchung der ehemaligen Kolonien ebenso wie des Westens durch die gewaltsamen Strukturen der Kolonisierung, welche in der Gegenwart in Form von Extremismus, Selbstmordattentaten und Terrorismus zu Tage treten und wiederum eine Kriminalisierung der Migran-