eJournals lendemains 35/137

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Narr Verlag Tübingen
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2010
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Isidore Isou (1925–2007): Befreier der Sprache, „Erfinder“ der Kreativität, Revolutionär und Reformer

2010
Tanja Ottmann
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134 Arts & Lettres Tanja Ottmann Isidore Isou (1925-2007): Befreier der Sprache, „Erfinder“ der Kreativität, Revolutionär und Reformer 1. Am 28. Juli 2007 ist in Paris Isidore Isou, französischer Dichter rumänischer Herkunft, verstorben und wenige Tage später von einem nur noch kleinen Kreis von Bewunderern und Anhängern zu Grabe getragen worden. Auf den folgenden Seiten soll diese in so vielen Farben schillernde Persönlichkeit der französischen Literaturgeschichte näher betrachtet werden. Isidore Isou war seit der Zeit des Pariser Existentialismus berühmt als Wunderkind, Avantgardekünstler, Revolutionär und berüchtigt für seine zahlreichen Skandale. Immer wieder bewegte er sich ganz bewusst zwischen Extremen und lässt sich somit nur schwierig einer Kategorie von Autoren zuordnen. Von besonderem Interesse sind auch seine Errungenschaften im Bereich der Poesie, der Literatur und der Kunst. Des Weiteren soll auch das zu vermutende gesellschaftskritische Potenzial des Lettrismus, der von ihm erfundenen und so benannten poetischen Strömung, untersucht werden. Als Grundlage dieser Darstellung dienten zunächst frühe, doch im Gegensatz zu anderen poetisch-programmatischen Texten der letzten Kriegsjahre und der Nachkriegszeit, nur noch wenig gelesene Werke wie Le Manifeste de La Poésie Lettriste (1942), welches erstmals 1947 in Introduction à une nouvelle poésie erschien oder Le Soulèvement de la Jeunesse aus dem Jahre 1947. Zudem lieferten Werke wie La Créatique ou la Novatique (1942-1976) oder Artikel aus L’Avant-Garde lettriste n°1 (1967) Aufschluss über Isous Beobachtungen der Wissenschaft, ihre Bedeutung für die Entwicklung poetischer Konzepte, sowie über seine ethischen Auffassungen. Ein Interview, das 1991-92 mit Frédérique Dévaux geführt wurde, ermöglichte einen Einblick in seine persönliche Interpretation seiner Werke sowie eine rückblickende Einschätzung seiner Ziele und Errungenschaften. 2. Isidore Isou (Ioan-Isidore Goldstein) wurde 1925 in Boto ani in Rumänien geboren. Er gilt als der Begründer des Lettrismus und wurde vor allem durch einige Skandale in der Öffentlichkeit bekannt. Er stammte aus einer jüdischen Familie, sein Vater war Besitzer mehrerer Restaurants und laut Isou sehr zielstrebig und gewinnbedacht. 1 Isou wird oft als „enfant prodige“, als Wunderkind, bezeichnet, denn schon mit 14 Jahren las er Marx und mit 16 Jahren Proust. Im Interview mit Frédérique Devaux berichtet er, dass er in seiner Jugend drei Bücher täglich las und hier bezeichnet er sich auch als „autodidacte“. 2 Isou wollte das lycée abbrechen und Journalist werden. Sein Vater gab schließlich dem Wunsch seines Soh- 135 Arts & Lettres nes nach, da er allmählich den Beruf des Journalisten als eine angesehene Beschäftigung mit lukrativen Möglichkeiten sah. Im Interview berichtet Isou ebenso von seiner frühen Begeisterung für die Poesie: „A quatorze, quinze ans, j’écrivais des poèmes révolutionnaires, baudelairiens, sociaux en vers libres.“ 3 Sehr früh hatte er auch schon ein ausgeprägtes politisches Bewusstsein. Als Jude musste er im profaschistischen Rumänien für die Deutschen Flugabwehrgräben graben und andere Zwangsarbeiten leisten. 4 Schließlich setzte er seine ganze Energie dafür ein, nach Frankreich zu fliehen und so kam Isou im August 1945 über Italien nach Paris. Paris war für ihn die Stadt der modernen Dichter, die Stadt der Avantgarden und das Zentrum der Literatur schlechthin. Schon bald stellte Isou seine Manuskripte von Introduction à une nouvelle poésie et à une nouvelle musique wichtigen Persönlichkeiten der literarischen Szene vor. Gaston Gallimard, Raymond Queneau, André Gide, Jean Cocteau reagierten mit gemischten Gefühlen auf Isous Manifeste und zuerst wollte niemand seine Schriften veröffentlichen. 5 Isou freundete sich mit Gabriel Pommerand an, mit dem er die ersten lettristischen Veranstaltungen durchführte, die jedoch in der Öffentlichkeit und Presse kaum wahrgenommen wurden. Isou immatrikulierte sich an der Sorbonne und wurde dort als der erste Jude empfangen, der es geschafft hatte, den eisernen Vorhang zu durchdringen. Um seinen Lebensunterhalt als Student zu sichern, schrieb Isou auch Romane für eine breite Leserschaft. Die Freude am Schreiben bereiteten ihm jedoch die Werke, in denen er mit neuen Formen und Inhalten experimentieren konnte. Oft galten diese avantgardistischen Werke als provokativ und revolutionär. Isidore Isou war eben nicht nur das ‘geniale Wunderkind’, sondern auch ein aufbegehrender Jugendlicher, der sich in mancherlei Hinsicht nicht nach Normen, Sitten oder den ‘Geboten der Vernunft’ richtete. So beschreibt ihn beispielsweise Georges Bataille folgendermaßen: „La vie du jeune Isou est celle de tout adolescent pourri de littérature (et d’innombrables connaissances), mais projeté à travers le monde par une impudence qui bouscule - et veut bousculer: Isou est infiniment grossier, sans mœurs et sans raison […]“. 6 Isou sei von der Literatur beeinflusst, ja sogar verdorben worden. Er wolle die Welt umstürzen, sei ausfällig, sittenlos und unvernünftig. Ob es sich bei dieser Äußerung tatsächlich um eine rein negative Kritik handelt, lässt sich nicht genau ausmachen, da doch die Vorstellung von einer Lebenspraxis „sans raison“ eine von Bataille durchaus geschätzte Eigenschaft ist. Wie viele andere Avantgardekünstler lehnte Bataille bürgerliche Moralvorstellungen und die Prinzipien der Vernunft ab und beschäftigte sich mit Phänomenen, die sich der Vernunft nicht unterordnen lassen, wie z.B. dem Potlatsch, der Liebe oder den Exzessen. Isous Skandale verdeutlichen Batailles Charakterisierung. Bereits ein halbes Jahr nach seiner Ankunft in Paris fand im Salle des Sociétés Savantes die Veranstaltung La poésie de Homère au lettrisme statt, bei der die Lettristen die Poesie der Résistance scharf attackierten. Ein weiterer Skandal trug sich im Vieux Colombier im Jahre 1946 zu. Dort störten Lettristen ein dadaistisches Stück Tristan Tzaras und nutzten die Veranstaltung, um lettristische Gedichte vorzulesen und die Prinzipien des Lettrismus zu erklären. Ins Publikum ge- 136 Arts & Lettres schleuste Freunde Pommerands und Isous plädierten für den neuen und moderneren Lettrismus. 7 Seit diesem Ereignis war der Lettrismus auch in der Öffentlichkeit und Presse bekannt. Auch im Salle de Géographie fand eine Veranstaltung statt, bei der Isou seine Gedichte spontan vortrug. 8 Betrachtet man ein lettristisches Gedicht, so wird verständlich, warum schon allein das Vortragen eines solchen Gedichtes eine Provokation darstellen kann. Das Empörende ist zunächst, dass das Gedicht auf der inhaltlichen Ebene keine, oder nur in minimalstem Maße, Informationen an den Zuhörer vermittelt. Vereinzelt mag es gelingen, Wörter aus den Buchstabenkombinationen herauszufiltern, die Bedeutung des Gedichts als Ganzes bleibt jedoch verschlossen, genauer gesagt, wird die Relation signifiant-signifié vom lettristischen Dichter bewusst nicht beansprucht. Die Laute ermöglichen, dass eine bestimmte Stimmung und ein Rhythmus gefühlt werden können. Da dies jedoch nicht das Hauptaugenmerk eines nach Bedeutung und Inhalt suchenden Zuhörers ist, wird seine Erwartung enttäuscht, so dass das Gedicht zunächst eine Frustration und Provokation darstellt. Die Frustration ergibt sich daraus, dass der Titel einen Inhalt ankündigt, dann jedoch dieses Versprechen nicht einlöst. Die Provokation besteht vor allem darin, dass scheinbar willkürlich aneinandergereihte Silben und Buchstaben als Sprachkunst deklariert werden. Die rhythmischen und klanglichen Wirkungen des Lettrismus werden weiter unten im Zusammenhang mit dem Manifeste de La Poésie Lettriste erläutert werden. Isou hielt Skandale außerdem für notwendig, um das Interesse der Öffentlichkeit zu wecken: „Un auteur doit propager, imposer son œuvre, commencer à se faire connaître par une super-propagande proche des scandales que nous avons faits; il faut crier dans un monde silencieux qui n’a pas le temps de s’occuper d’autre chose que de ses intérêts. Il y a aussi la polémique: si quelqu’un vous attaque au sujet de votre œuvre, vous devez répondre, ce qui crée un échange polémique.“ 9 Bei der Erzeugung von Skandalen ging es Isou also sowohl um das Wachrütteln einer eingeschlafenen Welt, als auch um das Bekanntmachen der eigenen Werke durch eine Aufsehen erregende Propaganda. Als dritten Punkt erwähnt Isou den Nutzen eines literarischen Austausches, der Aufgrund einer Provokation entstehen kann. 3. Auch im Bereich des Filmes und der Kunst trat Isidore Isou in die Öffentlichkeit. 1950/ 51 wurde der Film Traité de Bave et d’Eternité auf dem Filmfestival in Cannes als Premiere präsentiert. Dieser Film besteht aus einer Tonspur, die von der Bildspur losgelöst ist. Die Bildspur ist zusammengesetzt aus zerfetzten Filmstreifen, absichtlich beschädigten und mit Ritzern versehenen Bildern. Zudem war der Film zur Zeit der Präsentation noch nicht fertig gestellt, d.h. der Rest des Filmes bestand lediglich aus der Tonspur und einem schwarzen Bild. Isou sah im lettristischen Film die einzige Zukunft des Filmes. Für ihn war der Film Traité de Bave et d’Eternité das Manifest des neuen Filmes. Durch die Trennung von der Tonspur 137 Arts & Lettres sollten die Bilder aufgehoben werden. Handelt es sich hierbei, wie später bei den Situationisten, bereits um eine Kritik am zu stark visuellen Spektakel der Gesellschaft und einer Welt, die zu sehr aus Repräsentation besteht? Ob Traité de Bave et d’Eternité eine Kritik gegen den kommerzialisierten Film ist, kann nicht eindeutig bejaht werden, da Isou selbst einen großen kommerziellen Erfolg seines Filmes anstrebte. Sicher ist jedoch, dass er sich von alten Formen loslösen und neue Möglichkeiten entdecken wollte. Dies strebte er auch im Bereich der bildenden Kunst an. Das Suchen nach neuen Formen und Inhalten bedeutete für ihn auch oft das Brechen von Tabus. So stellte Isou 1960 in seinem Kunstwerk Alliage créatique vivant im Salon Comparaisons im Musée d’Art Moderne in Paris einen lebendigen Vogel als Teil einer Collage aus, über dessen Käfig folgender Text angebracht war: „Ne laissez pas vos tableaux mourir de faim. Dorénavant le chef-d’œuvre doit être nourri chaque jour. Lorsque les tableaux meurent, empaillez-les.“ 10 Das Ausstellen eines Lebewesens stieß auf großen Protest und heftige Reaktionen der Betrachter und der Vogel musste drei Mal von Isou ersetzt werden. Die beschriebenen neuen Kunstformen und Ereignisse werfen die Frage auf, ob es Isou mit seiner Provokation nur um eine Revolution im Bereich der Kunst ging oder ob er damit auch politische Ziele verfolgte. Oft wird der Lettrismus in der Literaturkritik, auch in Abgrenzung zum Dadaismus, zum Surrealismus oder zur Lettristischen Internationale, als rein sprachliche und künstlerische Bewegung dargestellt. Es kann jedoch ein Werk Isous, das den Begriff des Aufstands schon im Titel trägt, über diese Frage Aufschluss geben. Le Soulèvement de la Jeunesse wurde als erstes Manifest 1947 veröffentlicht, dann erschienen 1950-1966 weitere Manifeste unter dem Titel Les Manifestes du Soulèvement de la Jeunesse. Isou berichtet, dass die Gedanken in seinem Manifest aus seiner eigenen Kindheitserfahrung stammen. Seinen Vater hatte Isou als äußerst autoritäre Person erlebt und dies in L’Agrégation d’un Nom et d’un Messie niedergeschrieben. Hierin berichtet er, wie sehr er seinen Vater hasste, da dieser ihn schlug und ihm so sehr seinen Willen und Ehrgeiz aufzwang: „Mon père voulait faire quelque chose de moi et je m’en foutais, parce qu’il employait, pour me réaliser, une ceinture de cuir. Et je le haïssais tant que, la nuit, s’il s’approchait de moi pour m’embrasser, je lui frappais le ventre avec mes pieds, en pensant le tuer.“ 11 Des Weiteren war Isou auch durch seine Lektüre von Dostojewski motiviert über die Jugend zu schreiben und kannte die Marxschen Ideen über die revolutionären Kräfte der Gesellschaft. Im Gegensatz zu Marx sah Isou jedoch nicht im Proletariat, welches nur materiell fordernd sei, sondern in der Jugend das revolutionäre Potenzial. Zudem lehnte Isou es ab, sich für einen Klassenkampf auszusprechen. Da es oft nach den Siegen des Proletariats zu Bürgerkriegen und weiteren Auseinandersetzungen gekommen sei, sah er darin keine Lösung. Vielmehr gibt es in seiner Theorie die internes 12 und diejenigen, die sich außerhalb der Klassen und des wirtschaftlichen Geschehens bewegen: „Il y a une masse d’intérêts qui sont hors des classes et du circuit en général, que nous appelons les PROBLEMES DE 138 Arts & Lettres L ’ EXTERNITE .“ 13 Zu diesen ‘Externen’ zählt Isou die Jugendlichen und fordert sie im Premier Manifeste auf, sich gegen ihre Unterdrückung zu wehren. Ähnlich wie die Situationistische Internationale dies später tun wird, bemängelt Isou die lange und starke Abhängigkeit der Jugend von ihren Eltern und bezeichnet sie sogar als Sklaven: „D’abord, le jeune est l’esclave de sa famille. Il appartient aux autres, audelà de l’âge où il prend conscience de sa vie et de ses désirs.“ 14 Er beklagt auch, dass Jugendliche Gratisdienste leisten müssten, um auf der Hierarchieleiter nach oben zu steigen. 15 Aus dem wirtschaftlichen Leben seien sie komplett ausgeschlossen: „Mais il y a en France 10 millions de JEUNES qui n’ont pas cette ‘disposition sur les biens’ qui caractérise l’homo economicus.“ 16 Auf der einen Seite gibt es also die eindeutige Forderung nach einem „Mouvement de la jeunesse“ 17 sowie die Aufforderungen zur Auflehnung. Auf der anderen Seite klingen an anderen Stellen Isous Thesen im Manifest wie reformistische Vorschläge. So bemängelt Isou, dass in der Schule nur bruchstückhaft Wissen vermittelt werde und schlägt die Verkürzung der Schulzeit vor. Im Gegenzug sollten Jugendliche ein Startkapital erhalten, damit sie früher eigenständig und selbst kreativ werden können. 18 Diese Forderungen klingen recht liberal, und stimmen durchaus mit kapitalistischen Zielen überein. Auch im Bereich der Wirtschaft wird kein anarchisches Handeln oder die komplette Zerstörung gefordert. Stattdessen werden für verschiedene Bereiche wie Banken oder Unternehmen die bessere Einbindung der Jugendlichen und deren Betrauung mit mehr Verantwortung gefordert. Jugendliche sollen in Bankkomitees präsent sein, Vertreter in der Arbeiterschaft stellen, in die Unternehmensführung vordringen und diese kreativ mitgestalten. Isou wendet sich gegen die Verstaatlichung von Unternehmen 19 und fordert, dass bürokratische Arbeit in kreative Arbeit umgewandelt werden sollte und dass Posten mit viel Verantwortung schneller gewechselt werden sollten. Jugendliche mit neuer Verantwortung sollten von erfahrenen Erwachsenen beraten werden. 20 Dieser Zwiespalt, der sich hier zwischen der Forderung nach einer Revolution und einer reformistischen Transformation auftut, taucht auch in anderen von Isous Theorien immer wieder auf. So bekräftigt Isou zwar, dass er mit dem Alten brechen und das Wort als zu starke Form sprengen will. Auf der anderen Seite beschreibt er in seiner Introduction à une nouvelle poésie jedoch auch die schrittweise Entwicklung des Lettrismus, der für ihn schon nach Baudelaire begonnen habe: „Toute la poésie après Baudelaire a voulu la création isouienne. Le lettrisme a été en germe en tous. […] A partir de Baudelaire tous les poètes n’ont été que des degrés vers Isou. […] Isidore Isou est apparu avant que d’être, en chaque poète.“ 21 Die literarische Avantgardebewegung des Lettrismus wurde und wird, ähnlich wie der Dadaismus, von vielen Zuhörern und Betrachtern zunächst als Chaos und Provokation aufgefasst. Während im Dadaismus die Zerstörung und Zerstümmelung der Sprache bewusst gewählt wurde, um die Unmöglichkeit einer ästhetischen und vernünftigen Kunst nach zwei Weltkriegen auszudrücken, liegen dem Lettrismus andere Gedanken zugrunde. Die folgende Analyse des Lettristischen Manifestes soll zeigen, dass die Motivation des Lettrismus eine andere ist als Zer- 139 Arts & Lettres störung, Nihilismus und Provokation. Das Manifeste de la Poésie Lettriste wurde 1942 verfasst und fünf Jahre später in Introduction à une nouvelle poésie veröffentlicht. Der Buchstabe stellt bei Isou die neue Einheit dar. Doch um was für eine Einheit handelt es sich? Sind es bedeutungstragende Einheiten, wie etwa in der um die gleiche Zeit an Bedeutung zunehmenden Morphologie, oder tragen die Buchstaben eine andere Art von Nachricht? Isou betont, dass die Buchstaben sich in ihrer Bestimmung von Wörtern absetzen: „Il s’agit de faire comprendre que les lettres ont une autre destination que les mots.“ 22 In seinem Lettristischen Manifest beklagt Isidore Isou die Starrheit des Wortgerüstes. Es gebe zu feste Linien vor, lasse den Menschen nur nachahmen und verhindere Kreativität: „La charpente du mot construite à jamais, détermine les hommes à construire sur le modèle, comme les enfants.“ 23 Für Isou hat das Wort eine zu dominante Stellung. Er sieht es als manipulierende Instanz und als eine Einheit, welche die Sprache zu sehr beeinflusse und unterwerfe. Die manipulative Kraft erkennt er beispielsweise darin, dass jede Empfindung, die nicht in Worte gefasst wurde, aus der Gesellschaft verschwinde: „Les sensations uniques sont si uniques qu’elles ne peuvent se populariser. Les sensations sans mots en dictionnaire disparaissent.“ 24 Isou beklagt auch eine Verallgemeinerung der großen unbekannten Dinge dadurch, dass man sie einfach durch bekannte Begriffe bezeichne: „Tarzan apprend dans le livre de son père à appeler les tigres: chats. Nommer l’Inconnu avec le Toujours.“ 25 All diese Forderungen aus dem Lettristischen Manifest lassen bereits anklingen, dass das erste Ziel keineswegs nur die Zerstörung ist. Vielmehr soll der Lettrismus eine Befreiungsbewegung für die Poesie und Sprache sein. Die Zerstörung der Wörter ist nur ein erster Ausdruck für den Willen etwas neu zu machen: „Témoignage d’un besoin à refaire, sont les essais de détruire.“ 26 Dies ist somit die oben erwähnte déstination der Buchstaben. Welche Lösung schlägt der Lettrismus nun konkret vor, um aus der Gefangenschaft der Wörter herauszukommen? Isou will die Wörter in ihre Buchstaben zerlegen: „Isou défera les mots en leurs lettres.“ 27 An die Stelle der Wörter sollen keine neuen Wörter gebracht werden, auch keine neuen Wortkombinationen. Im Teil C des Manifeste de la Poésie Lettriste wird also zunächst beschrieben, um was es nicht geht. Dann folgen nach sechs Zeilen, aufgelistet neben dem linksbündigen „il s’agit de“, die Aufgaben des Lettrismus. Sie stehen in Kapitälchen und Blocksatz, was wie eine Inschrift wirkt. 28 Diese positiv formulierten Thesen können wie folgt interpretiert und an Beispielen verdeutlicht werden. Isou erklärt, dass vor den Zuschauern und Lesern die Vielfalt der Buchstaben ausgebreitet werden soll. „Déplier devant les spectateurs éblouis des merveilles réalisées en lettres (Débris des destructions).“ 29 Er möchte seinen Lesern eine Palette an Buchstaben bieten, die frei kombiniert werden können und mithilfe derer sich jeder in seiner eigenen Form und Sprache ausdrücken kann. Le Nouvel Alphabet Lettrique ist ein Beispiel für diese neue Auswahl an Zeichen und Lauten. Im Folgenden sollen exemplarisch nur die ersten fünf Buchstaben aufgeführt werden: 140 Arts & Lettres 1. (alpha) = aspiration (forte). 2. (beta) = expiration (forte). 3. (gamma) = zézaiement (sifflement entre les dents comme un son de serpent). 4. (delta) = râle. 5. (epsilon) = grognement (comme un chien prêt à aboyer).30 Auf der klanglichen Ebene eines lettristischen Gedichts finden sich strukturierende Elemente wie Pausen und Wiederholungen, die dem Stück einen bestimmten Rhythmus verleihen: „Créer une architecture des rythmes lettriques.“ 31 Betrachtet man Werke wie Jungle (1945) oder Lances Rompues pour la Dame Gothique (1945) so wird deutlich, dass diese, wie so viele andere lettristische Gedichte, eines lauten Vortrages bedürfen, damit die rhythmische Struktur zum Vorschein kommen kann. Auf der Seite www.ubuweb.com bietet das mp3-Archiv eine Aufzeichnung dieser Gedichte, vorgetragen von Isou selbst. In diesen Gedichten tritt auch die zuvor beschriebene Palette an Lauten in Erscheinung. Schnalzlaute, Gluckslaute, Röcheln, Pfeifen, Jauchzen, Husten und andere Laute kommen in diesen Experimenten zusammen. Ziel hierbei ist nicht, die Sprache zu kritisieren sondern ein harmonisches Klangerlebnis zu schaffen: „- non une critique du langage, ironique, bien souvent, non un degré de fièvre, mais - une beauté purement auditive, harmonieuse, riche en innombrables et divers moyens d’expression.“ 32 Das folgende Zitat zeigt, dass es Isou bei seinen Gedichten um eine hohe Vermittlungskapazität von Stimmungen geht. Dabei gelten für ihn die Wörter als störende Einheiten, die den Fluss und Übergang von Empfindungen blockieren: „Les rigidités des formes empêchent la transmissibilité. Elles sont si lourdes, les paroles, que les effusions n’arrivent pas à les porter. Les tempéraments meurent avant d’arriver au but (détonations à blanc). Aucun mot ne peut contenir les impulsions qu’on veut envoyer avec lui.“ 33 Isidore Isou beschreibt, wie der Lettrismus die Gefühlsebene durch angenehme, ja sogar bezaubernde Klänge ansprechen soll: „Elaborer splendidement le roucoulement habituel.“ 34 „Le roucoulement“ ist ein monotones, sanftes Geräusch, das von Tauben erzeugt wird. Es vermittelt Ruhe, birgt aber auch einen steten Rhythmus. Dieses Gurren soll prachtvoll durch die Buchstaben entwickelt werden. Isou ordnet der Poesie eindeutig die Funktion zu, Neues zu entdecken und den Menschen zugänglich zu machen. Er soll sich in unbekannte Tiefen der Sprache und der Kommunikation aufmachen, Schätze heben und hervorbringen. 35 Dann soll der Dichter eine Nachricht aus neuen Zeichen erstellen. Eine andere Funktion des Lettrismus soll darin bestehen, das Unverständliche, das Verschwommene oder das Schweigen auszudrücken. Der Lettrismus könnte also als eine andere Sprache beschrieben werden, die einen anderen Code als den der Wörter verwendet: „rendre compréhensible et palpable l’incompréhensible et le vague; concrétiser le silence; écrire les riens.“ 36 Es geht darum, etwas verständlich zu machen, das noch nicht verstanden wurde. Es geht nicht darum, eine herkömmliche Botschaft zu vermitteln, sondern andere Phänomene der Kommunikation unter die Lupe zu nehmen. 141 Arts & Lettres So ist beispielsweise das Schweigen nicht nur eine Abwesenheit von Lauten, sondern hat, wie bereits erwähnt, Struktur schaffenden und emphatischen Charakter. Die bisherigen Zitate aus dem Lettristischen Manifest haben gezeigt, dass es vor allem darum geht, der Sprache eine neue Freiheit zu verleihen, Gefühle und Stimmungen auf einem anderen Weg zu vermitteln und andere Wege der Kommunikation zu beschreiten. Entsprechendes gilt nun auch für seine Praxis im Bereich der Kunst. Hier strebt Isou sowohl nach neuen Formen, als auch nach neuen Inhalten. Sein dringender Wunsch in Paris zu leben, war eng verbunden mit dem starken Willen, zur Avantgarde zu gehören. Sein Werk La Marche des Jongleurs (1954, in Œuvres des Spectacle) ist ein Beispiel für eine bizarre Kreation im Bereich des Theaters. Ganz bewusst möchte Isou ein Stück schreiben, in dem viele Paradoxa und Absurditäten auftreten. Er berichtet, dass das Stück „cynique, assez dadaïste, surréaliste, assez méchante, destructive, non-conformiste“ sein soll. 37 Es treten keine Personen auf und jeder Satz hat einen Sinn für sich. Es soll nur das „plus curieux“, 38 wie beispielsweise das Zerlegen eines Hundes auftreten. Auch im Bereich des Romans strebt Isou eine Ausweitung der Grenzen an. In einem roman métagraphique möchte er durch die Verbindung von Graphie und Malerei im Roman zu der Epoche zurückkehren, in der alphabet und dessin noch eine Einheit waren. Er schließt alle Alphabete der Welt mit ein, verwendet auch Scharaden, Bilderrätsel, Kreuzworträtsel und legt verschiedene Schriften übereinander. 39 Diese Techniken zeigen, dass sich Isou hier vor allem auf die Form konzentriert. Inhaltliche Aspekte wie beispielsweise die psychologische Entwicklung von Charakteren lehnt er ab. Ein herkömmlicher Roman besteht für ihn aus unbelebten Zeichen, die er durch Bilder oder Objekte beleben möchte. Diese Art des Schreibens nennt er „cosmographie“ oder „cosmoprose“, 40 weil man dem Roman verschiedene Elemente aus dem Kosmos auf mehreren Ebenen einfügen kann: „L’auteur affirmait qu’il fallait mettre aussi dans l’œuvre métagraphique de vrais mégots, de vrais cendriers, des tubes de pâte dentifrice, des brosses à dents, le téléphone, éléments qui représenteront ces objets au cours de l’intrigue; ensuite des fils électriques avec des lampes qui s’allument, des bouteilles de parfum, c’est-à-dire un électro-roman et un fumus-roman.“ 41 Im Interview erklärt Isou zur ‘cosmoprose’, dass er das Leben zurück in den Roman bringen möchte. Der Roman sollte zudem dem Leser zahlreiche Handlungsmöglichkeiten eröffnen. So sollte er beispielsweise bei Mißfallen des Werkes den Roman anzünden können. 42 Mit Les Journaux des Dieux (1950) wollte Isou eine weitere neue Form schaffen. Dabei sollte der Roman in verschiedenen Cafés im Viertel Saint Germain an aufeinanderfolgenden Tagen und über mehrere Wochen vorgeführt werden. Hier verschmelzen die Grenzen zwischen Roman und Theater. Dieses Projekt konnte jedoch aufgrund des hohen Zeitaufwandes nicht durchgeführt werden. 43 Auf dem Gebiet der Bildenden Kunst wurde bereits der von Isou zum Kunstwerk erklärte lebendige Vogel im Käfig als Beispiel für die Ereignishaftigkeit der neuen Kunst erwähnt. Ein weiteres Beispiel für das Zusammenkommen von Bildender Kunst und Ereignis ist Isous plastique poudriste, die 1960 erstmals in der Ausstel- 142 Arts & Lettres lung zum Festival d’art d’avantgarde im Palais des Expositions de la Porte de Versailles in Paris präsentiert wurde. Diese bestand aus einer mit Konfetti gefüllten Kiste, welche die Aufschrift trug: „tirez sur la chaîne et vous obtiendrez une œuvre poudriste.“ 44 Die Neuheit an dieser Kunstform war zudem, dass sie nicht mehr aus einem festen Stück bestand, sondern zersplittert und mobil war. Diese Form wurde von den Lettristen auch als „structure méca-esthétique“ bezeichnet. 45 Ein weiteres Gebiet der Kunst erschließt Isou 1956 mit seiner Idee der art imaginaire, in welcher der Betrachter mit einem konkreten Objekt konfrontiert wird, dessen Bedeutung jedoch keine Rolle spielt. Das Objekt soll den Betrachter nur auf eine Idee bringen, die einen Gedankengang auslöst und weitertreibt. Nach einem ähnlichen Prinzip verläuft auch Isous esthapéïrimse (von esthétique und apéïros = unzählbar) oder art infinitésimal. Der Zuschauer erhält als Auslöser ein kleines Element eines unbekannten großen Ganzen und hat die Aufgabe, sich das Gesamtobjekt selbst auszudenken und die Gedanken weiterzuspinnen: „L’art infinitésimal, dont la structure est composée de particules obtenues à l’aide de tout moyen plastique ou extra-plastique, - visible ou invisible -, dépourvues de tout sens intrinsèque, mais utilisables autant qu’elles permettent d’imaginer d’autres éléments, inexistants ou possibles.“ 46 Sein Kunstwerk tableaux érotiques vivantes zeigte 1988 in der Galérie de Paris ein sich vor der Aufsicht liebendes Paar. 47 In dieser Art happening verschmelzen nicht nur verschiedene Genres und Kunstformen, sondern diese Art der Kunst im Leben verselbständigt sich gleichsam, da sie durch das Brechen von Tabus beim Publikum neue und nicht kalkulierbare Reaktionen auslöst. Dieses Vorgehen wurde später vor allem von der Lettristischen Internationalen, sowie von der Situationistischen Internationalen sehr häufig eingesetzt. Das Dokument Les Conceptions Ethiques du Groupe Lettriste ou sur les Conceptions Nucléaires et les Conceptions Moléculaires de la Morale zeigt jedoch, dass Isou sich in der Frage der Radikalität deutlich von anderen Avantgarden unterscheidet. Bereits 1967 stellte er in L’Avant-Garde lettriste die moralischen und ethischen Auffassungen der Lettristen vor. So hätten die Lettristen zwar präzise Werte und Ziele, für die sie auch kämpften; dieser Kampf wende sich jedoch nicht gegen bestimmte Personen. 48 Ebenso hält Isou einen Totalitarismus für schädlich und für zu grobschlächtig. Er scheut sich nicht, totalitäre Systeme verschiedenster Art in einem Atemzug aufzuzählen und stellt direkt anschließend eine genauer differenzierende Haltung vor: „Contre un système d’éthique grossière, moléculaire, du type stalinien, hitlérien ou surréaliste, nous proposons une éthique atomique et électronique, basée sur la description originale plus précise des particules des données de la culture et de la vie, qui nous impose le comportement le plus profond, contemporain, ou du moins la compréhension la plus profonde des problèmes posés par le comportement des hommes et surtout des artistes présents.“ 49 Isous éthique atomique, die er in diesem Dokument auch éthique nucléaire nennt, erkennt, dass die Menschen einer Gesellschaft und deren Probleme viel zu verschiedenartig sind, als dass sie unter einer Ideologie zusammengefasst oder gelöst werden könnten. Er fordert ein tiefgreifen- 143 Arts & Lettres des Verständnis sowie präzise und angepasste Lösungsvorschläge. Schrittweise Teilabkommen sind für ihn der ideale Nährboden der Kreativität. In dieser deskriptiven und offenen Theorie lernten Individuen die notwendige souplesse um kreativ zu sein und um diese Kreativität zum Nutzen der Menschheit einzusetzen. 50 Mit diesem Wissen um Isous éthique nucléaire wird auch ersichtlich, warum er in Le Soulèvement de la Jeunesse viele kleine Schritte vorschlägt, um bestimmte Schieflagen in der Gesellschaft zu korrigieren. Den Maiereignissen von 1968, die zwar radikal und heftig gewesen seien, spricht Isou keine großen Erfolge zu. Er bemängelt sogar, dass sie nicht weit genug gegangen und im Endeffekt unproduktiv gewesen seien: „En 1968, on a vu finalement seulement l’écume des idées du Soulèvement de la Jeunesse. Cohn-Bendit ne connaissait pas bien le Soulèvement de la Jeunesse, il connaissait seulement le situationnisme qui propageait l’idée de scandale au nom du prolétariat, étouffer [sic! ] la jeunesse au nom du prolétariat. Les révolutionnaires n’ont rien construit à l’époque. Pour moi, la jeunesse doit changer l’école, la banque, la planification, l’administration du pays et raccourcir les mandats au poste de responsabilité. Cela se fera soit par la révolution, soit par les élections. Il faut s’emparer de tout progressivement.“ 51 An diesem Zitat zeigt sich deutlich, dass es Isidore Isou auf das Ergebnis ankommt; ob dieses durch eine Revolution oder durch Reformen erreicht wird, ist zweitrangig. Den starken Gegensatz zwischen seiner teils äußerst provokativen Kunst und seiner moderaten éthique nucléaire erklärt Isou selbst folgendermaßen: Er unterscheidet in seinen Ansichten zwei Ebenen. Erstens das Alltagsleben, in dem man sich freundlich und umgänglich geben sollte „au nom de l’éthique nucléaire, on doit rester correct“. 52 Zweitens sollte man jedoch auf der kreativen und künstlerischen Ebene eine klare Position beziehen und wenn nötig auch Kontroversen auslösen und Attacken führen. 53 Der Widerspruch zwischen revolutionärer Kunst und reformistischen Vorschlägen löst sich zwar nicht auf, wird jedoch in Anbetracht des von Isou so oft betonten, allerobersten Ziel etwas unbedeutender. In zahlreichen Werken wie beispielsweise La Créatique ou la Novatique verdeutlich er, für wie wichtig er Kreativität und Fortschritt für die Gesellschaft hält. Er ist davon überzeugt, dass sich die Menschheit positiv entwickelt. 54 In Werken wie Introduction à une Nouvelle Poésie und la Créatique ou la Novatique analysiert Isou die Vergangenheit und vergleicht sie mit einem Trampolin, das es ermögliche, weiter nach vorne zu springen. 55 In La Créatique ou la Novatique beobachtet er einzelne Disziplinen, deren Ursprung und Etappen in der Geschichte und schreitet im zweiten Teil zu seinen Ideen zur Erneuerung dieses Gebietes vor. Diese Analyse und Re-Analyse führt er auf zahlreichen Gebieten, wie beispielsweise der Chemie, der Psychologie, oder der Theologie durch. 56 Seine neue Religion erklärt er beispielsweise zur hyperthéologie: „Un pas vers le Messie peut-être constitué par ma méthode.“ 57 Die Geschichte der Menschheit ist für Isou der Beweis eines ständigen Fortschritts. Als Beispiele dafür nennt er die Entwicklung vom Höhlenbewohner zum Menschen, der auf den Mond fliegt oder die Errungenschaften in der Medizin, mit deren Hilfe es immer wieder 144 Arts & Lettres gelingt, Krankheiten zu heilen und der Menschheit ein besseres Lebens zu ermöglichen. Er bewundert Erfinder wie Galilei oder Pasteur und sieht in der création das Mittel um eine gesellschaftliche Verbesserung erreichen zu können. Isou entwickelt sogar eine „méthode“ der création, mit der er den Wert der raison, die für ihn zu statischen Charakter hat, ersetzen will. 58 Auch in der Literaturgeschichte stellt Isou einen ständigen Fortschritt fest. Unter der Kapitelüberschrift Sur l’Evolution spirituelle de la Poésie entdeckt Isou, wie schon erwähnt, in Introduction à une nouvelle poésie die ersten Anzeichen des Lettrismus bei Baudelaire. Über Rimbaud, Verlaine und Mallarmé entwickle sich dieser weiter und kulminiere letztendlich in ihm, Isidore Isou. 59 Er sieht es mithin als eine Aufgabe des Lettrismus an, die Gesellschaft durch neue Erfindungen und Kreativität in allen Lebensbereichen in einen besseren, ja sogar paradiesischen Zustand zu führen. Dieses Erreichen einer paradiesischen Gesellschaft beschreibt er als das oberste Ziel: „Ainsi arrivé au chapitre de la paradilogie, on donne le but des buts des innovations et découvertes, le bonheur éternel des individus de la société édénique, qui incite à un effort incessant, perpétuel, de dévoilement.“ 60 Für ihn ist die Kreativität der Schlüssel zu dieser neuen und besseren Gesellschaft, zu der sein Werk La Créatique ou la Novatique die Menschen anleiten soll. 61 Es lässt sich also abschließend feststellen, dass sich Isou deutlich von den bisherigen Avantgarden unterscheidet, deren Weg zu einer neuen Gesellschaftsstruktur über die Zerstörung der Kunst und über eine radikale Revolution führen sollte. Markant waren auch die Widersprüche, die in Isous Werken festgestellt wurden. So stellt der Lettrismus auf der einen Seite eine revolutionäre Bewegung gegen die Herrschaft der Wörter dar und wendet sich gegen bedeutungstragende Poesie. Auf der anderen Seite geht es bei dieser Zerspaltung der Wörter in Buchstaben darum, Stimmungen besser vermitteln zu können, wenig bekannte Phänomene der Kommunikation zu erforschen, Bild und Schrift zusammenzuführen und Klangereignisse zu erzeugen. Ebenso waren auf der politischen Ebene die Forderungen Isous nach einem Aufbegehren der Jugend und die sich anschließenden reformistischen Vorschläge recht widersprüchlich. Auch wenn sich durch das sehr hochgesteckte Ziel des Erreichens einer paradiesischen Gesellschaft die Frage nach der Umsetzung für Isou relativiert, so bleiben dennoch einige kritisch gestellte Fragen offen. Wie geht Isou mit technisch-militärischen Erfindungen um, welche die Entwicklung der Menschheit um Jahrzehnte zurückwarfen? Wieso sieht er im technischen Fortschritt nur den materiellen Gewinn und scheint negative Folgen der Konsumgesellschaft außer Acht zu lassen? Andere Anhänger des Lettrismus hatten in diesen Bereichen weitaus kritischere Ansichten und radikalere Vorstellungen von einer gesellschaftlichen Veränderung. So war 1952 die Flugblattaktion Finis les pieds plats, in der die Lettristen Charlie Chaplin den Tod wünschten, der Auslöser für die Spaltung der Lettristen und die Gründung der Lettristischen Internationale. Deren oberstes Ziel war das Wachrütteln der Menschen, die sie in hierarchischen Strukturen gefangen und durch die Konsumgesellschaft eingeschläfert sahen. Ihr Sarkas- 145 Arts & Lettres mus und ihre Aggressivität, die in ihrem Organ potlatch zum Ausdruck kommen, lassen erkennen, dass eine éthique nucléaire nicht mehr gefragt war. Die Zerstörung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung mit ihren Werten, Normen, Hierarchien und auch mit ihrer Kunst war für die Lettristische Internationale die Bedingung für die Entstehung einer völlig neuen Gesellschaft ohne Grenzen. In Anbetracht der radikalen Prinzipien der Lettristischen Internationale, die auch von der 1957 gegründeten Situationistischen Internationale übernommen wurden, lässt sich jedoch schnell eine gewisse Ideologisierung und eine damit einhergehende Gewaltbereitschaft und Menschenfeindlichkeit gegen Nicht-Revolutionäre feststellen. Dagegen zeugt widerum Isidore Isous éthique nucléaire von ausgesprochener Toleranz und emotionaler Intelligenz. So ist und bleibt Isou, trotz der Widersprüche und vermutlich sogar genau dank dieser bewusst angestrebten und ertragenen Diskrepanz, ein Befreier der Poesie, ein selbsternannter Erfinder der Methode der Kreativität, ein Revolutionär und ein Reformer. 1 Vgl. Frédérique Dévaux, Entretiens avec Isidore Isou. Charlieu: La Bartavelle Editeur, 1992, 38. 2 Ebd., 39. 3 Ebd., 42. 4 Jean-Paul Curtay, La poésie lettriste. Paris: Editions Seghers, 1974, 11-12. 5 Vgl. ebd., 12-13. 6 Georges Bataille, Critique n°29, Bd. IV, 1948, zitiert in Frédérique Dévaux, Entretiens avec Isidore Isou, a.a.O., 37. 7 Vgl. Jean-Paul Curtay, La poésie lettriste. a.a.O., 13. 8 Vgl. Frédérique Dévaux, Entretiens avec Isidore Isou, a.a.O., 53. 9 Frédérique Dévaux, Entretiens avec Isidore Isou, a.a.O., 59. 10 Isidore Isou, De l’impressionnisme au lettrisme: l’évolution des moyens de réalisation de la peinture moderne. Paris: Editions Filipacchi, 1974, 84. 11 Isidore Isou, L’Agrégation d’un Nom et d’un Messie, zitiert in Jean-Paul Curtay, La poésie lettriste, a.a.O., 6. 12 Roland Sabatier, „Postface du Soulèvement de la Jeunesse à la Carte de la Culture“, in: Isidore Isou, Les manifestes du Soulèvement de la Jeunesse. Paris: Editions Al Dante, 2004, 64. 13 Isou, Isidore. Les manifestes du Soulèvement de la Jeunesse. a.a.O., 12. 14 Ebd., 9. 15 Vgl. ebd., 20. 16 Ebd., 9. 17 Ebd. 18 Vgl. ebd., 14. 19 Vgl. ebd. 20 Vgl. Frédérique Dévaux, Entretiens avec Isidore Isou, a.a.O., 105-106. 21 Isidore Isou, Introduction à une nouvelle poésie et une nouvelle musique. 4e édition. Paris: Gallimard, 1947, 25. 22 Ebd., 15. 23 Ebd., 14. 24 Ebd. 25 Ebd., 11. 26 Ebd., 15. 146 Arts & Lettres 27 Ebd. 28 Vgl. ebd., 16-17. 29 Ebd., 16. 30 Ebd., 315. 31 Ebd., 16. 32 Isidore Isou, Les véritables créateurs et les falsificateurs de Dada, du surréalisme et du lettrisme. Paris: Imprimerie Richard, 1973, 144. 33 Ebd., 14. 34 Ebd., 16. 35 Vgl. ebd., 17. 36 Vgl. ebd. 37 Vgl. Frédérique Dévaux, Entretiens avec Isidore Isou, a.a.O., 73. 38 Ebd., 71. 39 Vgl. ebd., 82. 40 Vgl. ebd. 41 Isidore Isou, De l’impressionnisme au lettrisme: l’évolution des moyens de réalisation de la peinture moderne. Paris: Editions Filipacchi, 1974, S, 80. 42 Vgl. Frédérique Dévaux, Entretiens avec Isidore Isou, a.a.O., 82. 43 Vgl. ebd., 84. 44 Vgl. ebd., 99. 45 Vgl. Isidore Isou, De l’impressionnisme au lettrisme. a.a.O., 85. 46 Ebd., 78. 47 Vgl. Frédérique Dévaux, Entretiens avec Isidore Isou, a.a.O., 101. 48 Vgl. Jean-Paul Curtay, La poésie lettriste. a.a.O., 358. 49 Ebd. 50 Ebd., 360. 51 Frédérique Dévaux, Entretiens avec Isidore Isou, a.a.O., 106-07. 52 Ebd., 109. 53 Vgl. ebd., 109. 54 Vgl. ebd., 115. 55 Vgl. ebd., 81. 56 Vgl. Isidore Isou, La Créatique ou la Novatique. Paris: Editions Al Dante, 2003, 6. 57 Frédérique Dévaux, Entretiens avec Isidore Isou, a.a.O., 62. 58 Vgl. ebd., 65. 59 Vgl. Isidore Isou, Introduction à une nouvelle poésie et une nouvelle musique. a.a.O., 25. 60 Isidore Isou, La Créatique ou la Novatique. a.a.O., 7. 61 Vgl. ebd., 1374. Résumé: Tanja Ottmann, Isidore Isou (1925-2007): libérateur de la langue, „inventeur“ de la créativité, révolutionnaire et réformateur. Isidore Isou est considéré comme le fondateur du lettrisme, un mouvement littéraire et avant-garde, né en France en 1945. Le but du lettrisme était d’atomiser les lettres pour libérer la langue de sa carcasse trop rigide. En détruisant les mots, le lettrisme s’engageait sur de nouvelles voies de communication. Ainsi, Isou voulait offrir à ses lecteurs et auditeurs un événement sonore qui serait particulièrement capable de transmettre des émotions. Cet article décrit en premier lieu le personnage d’Isidore Isou - un homme extraordinairement novateur et créatif - ainsi que ses œuvres littéraires et artistiques. Isou visait souvent à provoquer des scandales à travers ses œuvres. Par conséquent, cet article analyse son intention critique et révolutionnaire également à travers ses manifestes.