eJournals lendemains 35/138-139

lendemains
0170-3803
2941-0843
Narr Verlag Tübingen
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2010
35138-139

I. Galster: Beauvoir dans tous ses états

2010
Peter Jehle
ldm35138-1390268
268 Comptes rendus Gründe, welche die Verständigung vorantrieben? Wie beeinflusst es die Beziehungen, wenn die vorwiegenden Emotionen Angst und Sorge um Sicherheit waren? Und müsste man dann statt von einer Entemotionalisierung nicht von einer Re- Emotionalisierung während der deutschen Wiedervereinigung sprechen? Der interessierte und neugierige Leser würde sich nun eine Fortführung wünschen, welche die in diesem Band so erkenntnisbringend analysierte Umbruchszeit rund um die „Stunde Null“ mit dem aktuellen Klima der deutsch-französischen Beziehungen in Verbindung bringt und der Frage nach heutigen deutsch-französischen Feldern bzw. deren Entwicklung nachgeht. Hanna Milling (Berlin) INGRID GALSTER: BEAUVOIR DANS TOUS SES ETATS. PARIS: TALLANDIER, 2007 (347 S., BR., 25 €) Im Unterschied zu jenen vermeintlich objektiven Wissenschaftlern, die „soit par identification, soit par démarcation“ (12) sich dem Gegenstand ihrer Bemühung nähern und dabei doch immer nur auf sich selbst treffen, zeigt der vorliegende Band, dass es möglich ist, seinem Gegenstand gerecht zu werden, ohne dass der Autor sich ständig ins Bild drängt. Die verschiedenen Textsorten - Interviews, Vorträge, Essays, Rezensionen, Dokumente - ergeben im Resultat ein Lesebuch im besten Sinn, das die unterschiedlichsten Durchblicke auf die mittegebende Gestalt erlaubt. Sie machen deutlich, dass es einer „nouvelle biographie sur Beauvoir“ (14) bedarf und dass niemand besser als Ingrid Galster selbst dieses Desiderat beheben könnte. Mit einer Beauvoir „dans tous ses états“ ist ein Horizont aufgespannt, in dem viele, zumindest mehrere Beauvoirs Platz haben. Hier werden Widersprüche wahrgenommen, ohne dass deshalb die Attitüde des enttäuschten Gläubigen eingenommen und nach der Inquisition verlangt würde. Weder wird die weltverändernde Wirkung des in 33 Sprachen übersetzten Deuxième Sexe bestritten (159), noch wird die ambivalente Rolle der Mitarbeiterin von Radio Vichy beschwiegen. „Ils auraient pu les mettre ex aequo“ (23), meint Maurice de Gandillac, der im selben Jahr 1929 wie Beauvoir und Sartre die Agregation in Philosophie absolviert hat, der Mann an erster, die Frau, 21 Jahre alt, an zweiter Stelle. Er vermutet, dass Sartre, der im Jahr zuvor noch gescheitert war, über „un peu plus d’expérience“ verfügte (24). Die Verblüffung, die in dem von André Lalande verfassten Abschlussbericht der Prüfungskommission zum Ausdruck kommt, dass nämlich die Frauen „peuvent manifester dans des épreuves de ce genre autant de vigueur et de distinction intellectuelles que les hommes“ (40), lässt zweifeln: Die „größere Erfahrung“ dürfte angesichts des gängigen Vorurteils von der intellektuellen Unterlegenheit der Frauen - erst seit 1920 sind sie zu dem Wettbewerb zugelassen - weniger entscheidend gewesen sein. Noch Jacqueline Gheerbrant, eine von Beau- 269 Comptes rendus voirs Schülerinnen in den 1930er Jahren, ist allerdings der Meinung, ihre geschätzte Philosophielehrerin habe sich um das Thema der Moral herumgedrückt, „car Sartre n’avait pas constitué sa Morale“ (49). Nicht nur im Fach Philosophie sind die Herren bis heute weitgehend unter sich. Die Liebe ist eine „große Produktion“, heißt es bei Brecht (Me-ti, GW 12, 571). Und wie bei allen großen Produktionen, die auf ausgetretenen Wegen nicht vorwärtskommen, ist auch das Freiheits-Experiment von Beauvoir und Sartre auf begeisterte Zustimmung und hasserfüllte Ablehnung gestoßen. Kaum ein Paar im 20. Jahrhundert hat eine Lebensweise praktiziert, die den Institutionen der Ehe und der Familie, diesen Eckpfeilern der bürgerlichen Ideologie, konsequenter den Kampf angesagt hätte. Kein Zufall, dass weder Beauvoir noch Sartre vom Vichy- Staat als geeignete Pädagogen eingestuft wurden. Dass Sartres Formel von „amour nécessaire“ und „amours contingentes“ (65) aufnahmefähig für Unaufrichtigkeiten, Feigheiten, Verletzungen aller Art war, ist für Ingrid Galster zu Recht nur die halbe Wahrheit. Die andere ist die, dass Beauvoir als Frau tatsächlich eine Freiheit praktiziert hat, „qui avait peu d’égale“ und dass sie dabei ihre Erfahrungen in ein Denken übersetzt hat, dessen Resultat in Le Deuxième Sexe vorliegt, „ce livre qui a changé la condition des femmes“ (72). Wenn das „couple modèle“ heute an Glanz eingebüßt hat, so nicht in erster Linie wegen der schmutzigen Wäsche, die in den Lettres au Castor von 1983 und den Lettres à Sartre von 1990 zum Vorschein gekommen ist. Der Mythos zeugt weniger von den Gestalten, an die er sich heftet, als vielmehr von der Gesinnung derer, die ihn geschaffen haben. Die Leidenschaft, mit der nach Auswegen aus der bürgerlichen Institution gesucht wurde, scheint heute dem umgekehrten Weg zu gelten: Je prekärer die Institution, desto unbeirrter will man es sich in ihr bequem machen. Was als Vorbildhaftes bleibt, ist nicht die bestimmte, von den beiden selbst vorgeführte Lebensweise, sondern die Aufrichtigkeit, mit der der einmal eingeschlagene Weg fortgesetzt wurde, ohne Rücksicht auf die herrschende „Vernunft“, die ihnen immer wieder nahelegte, doch „vernünftig“ zu sein. Aber war Beauvoir nicht allzu „vernünftig“ auf ihrem Weg durch das von den Deutschen besetzte Frankreich; waren die Wege, die sie beschritt, nicht allzu ausgetreten? Ist die berühmte „théorie de l’engagement et la participation à la Résistance intellectuelle“ (78) nur ein interessiertes Konstrukt post festum, welches das schlechte Gewissen mit einer Wunschbiographie beruhigen sollte? Wie schon im Falle Sartres 1 verweigert sich die Autorin einer einfachen Lösung: „Ma tentative de relecture [...] tend moins à trancher qu’à exposer“ (79). Zwar wird Beauvoirs „Widerstand“ weniger auf die aktive Teilnahme an der Gruppe „Socialisme et Liberté“ zu beziffern sein, doch war ihre Ablehnung der neuen Offizialideologie deshalb kein bloßes Lippenbekenntnis. Als sie 1943 ihren Posten in der Schule verliert, soll damit auch der Anspruch einer Frau auf eine Lebensweise getroffen werden, die sie - im Widerspruch zu den moralischen Wertetafeln des Vichy-Staates 1 Vgl. hierzu Ingrid Galster, Sartre, Vichy et les intellectuels, Paris (L’Harmattan) 2001. 270 Comptes rendus - als sinnvoll definiert: Sie hat keine Wohnung, schläft im Hotel, lebt im Café („où, de surcroît, elle corrige des copies“, 83) und unterhält Beziehungen mit Männern, ohne sie in die von Kirche und Staat legitimierte Form der Ehe zu überführen. Ihren Schülerinnen empfiehlt sie die Lektüre Gides und Prousts, dieser „Invertierten“, Repräsentanten eines durch die „nationale Revolution“ Pétains abgeschafften ‚Ancien Régimes’, das noch individuelle Freiheitsrechte garantierte. Wo die Bestimmung dessen, was als sinnvolles Leben gilt, in die Zuständigkeit des Staates im engeren Sinn fällt, wird schon das bloße Beharren auf individueller Unabhängigkeit zum politischen Akt. 2 Drei Jahre vor dem Berufsverbot, im Herbst 1940, unterschrieb sie das Treuebekenntnis, das der Vichy-Staat von seinen Beamten verlangte. Zu Recht weist Ingrid Galster darauf hin, dass Beauvoirs Rechtfertigung, es habe keine andere Möglichkeit gegeben, genau dem Verhalten der „Mitläufer“ entspricht, die zur Stabilität des Nazismus an der Macht Entscheidendes beigetragen haben (85). Die Bürgersöhne und -töchter, die keine mehr sein wollten, wurden immer wieder vom Elitismus ihrer Klasse eingeholt: „pour quelques-uns j’éprouvais un attachement très vif, pour la majorité, une dédaigneuse indifférence“ 3 - eine Gleichgültigkeit, wie sie bei ihr wie bei Sartre etwa Bianca Bienenfeld gegenüber zum Ausdruck kam. Sie lassen ihrer beider Geliebte von 1939/ 40 eben in dem Moment fallen, „où la situation commence à être dangereuse pour les juifs de France“ (86). Angesichts des „Zynismus“, mit dem Beauvoir ihrem Freund die Reaktion Bienenfelds auf den Brief schildert, in dem er mit ihr bricht: „Elle hésite entre le camp de concentration et le suicide“, sei es schwierig, so Galster, „de maintenir la connivence avec Beauvoir“ (86). Die Existenz, die dem Schreiben vorausgeht, interessierte vor allem als Rohstoff für die Produktion von Literatur. „Le tort de Beauvoir était peut-être celui de ne pas l’avoir assez signalé.“ (89) Nach dem Lehrverbot nimmt Beauvoir eine Stelle bei Radio-Vichy an - für viele ein „délit grave“ (111), mit dem sie zur „collaboratrice des Allemands“ (112) wird, zumal für Deirde Bair, 4 die in ihrer verbreiteten Biographie freilich Radio-Paris mit Radio-Vichy verwechselt. Hätte es noch eines Beweises für die Sorgfalt bedurft, mit der Frau Galster auch in diesem Punkt vorgeht, hier ist er: Sie entdeckte die 2 Vgl. hierzu die Forschungen des Projekts Ideologie-Theorie, die gezeigt haben, dass Begriffe wie „Gleichschaltung“ und „Politisierung“ irreführend sind, um die Faschisierung der Gesellschaft zu denken. Was als „Politisierung“ erscheint, ist der Sache nach Entpolitisierung: Entzug von Zuständigkeiten für die Gestaltung des individuellen wie öffentlichen Lebens. Wer dennoch daran festhält, gerät in Konflikt mit der faschistisch reorganisierten Gesellschaft (W.F. Haug, „Annäherung an die faschistische Modialität des Ideologischen“, in: Faschismus und Ideologie, Bd. 1, Berlin/ W 1980, 44-80, hier: 78, Argument- Sonderband 60). Damit wird auch deutlich, wie sehr der auf Beauvoir und Sartre gemünzte Buchtitel „Une si douce Occupation“ von Gilbert Joseph (Albin Michel, 1991) an der Wirklichkeit vorbeigeht. 3 Simone de Beauvoir, Mémoires d’une jeune fille rangée, 1958, 329. 4 Deirde Bair, Simone de Beauvoir, Fayard 1991. 271 Comptes rendus Manuskripte von sechs Sendungen (von insgesamt zwölf) über die „Origines du music-hall“ sowie eine Bearbeitung von Stendhals Lamiel für eine Sendung von 90 Minuten. Erst diese Funde verschaffen einer rationaleren Beurteilung die angemessene Grundlage. Die Sendereihe, die zwischen Januar und April 1944 ausgestrahlt wurde, entführt ihre Hörer in die Welt eines mittelalterlichen Jahrmarkts; in eine Pariser Kneipe, in der François Villon zwei seiner Balladen zum Besten gibt; ins Theater der Comédie Italienne mit einem Harlekin, der von sich behauptet, er komme gerade vom Mond, dessen Gebieter einem pantagruelischen Leben frönt; in die Pariser Unterwelt des Räuberhauptmanns Cartouche zu Beginn des 18. Jahrhunderts; in ein Lokal mit dem chansonnier Pierre-Jean de Béranger, einst „von den europäischen Demokraten und Revolutionären begeistert aufgenommen“; 5 schließlich auf die Amüsiermeile des Boulevard du Temple, auf dem der Schauspieler Frédérick Lemaître den Zeremonienmeister abgibt. Man wird in diesen Sendungen keine „Politik“ im engeren Sinn finden, doch kam es eben auf harmlose Unterhaltung an, wenn sich die Franzosen abends an ihren mager gedeckten Tisch setzten. Sie war von oben gewollt. Andererseits hätte Beauvoir ihr Personal nicht ausgerechnet unter den Außenseitern und Aufsässigen rekrutieren müssen, den Scharlatanen der Märkte und den Schauspielern der öffentlichen Plätze, die einen langen Weg zurücklegen mussten, um in der „zivilen Gesellschaft“ anzukommen. Nichts entgeht hier der Zweideutigkeit. Deutlicher kommt in der Adaptierung von Stendhals letztem Roman ein „refus“ (148) zum Ausdruck, der dem „vertuisme vichyssois“ die Gefolgschaft verweigert: Mit Lamiel, die für die herrschenden Verhältnisse nur die Worte: „c’est bête“ 6 parat hat, kommt die Geschichte einer individualistischen Revolte ins Bild, wie sie sie Beauvoir in ihren eigenen Romanen zu erzählen versucht hat. Zwar ist auch damit die Zweideutigkeit nicht ausgeräumt, von der alle in die Öffentlichkeit gelangende kulturelle Produktion im von den Nazis besetzten Europa geschlagen ist. 7 Der heute gängige Purismus, der Heiligsprechung und Verdammung miteinander verbindet, ist aber schon deshalb nicht brauchbar, weil er an die Stelle einer Widerspruchsanalyse das fertige Resultat setzt, an dem nur notorische Besserwisser interessiert sein können. Die Studien von Ingrid Galster verweigern sich solch beschränktem Bedürfnis. Angesichts einer Rezeption der postumen Schriften - 1990 erschienen die zwei Bände der Lettres à Sartre und ein Journal de guerre -, die in Beauvoir nurmehr eine „femme machiste et mesquine“ zu sehen vermag, so Marianne Alphant in der von Sartre mitbegründeten Libération, insistiert sie auf genauer Lektüre: So meint die Rezensentin, Nathalie Sorokine, eine ehemalige 5 Jan O. Fischer, Pierre-Jean de Béranger. Werk und Wirkung, Berlin/ DDR 1960 (Neue Beiträge zur Literaturwissenschaft, Bd. 11), 7. 6 Vgl. Le deuxième sexe, Bd. 1, 388 (Folio). 7 Gerade Joseph Goebbels, weit entfernt, ein bloß völkischer Ideologe zu sein, hat vor allem seit Kriegsbeginn eine Kulturpolitik betrieben, die die klassische Literatur ineins mit leichter Muse bevorzugte (vgl. Eckhard Volker, „Ideologische Subjektion in den Literaturverhältnissen“, in: Faschismus und Ideologie, Bd. 2, 280-306, hier: 293f). 272 Comptes rendus Schülerin Beauvoirs, sei von letzterer „verführt“ worden - in denkwürdiger Übereinstimmung mit dem in dem Band abgedruckten Brief der empörten Mutter an den Staatsanwalt, in dem Beauvoir als notorische Verführerin und „entremetteuse vis-àvis de son amant“ denunziert wird (105); tatsächlich, so Galster, verhielt es sich umgekehrt, was aber nur sehen kann, wer zu einer „lecture honnête“ bereit ist (252). Was der Rezensentin der Libération als „banalité et une obsession de l’exhaustivité“ (zit. n. 254), kurz Wichtigtuerei erscheint, ist der minutiöse Bericht aus einem Alltag, der zwischen Hotel, Schule, Café und Postamt verläuft und der überhaupt erst in der Distanz schaffenden Perspektive einer von honnêteté geprägten Lektüre Bedeutung gewinnt: Der von Paris abgeschnittene Sartre ist auf die Berichte angewiesen wie aufs tägliche Brot; sie sind das Rohmaterial möglicher Werke. Er protestiert, als ihm die Zensur seine Notizbücher wegnimmt, denn er könne zwar einen konfiszierten Roman aus dem Gedächtnis wieder herstellen, nicht aber seine Aufzeichnungen. Die Suggestion einer Beauvoir, der es an Kreativität und Erfindungsgeist mangelt und die dennoch Seite um Seite füllt, verkennt nicht nur den Status dieser Texte, die, im Unterschied zu Sartres Carnets de la drôle de guerre, ohne jeden Gedanken an eine spätere Publikation geschrieben wurden, sondern steht ihrerseits, wie Galster zeigt, im Dienst bestimmter Interessen: der Liquidierung einer Haltung, die alles Gegebene als Gewordenes begreift und jede Situation auf ihre Möglichkeiten hin untersucht. Mit Heißhunger stürzt man sich auf die postumen Schriften, um den Aufwand an Energie zu bestreiten, der nötig ist, um die herrschaftskritische Lehre erfolgreich zu verdrängen; Ingrid Galster hingegen nutzt sie, um der wie immer unbequemen, komplexen und widersprüchlichen Wirklichkeit näher zu kommen. Peter Jehle (Berlin)