eJournals lendemains 32/128

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Narr Verlag Tübingen
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2007
32128

In memoriam Martin Hellweg (1908 – 2006)

2007
Martin Vialon
ldm321280122
122 Martin Vialon In memoriam Martin Hellweg (1908 - 2006) Philosophischer Romanist, Kritiker Martin Heideggers und Theoretiker des Sozialismus (Teil 1) Es wird etwas falsch gewusst, heißt, das Wissen ist in Ungleichheit mit seiner Substanz. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes (1807) I. Einleitung Am 21. Mai 2006 verstarb Martin Hellweg im hohen Alter von 98 Jahren in Köln. Seine Freunde und die Leserschaft von Lendemains werden ihn als Zeitzeugen in Erinnerung behalten, hatte er doch einige Hauptvertreter der Marburger Romanistik persönlich kennen gelernt und mit ihnen zusammengearbeitet. Auf lebendiganschauliche Weise konnte Hellweg über das bizarre Marburger intellektuelle Milieu berichten, dem er selbst seit Ende der zwanziger Jahre für ein Jahrzehnt angehörte. Als äußerst heterogener Komplex hatte sich Marburgs Hermeneutik konstituiert und gab den philosophisch und theologisch grundierten Bezugsrahmen zur Romanistik ab, die von Martin Heideggers Ontologie nicht unbeeinflusst blieb. Martin Hellweg wurde am 14. April 1908 im thüringischen Nohra als Sohn eines protestantischen Pfarrers geboren. Auf unprätentiöse Weise wirkte er als philosophischer Romanist im Verborgenen und hatte an der Seite seiner akademischen Lehrer und Freunde Erich Auerbach, Werner Krauss, Ulrich Leo und Karl Löwith jene intellektuelle Prägung erfahren, die ihm ermöglichte, sich in allen Bereichen der Geisteswissenschaft zu bewegen. Durch die Publikation der minutiös kommentierten Briefe von Werner Krauss an Bertie und Martin Hellweg setzte Michael Nerlich entscheidende Akzente. Aus diesem Briefkonvolut, das in dem legendären Sonderheft zu Werner Krauss erschien, 1 geht hervor, dass Hellweg durch die Rezeption seiner Veröffentlichungen während der dreißiger Jahre als Nachwuchswissenschaftler anerkannt und schätzen gelernt wurde. Ebenso wird durch diese Briefe der über Krauss vermittelte Kontakt Hellwegs zum Widerstandskreis um Harro Schulze-Boysen markiert. Zuvor war Nerlich bei der Spurensuche zum Gründungsakt der demokratisch verfassten Romanistik, angeregt vom Komparatisten Franz Josef Albersmeier, der am Ostendorf-Gymnasium in Lippstadt bei Hellweg Französisch lernte, auf Hellwegs Namen gestoßen und konnte so damit auch einen fachgeschichtlich relevanten Baustein zu seiner frühen Studie „Romanistik und Anti-Kommunismus“ 2 hinzufügen. Zwar meinte Frank-Rutger Hausmann, dass Nerlichs Polemik ohne archivarische Dokumente ausgekommen sei, 3 aber sein mutiger Tabubruch, der sich gegen das Verschweigen der NS-Vergangenheit rich- 123 tete, bewirkte doch, dass sich später weitere Fachvertreter der Aufarbeitung ihrer Disziplin angenommen hatten. 4 Inzwischen hat sich die Fachgeschichtsschreibung der Romanistik - auch und vor allem dank der umfänglichen Bemühungen Hausmanns - zu einer allgemeinen Geschichtsschreibung der Geisteswissenschaften entwickelt, an der sich zunehmend Nichtromanisten beteiligen. 5 Die nahezu einzigartige Konstellation, die sich an der Philipps-Universität Marburg aus dem fachübergreifenden Zusammenspiel von Romanistik, Philosophie und Theologie seit etwa Mitte der zwanziger Jahre entwickelte, wurde im Rahmen der von Matthias Bormuth und Ulrich von Bülow organisierten Arbeitstagung „Marburger Hermeneutik zwischen Tradition und Krise“ 6 überdeutlich. Bezogen auf die Tendenz der neuesten Forschungsentwicklung, die sich dank der am „Zentrum für Literatur- und Kulturforschung“ Berlin geleisteten Arbeit als Verschiebung von der traditionellen Fachgeschichtsschreibung hin zur allgemeinen Kulturforschung abzeichnet, wird erkennbar, dass die Romanistik nicht mehr als isolierte Disziplin betrachtet werden kann. Aufgrund der transdisziplinär ausgerichteten Arbeiten von Karl Vossler, Leo Spitzer, Erich Auerbach, Werner Krauss und ihrer Schüler ergeben sich enge Beziehungen zur Lebensphilosophie, Soziologie, Ikonographie, frühen kritischen Theorie und zum Kulturprotestantismus sowie des intellektuellen Umfeldes, namentlich zu Georg Simmel, Ernst Troeltsch, Aby Warburg, Rudolf Bultmann, Erwin Panofsky, Walter Benjamin, Siegfried Kracauer, Georg Lukács und Ernst Bloch; die Methoden, Fragestellungen und Sinnzusammenhänge der Romanistik hatten von den genannten Fächern profitiert, ja diese sogar absorbiert und wurden durch das Exil an andere Orte verpflanzt, wo sie sich neu formierten und zumindest in Istanbul als Leitdisziplin für die anderen Philologien und Geisteswissenschaften dienten. 7 Von der Romanistik ging daher einst eine ungeheure Strahlkraft aus, die sie heute als Einzeldisziplin verloren zu haben scheint. Über die einzelnen Gründe möchte ich mir als Nichtromanist kein Fachurteil anmaßen. Aber durch den Zivilisationsbruch, der 1933 einsetzte und dem erneuten Wandel, dem jetzt die Geisteswissenschaften im Kontext der gesellschaftlichen Veränderungsprozesse nach 1989 ausgesetzt sind (Tendenz zur Privatisierung der Bildungseinrichtungen, Konkurrenzkampf zwischen staatlichen und privaten Universitäten und Forschungsinstituten, Nivellierungsprozesse im Übergangszeitalter von der skripturalen in eine piktural-digitale Computerkultur), stellt sich nachträglich umso mehr heraus, dass die von Nerlich zu Beginn der siebziger Jahre eingeschlagene Forschungsrichtung weitgehend Bestätigung findet. Nerlichs Verdienste um Krauss und Hellweg sind in mancher Nuance viel reicher, als der Öffentlichkeit bekannt ist. Er hatte den Verfasser mit dem Verstorbenen persönlich bekannt gemacht und es entwickelte sich eine Freundschaft, aus der eine Aufsatzstudie 8 und schließlich die Veröffentlichung der Briefe Auerbachs hervorging. Die literaturgeschichtliche Relevanz dieser Korrespondenz besteht darin, dass Auerbach gegenüber Hellweg methodische Grundlagen entwickelt, die mit der Konzeption der in Istanbul entstandenen „Mimesis“ (1946) korrelieren. Bezogen auf begriffsgeschichtli- 124 che Probleme, die Hellweg bei der Abfassung einer Studie zum Vorstellungsinhalt von Weltliteratur entstanden, sagt ihm Auerbach, dass man „insbesondere […] in der Arbeitstechnik nicht vom allgemeinen Problem ausgehen“ 9 solle, „sondern von einem gut und griffig ausgewählten Einzelphänomen.“ 10 Dieses Modell wendet Auerbach in seinem Exilwerk an, indem er den Textinterpretationen zum antiken, christlichen und modernen Realismus ausgewählte primäre Textstellen voranstellt. Sie werden auf induktive Weise entschlüsselt, wodurch die literaturhistorische Dimension der zitierten Werke und ihre stilistischen Eigenheiten zur Darlegung gelangen. Martin Hellweg studierte in Freiburg, Berlin und Marburg und wusste sich auf dem Höhenkamm existentialistischer und marxistischer Philosophie sicher zu bewegen. Er sprach ein ausgezeichnetes Französisch, daneben Spanisch, Englisch, Russisch und beherrschte die alten Sprachen Griechisch und Latein. Wie nur wenige Wissenschaftler seiner Zeit, die auf dem Sprungbrett zur Professur standen, bildete sich bei Hellweg vor dem Einbruch des Nationalsozialismus ein kritisches Bewusstsein der politischen Lage heraus. Die Anregung zu dieser Formierung hatte er sowohl innerhalb des philologisch umgrenzten Faches der Romanistik wie auch außerhalb gewonnener soziologischer und philosophischer Einflüsse gewonnen. Seine besagten Lehrer hatten durch ihre Veröffentlichungen die nationalphilologisch erstarrten Schranken der Romanistik weggeräumt und eine komparatistisch und soziologisch fundierte Disziplin aufgebaut sowie die ontologische Daseinsanalyse Martin Heideggers durch marxistische Kategorien ergänzt. Später erlangten ihre Werke internationale Anerkennung, die Hellweg zu Lebzeiten durchaus hätte zu Teil werden können, wenn nicht der Nationalsozialismus seine in Marburg begonnene Karriere zerstört hätte. II. Hellwegs Rousseau-Dissertation im ideenhistorischen Kontext von „Sein und Zeit“ Hellweg hatte noch bei Auerbach über den Gewissensbegriff bei Rousseau 11 promovieren können, bevor dieser wegen seiner jüdischen Herkunft als Beamter vom Hochschuldienst im Oktober 1935 suspendiert wurde. Diese Dissertation zeichnet sich dadurch aus, dass mittels einer auf den Frühschriften von Karl Marx basierenden Perspektive eine Ideologiekritik von Heideggers fundamentalontologischer Definition des Gewissens als Ruf- und Sorgecharakter vorgenommen wird. Hellweg berichtete mir, dass er die Marburger Marx-Vorlesung von Karl Löwith zu Beginn der dreißiger Jahre gehört hatte, deren Erträge in einem Essay veröffentlicht wurden. 12 Zu diesem Zeitpunkt waren die im Auftrag des Marx-Engels Instituts in Moskau herausgegebenen Frühschriften in zwei zeitgenössischen Ausgaben erschienen. 13 Anthropologisch behandeln Marx und Engels nicht die soziale Funktion des Gewissens, sondern in Anlehnung an Hegels „Phänomenologie“ die zur Emanzipation des Individuums notwendige Selbstgewissheit des menschlichen Geistes, der jedoch von seinem Inneren entfremdet ist und erst zu sich gelangen kann, wenn 125 die äußeren Voraussetzungen in Form einer verträglichen Gesellschaftsordnung vom Menschen geschaffen werden. Die Emanzipation des Individuums wird nicht als Emanzipation von der Gesellschaft, sondern als Vorgang innerhalb der Gesellschaft begriffen. Das Individuum wird durch die Industriegesellschaft, wie sie Marx in Europa verkörpert sah und wie sie in Perioden wie der neoliberalen Großindustrie und gegenwärtigen Massenkultur ihren Höhepunkt erreicht hat, atomisiert. Im Prozess der gesellschaftlichen Arbeitsteilung zeigt sich der Verdinglichungscharakter des Bewusstseins, das veräußerlicht erscheint. 14 Diese Atomisierung soll aufgelöst werden. Entscheidend ist, dass beim jungen Marx das Problem der Entfremdung, das Hegel als „unglückliches Bewusstsein“ 15 und Verlust seiner Selbst im Anderen - als gebrochene Entäußerungsform durch Arbeit - charakterisiert hatte, durch materialistische Anschauung überwunden wurde. Mit diesen neu erworbenen Kenntnissen nähert Hellweg sich Heidegger an der Schnittstelle zwischen Fundmentalontologie und der Ontologie des gesellschaftlichen Seins an, wodurch er der Frage nach dem Gewissen eine konkrete Bestimmung verleiht. Die soziale Spaltung der Gesellschaft und ihren Warencharakter hatte Rousseau schon erblickt. In dessen Enzyklopädieartikel heißt es: „Résumons en quatre mots le pacte social des deux états. Vous avez besoin de moi, car je suis riche et vous êtes pauvre; faisons donc un accord entre nous: je permettrai que vous ayez l’honneur de me servir, à condition que vous me donnerez le peu qui vous reste, pur la peine que je prendrai de vous commander.“ 16 Der Zwang zum Verkauf der Arbeitskraft und die zunehmende Arbeitsteilung erscheinen als Gegensätze, womit Rousseau die Marxsche Verelendungstheorie vorwegnimmt und die Zuspitzung des sozialen Unfriedens reflektiert, der während der Vorphase der französischen Revolution zu einem gesellschaftlichen Gewissensproblem eskalierte. Der Existentialontologe Heidegger hatte jedoch das Gewissen als zum eigenen Selbst zugehörig definiert, das nicht „im öffentlichen Miteinander gilt“, 17 weil es sich „einzig und ständig im Modus des Schweigens“ 18 ausdrücke. Die „Sorge“ des Gewissens und sein zeitweilig zu erhörender „Ruf“ nach Klärung eines Konflikts gelte als phänomenaler Befund nur subjektiv, „weil das Gewissen im Grunde und Wesen je meines ist.“ 19 Jeder andere Auslegungsversuch würde demzufolge „eine Flucht vor dem Gewissen“ 20 darstellen. Diese dem Gewissen zugedachte Funktion bleibt ohne praktische Konsequenzen für gesellschaftliches Handeln aus. 21 Denn die Gesellschaftlichkeit des Menschen wird bei Heidegger lediglich als Existenzial des Daseins verstanden, welches durch die anonyme Herrschaft des „Man“ bestimmt ist. 22 Dieses „Man“ konstituiert sich durch das Zusammenleben der Individuen, ihren Konkurrenzkampf untereinander, die alltäglichen Verrichtungen, die zum Leben, Überleben und Miteinandersein zählen und „schreibt die Seinsart der Alltäglichkeit vor“, 23 aus der wiederum die Befindlichkeiten und Seelenzustände des Individuums entstehen. Die Existenziale der Sorge, Angst und des Gewissens weisen auf innere Problemzustände des Individuums hin, die nicht auf ihre Ursachen zurückgeführt werden, denn das Man konstituiert sich aus „Abständigkeit, Durch- 126 schnittlichkeit [und] Einebnung,“ 24 womit die „Seinsweisen“ 25 gemeint sind, die „wir als ‘die Öffentlichkeit’ kennen.“ 26 Die Erscheinungsform dieser gesellschaftlichen Öffentlichkeit ist gekennzeichnet durch einen Zerfaserungsprozess, dem das Individuum nicht entkommt: „in dieser Unauffälligkeit und Nichtfeststellbarkeit entfaltet das Man seine eigentliche Diktatur.“ 27 Der einzelne Mensch wird von den Ansprüchen der Wirklichkeit (Inflation, Wirtschaftskrise, politische Kämpfe, hohe Arbeitslosigkeit während der Weimarer Republik) permanent herausgefordert, so dass er leidet und sich verängstigt fühlt, den Teufelskreis der Anonymität des Man und seiner „Diktatur“ aufzubrechen. Heidegger sagt auch, dass das Man in dieser Weise als wandelbar anzusehen sei und deutet auf dessen historische Verfasstheit hin: „Das Man ist ein Existenzial und gehört als ursprüngliches Phänomen zur positiven Verfassung des Daseins. Es hat selbst wieder verschiedene Möglichkeiten seiner daseinsmäßigen Konkretion. Eindringlichkeit und Ausdrücklichkeit seiner Herrschaft können geschichtlich wechseln.“ 28 Was Heidegger auf suggestive Weise in der ihm eigenen Terminologie darlegt, entspricht unausgesprochen den sozialökonomischen Vereinheitlichungsformen des Kapitalismus. Die phänomenologischen Erscheinungsformen der Moderne (Alltäglichkeit des Warenfetischismus) werden auf vorbegriffliche Weise berührt. 29 Der springende Punkt ist der, ob sich der Mensch über seine ökonomische und moralische Verschuldung 30 bewusst werden kann. Wie ist diese Schuld als Teil der Existenz zu verstehen? Bezogen auf den Rufcharakter des Gewissens heißt es: „Das Rufverstehen erschließt das eigene Dasein in der Unheimlichkeit seiner Vereinzelung.“ 31 Der Terminus „Unheimlichkeit“ spiegelt die Kehrseite der Warenwelt als verdinglichtes Bewusstsein wider. Heidegger fordert vom Individuum die Bereitschaft zur Entschlossenheit, dass dieser Zustand nicht als unbedingter anzuerkennen sei. Daraus folgt, dass die Existenz des Menschen durch die Möglichkeit des „Schuldigseins“ 32 konstituiert wird. Mit Verweis auf die Formulierung „bei einem etwas am Brett haben“ 33 wird die ökonomische Verschuldung erläutert; die moralische Komponente erfährt durch den Hinweis auf die „Kantische Gerichtshofvorstellung“ 34 ihre Ausdeutung, denn in Kants regulativer Tugendlehre ist dem Gewissen die Aufgabe beigemessen, sich als „Stimme des inneren Richters“ 35 Gehör zu verschaffen. Diese Lehre korrespondiert unmittelbar mit der jüdisch-christlichen Idee der Nächstenliebe, 36 ausgedrückt in der Bergpredigt (Mt. 5-7), und der Erlösung im Weltgericht (Mt. 25, 21-46). Das bedeutet, dass durch die Seinserfahrung der Nächstenliebe 37 und Pflicht zur Schuldvergebung gegenüber sich selbst und den Schuldigern der Mensch nicht als Mittel, sondern als Zweck an sich bestimmt ist. Bezogen auf das prinzipielle „Schuldigsein“ beinhalten diese beiden Prämissen für Heidegger nichts anderes, als dass darin die Entfaltungsmöglichkeiten des moralisch Guten und Bösen zum Ausdruck gelangen. Offen bleibt jedoch, was dem Individuum zu tun schuldig bleibt, wenn es heißt: „Das Wozu der Entschlossenheit ist ontologisch vorgezeichnet in der Existenzialität des Daseins überhaupt als Seinkönnen in der Weise der besorgenden Fürsorge. […] Die Entschlossenheit be- 127 deutet Sich-aufrufenlassen aus der Verlorenheit in das Man.“ 38 Das „Wozu“ als praktische Zielorientierung bleibt bis 1933 fraglich. Hellweg überwindet diese ontologische Konzeption, indem er in Bezug auf Rousseaus „Du contrat social ou principes du droit politique“ (1754/ 62) den Zweck der Einzelperson, in der sich nach Heidegger das Gewissen als bloß zu schweigen Habendes konstituiert, als eine aktive Verpflichtung und Verantwortung gegenüber dem gesellschaftlich Allgemeinen versteht. Dadurch wird nicht nur die Würde des Einzelnen gegen eine barbarische Bedrohung gesichert, sondern eine Kulturkritik formuliert, die sich auf das antagonistische Verhältnis von Partikularinteressen und Gemeinschaftsinteressen bezieht. Hellweg macht für Rousseau geltend, dass dieser den Gewissensbegriff von der reformatorischen Prädestinations- und Glaubenslehre Calvins abgelöst und damit theologisch entkernt hatte. 39 Das Gewissen korrespondiere mit dem Willen und wirke als aufklärende Instanz, um geschichtlich eingefrorene Verhältnisse zu verändern: „Die häufigen Anrufe, die geheime Stimme des Gewissens zu hören, in sich selbst zurückzugehen, bedeuten nichts anderes als den Anruf an den Willen, aus den Zuständen der Unmenschlichkeit herauszutreten, die als willenlos dargestellt werden […].“ 40 Diese Funktion des Gewissens, die sich gegenüber der introvertiert-passiven Verfasstheit bei Heidegger aktiv nach außen wendet, erscheint bei Rousseau als Mittel zur politischen und sozialen Emanzipation. Im Idealfall ist der Machtverschiebung im Staatskörper zugunsten des vierten Standes anzustreben. Das Gewissen radikalisiert sich, dient als Instrument der Kritik gegenüber den realen Lebensverhältnissen: „Es ist der bewusste Angriff der Ideologie einer neuen Gesellschaft auf den Staat, wenn unter Gesellschaft eine vorüberwiegend unter wirtschaftlichen Bedingungen stehende Totalität aufgefasst wird, und der Staat als die Macht, die sich in den Händen einer Schicht befindet, die sich einer wirtschaftlichen Entwicklung im Sinne der neuen gesellschaftlichen Klasse entgegenstemmt.“ 41 Hellweg interpretiert den Gesellschaftsvertrag im Hinblick auf die Marxsche politische Ökonomie. Ihm kommt entgegen, dass Rousseaus Gewissenskritik die kruden Machtverhältnisse des ancien régime im „Discours sur l’origine et les fondemens de l’inégalité parmi les hommes“ (1753/ 55) als Kritik am Privateigentum der feudalistischen Gesellschaftsordnung versteht. Im Kontrast zu Heidegger entwickelt Hellweg einen soziologisch fundierten Gewissensbegriff, der nicht vom gesellschaftlichen Außenraum abgekoppelt wird, sondern die versklavende Lohnarbeit des Menschen in den Blick nimmt: „Die Menschlichkeit wird aber dann selber zerteilt, da in der Lohnarbeit der Mensch nur als Werkzeug angesehen werden kann.“ 42 Hellweg sagt weiter, dass beim Prozess der Transformation des Naturzustandes in einen Gesellschaftszustand dem Menschen „der Werkzeugcharakter von außen“ 43 aufgezwungen wird. Was Rousseau noch nicht sah, war nach Hellwegs Deutung damit verbunden, dass die technisch verfeinerten Produktionsbedingungen, aus denen neue Besitz- und Machtverhältnisse hervorgehen, keiner Selbststeuerung durch den vierten Stand unterliegen. Das gegen diese Verhältnisse revoltierende Gewissen wird von Hellweg positiv als „integrierender Bestand- 128 teil der neuen gesellschaftlichen Welt […], wie sie aus der französischen Revolution hervorging“, 44 definiert. Etwas anders hatte Hellwegs Doktorvater die historische Stellung Rousseaus im 18. Jahrhundert verortet. Auerbach Argumentation, die ohne ein einziges Rousseau-Zitat auskommt, sucht eine allgemeinkulturhistorische Einordnung vorzunehmen, die von der Prämisse ausgeht, dass Rousseau der erste europäische Aufklärer von Rang gewesen sei, der „seine potentielle Christlichkeit nicht zu aktualisieren vermochte.“ 45 Auerbach kommt zum abschließenden Urteil, dass der Zerfall des Christentums zu Rousseaus Zeit schon so weit durch die Säkularisierung fortgeschritten war, dass innerhalb der christlichen Kirche, die ihren beschützenden Anspruch auf das Seelenleben des Christen auszudehnen versuchte, für einen von Minderwertigkeitsgefühlen geplagten Menschen wie Rousseau kein Platz mehr vorhanden gewesen sei: Daß ein Mensch […], durchtränkt von Demut, Weltflucht, Begierde nach Buße und Erlösung, in keiner christlichen Kirche mehr Raum fand, dass er auch keine neue christliche Kirche gründete, dass in den Ausbrüchen seiner Verzweiflung und seiner Hoffnung kein Wort zu finden ist von dem Leiden Christi, vom Sündenfall und vom Jüngsten Tag - das scheint mir für die Wendung Europas in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entscheidend.46 Was Auerbach am Beispiel Rousseaus herausarbeitet, bezieht sich darauf, dass über den Prozess der Säkularisierung die Pervertierung der moralischen Grundgedanken des Christentums möglich wurde. Im 20. Jahrhundert fand sie in der völkischen Ideologie eine extreme Gestalt. Ihr Rassismus zerstörte die christliche Ethik und die Nazis setzten an deren Stelle ein Terrorsystem, das soziale Gerechtigkeit und Formen demokratischer Gewaltenteilung nach dem Modell Rousseaus auslöschte. Das neue Regime verschaffte dem einzelnen Menschen ein gutes Gewissen gegenüber denjenigen, die schwach, hilflos und aufgrund ihrer mosaischen Glaubenszugehörigkeit ausgestoßen, verfolgt und getötet wurden. Auerbach wurde am Vorabend der nationalsozialistischen Machtergreifung bewusst, dass in der Aushöhlung christlicher Lebensideale (besonders der Lehre von der caritas) eine der gefährlichsten ideologischen Manipulationen des Nationalsozialismus begründet lag. Mindestens ebenso nachhaltig wie das von Auerbach skizzierte Rousseau-Bild, stellt Hellwegs Gewissensinterpretation eine verschlüsselte Kritik am Nationalsozialismus und den ihn stützenden Monopolkapitalismus dar. III. Hellweg und Krauss: Widerstand gegen den Nationalsozialismus, zweite Heidegger-Kritik und Neuanfang mit Marx Im Jahr 1938 wurde Hellweg als Mitarbeiter von Werner Krauss aus politischen Gründen von seiner Assistentenstelle entlassen. Die angestrebte Habilitation zu einem Thema der französischen Aufklärung konnte er nicht beenden, da ihm die materielle Grundlage entrissen wurde. Hellweg wechselte notgedrungen in den 129 Schuldienst, absolvierte das Referendariat in Frankfurt, wurde 1940 einberufen und aufgrund seiner russischen Sprachkenntnisse während des Krieges in eine Nachrichteneinheit nach Kurland kommandiert, wo er bis zum Kriegsende seinen Dienst versah. Nach dem Abbruch seiner Universitätskarriere engagierte er sich gegen den Nationalsozialismus. Die innere Dramatik dieses Kampfes ist durch die Veröffentlichung von Werner Krauss’ Bericht über Hellwegs Zugehörigkeit zur Schulze-Boyen/ Harnack-Konspiration bekannt geworden. Die Aufzeichnungen zeigen, dass Hellweg das Vertrauen von Harro Schulze-Boysen gewann und als sein Mitarbeiter in der illegalen Widerstandgruppe vorgesehen war: Schulze-Boysen wollte mir ein Kommando im OKH verschaffen, wobei ich ihm unmittelbar unterstellt worden wäre. Da es aber wichtiger erschien, dass ich die Verbindung mit meiner Dolmetscherkompanie herstellte und meine Kenntnis des russischen auch nur neueren Datums war, so schlug ich statt meiner meinen langjährigen Freund und Marburger Mitarbeiter Martin Hellweg vor. Hellweg war als Funker in Pskow eingesetzt und hatte wohl bei diesem Einsatz wie auch durch seinen ständigen Umgang mit dem sowjetfreundlich gebliebenen Teil der Bevölkerung […] in unserem Sinne gewirkt. Bei einem Urlaub brachte ich ihn in Berlin mit Sch.-B. zusammen. […] Sch.-B. reklamiert Hellweg bei seiner Truppe, die ihn aber nicht freigeben wollte. Als die Reklamation endlich durchgegangen war, war Sch.-B. schon verhaftet. Ich konnte Hellweg noch in einem chiffrierten Brief warnen. Seine Feldtruppe hielt ihn auch später, als er zu seiner Vernehmung nach Brandenburg kommandiert wurde. Während meiner Haftzeit habe ich natürlich die Spuren Hellwegs verloren und von ihm nur erfahren, dass er Ende 1944 in einem Lazarettzug vor Riga lag. Ende 1945 tauchte er wieder in Fulda auf.47 Die geschilderte Situation, die zeitlich mit der Entdeckung der Widerstandsgruppe durch die Gestapo im August 1942 korreliert und in deren Zusammenhang Krauss selbst verhaftet und vorläufig zum Tode verurteilt wurde, hätte auch Martin Hellweg das Leben kosten können. Jedoch der gemeinsame Kamerad Harro Schulze-Boysen hatte während der Verhöre durch die Gestapo heroisch geschwiegen und Hellweg vor dem drohenden Fallbeil in Berlin-Plötzensee bewahrt. Krauss fährt in seinem Bericht fort und sagt in Bezug auf Hellweg: „Schulze-Boysen ist auf der Gestapo aufs schwerste gefoltert worden. […] Dennoch hat Sch.-B. nur solche Dinge zugegeben, von denen er annehmen musste, dass sie der Polizei von vornherein bekannt waren. Über seinen Verkehr mit mir und mit Martin Hellweg hat er sich vollständig ausgeschwiegen. Er wurde zweimal zum Tode verurteilt und im Dezember 1942 hingerichtet.“ 48 Diese Zeit der Anspannung - wissend, dass sein Freund Krauss in der Todeszelle ausharrte und immer hoffend, dass er überlebt - selbst überstanden hatte, verfolgte Hellweg psychisch lebenslang. Das Erlebte vernarbte nie endgültig. Aus seinen unveröffentlichten Nachkriegsbriefen an Krauss geht hervor, dass er die Auswanderung in ein romanisches Land ins Auge fasste und für einige Zeit zwischen einer Tätigkeit im Journalismus, der Politik oder Wissenschaft hin und her schwankte. Schließlich entschied er sich für den Schuldienst und hatte die Fächer Französisch, Englisch und Deutsch am Gymnasium Philippinum in Marburg (1947-1953) 49 und zuletzt in der Stellung eines Oberstudiendirektors und Schulleiters in Lippstadt (1962-1970) unterrichtet. 130 Von Anfang an setzte sich Werner Krauss dafür ein, dass das Martin Hellweg widerfahrene Unrecht wiedergutzumachen sei. Dass Hellweg ein Gegner des Nationalsozialismus war und ihn bekämpfte, war allerdings äußerlich durch die Tatsache verdeckt, dass er 1933 zum eigenen Schutz in die SA eintrat und kurz darauf sie wieder verließ. Der eigene „braune Fleck“, der als Tarnkappe seinem Freund Krauss nur zu gut bekannt war und über dessen Austilgung Hellweg in seinen Briefen berichtet, wird ihm negativ bei seinen Bewerbungen angelastet. Am 15. März 1946 führt Hellweg dazu aus: „Bis jetzt konnte man mir aufgrund der Angaben über mich immer wieder einen Strich durch die Rechnung machen, indem man auf den braunen Fleck hinwies.“ 50 Wenig später hatten Gutachten von Auerbach und Krauss dazu beigetragen, dass dieser Tarnfleck bereinigt wurde. Krauss schlug Hellweg in dieser Zeit für eine Professur an der Universität Greifswald vor. Aus der Empfehlung vom 30. Juli 1946, die er an Günther Jacoby (Dekan der Philosophischen Fakultät der Universität Greiswald) sandte, geht die anschaulichste Charakterisierung von Hellwegs Wesen und Intellektualität hervor. Nachdem Krauss berichtet, dass sein anderer Schüler, Franz Walter Müller, 51 nicht für eine Professur in Frage käme, kommt er auf Hellweg zu sprechen: Dagegen möchte ich mir erlauben, Ihnen ganz besonders dringlich einen älteren Schüler von mir zu empfehlen, der durch politische Antipathien schon 1936 aus der akademischen Laufbahn herausgerissen wurde und seitdem […] seine starken wissenschaftlichen Bestrebungen in der Stille weiter verfolgt hat. Es handelt sich um Martin Hellweg […]. [Er] promovierte in Marburg mit einer vielbesprochenen Arbeit ‘Das Gewissen bei Jean Jacques Rousseau’, Marburg 1936. […] Neben kleineren Veröffentlichungen schrieb er eine methodisch und geschichtlich gleichbedeutende Arbeit über die Kreuzzugsepik […]. Hellweg ist literahistorisch, sprachwissenschaftlich und philosophiegeschichtlich gleich begabt und besitzt einen bedeutenden Bildungshorizont. Er wurde aus seiner Assistentenstelle in Marburg wegen seiner früheren Zugehörigkeit zu der freisozialistischen Studentengruppe verdrängt. Daher blieb ihm der formelle Abschluss einer Habilitation versagt, jedoch hat er das Material schon soweit bereitgestellt, dass diese Lücke bald geschlossen werden könnte. […]. Ein Nebengebiet seiner Interessen ist die Slavistik (er beherrscht eine Reihe slavischer Sprachen vollständig) und ich glaube, dass seine Begabungsrichtung ihn mehr oder weniger in die vergleichende Literaturwissenschaft drängen wird. Hellweg ist als Mensch zurückhaltend, zuverlässig und in ernsteren Gesprächen äusserst durchdringend. Noch ehe ich von der Greifswalder Vakanz erfuhr, hatte ich anlässlich eines Berliner Aufenthaltes auf diesen hervorragenden Repräsentanten unseres romanistischen Nachwuchses aufmerksam gemacht.52 Dieses Portrait zeugt von der sokratischen Bescheidenheit Hellwegs, die einen Grundzug seines Charakters ausmacht. Er hatte im Kontext der fehlgeschlagenen Entnazifizierungspolitik und Zuspitzung des Ost-Westkonflikts nicht den Weg in die Universität eingeschlagen. Vermutlich deshalb nicht, weil Hellweg während des Prozesses der „Reinwaschung von der brauen Sch[eiße]“ 53 bemerkte, dass noch viele unangenehme „Abwässerausdünstungen“ 54 die Atmosphäre verpesteten. Trotz seiner humanistisch-marxistischen Überzeugung folgte er nicht dem Wunsch 131 von Werner Krauss, der KPD beizutreten. Hellweg suchte nach einer intellektuell unabhängigen Position, die er besonders in der Diskussion mit Krauss zu befestigen wusste. Am 2. Dezember 1945 heißt es: Aber die neue Entwicklung tritt jetzt wohl in ein schärferes Licht und da lässt sich mit blossen Entscheidungen nicht mehr allein arbeiten, man muss die eigene Position auch zu klären wissen. Ich bin da auf eine Reihe von Fragen gestoßen […]. Der wesentliche Punkt ist dabei wohl die Stellung des Proletariats innerhalb der Marxschen Interpretation. Ist es nur eine Negation, ein Produkt der Bourgeoisie, die ja auch andere Erscheinungen zersetzend erzeugt hat? Wenn das Proletariat etwas dialektisch-negatives ist, worin liegt dann der positive Wert, der gerade diese Position auszeichnen müsste, und sie allen Arten der bürgerlichen Diskussionsebenen […] überlegen machen müsste? 55 Diese zentralen Fragen bilden die gedankliche Struktur zu der nahezu unbekannten Schrift „Die Stellung des Proletariats bei Karl Marx“, 56 womit Hellweg an die frühere Diskussion zum Gewissensbegriff anknüpft. Er formuliert hier erstmals in offener Form seine zweite Heidegger-Kritik und reagiert indirekt auf die in Frankreich zeitgleich stattfindende Auseinandersetzung mit Heideggers Schriften, an der sein Freund Karl Löwith durch den Artikel „Les implications politiques de la philosophie de l’existence chez Heidegger“ beteiligt war. 57 In der Debatte hatte Löwith, im Rückgriff auf seinen zehn Jahre früher entstandenen Dezisionismus-Aufsatz, gezeigt, wie das Umschlagen existenzialontologischer Kategorien in geschichtliche Impulse zu verstehen sei. Speziell vermittels der stilistischen Analyse von Heideggers Rektoratsrede „Die Selbstbehauptung der deutschen Universität“ (1933), in welcher zentrale Begriffe aus „Sein und Zeit“ eingeflochten wurden, hebt Löwith formale Ähnlichkeiten hervor, die diese Rede mit der Sprache der nationalsozialistischen Ideologie und ihrer Vorlaufzeit besitzen: Denn der ‘Geist’ des Nationalsozialismus hatte es nicht so sehr mit dem Nationalen und Sozialen zu tun als vielmehr mit jener radikalen Entschlossenheit und Dynamik, die jede Diskussion und Verständigung ablehnt, weil sie sich einzig und allein auf sich selber verlässt - auf das je eigene (deutsche) Sein-können. Es sind durchwegs Ausdrücke der Gewaltsamkeit und Entschlossenheit, die das Vokabular der nationalsozialistischen Politik und von Heideggers Reden bestimmen. Dem diktatorischen Stil der Politik entspricht das Apodiktische in Heideggers pathetischen Formulierungen. […]. Sie spiegeln alle die katastrophische Denkweise der deutschen Generation nach dem ersten Weltkrieg. […] Im Grunde sind all diese Begriffe und Worte der Ausdruck für die bittere und harte Entschlossenheit eines sich vor dem Nichts behauptenden Willens, der auf seine Verachtung des Glücks, der Vernunft und des Mitgefühls stolz ist.58 Ähnlich argumentiert Hellweg, wenn er sagt, „dass die Fragen der eigentlichen Fülle der Existenz auf eine Ontologie verwiesen wurden, in der die Fragen ihres geschichtlichen, wirklichen Sinns entkleidet wurden.“ 59 Er bezichtigt Heidegger eines „verharmlosten Nihilismus.“ 60 Dieser habe den Nihilismus „katheterfähig und bürgerreif gemacht,“ 61 indem „mit der phänomenologischen Methode die Widersprüche innerhalb der Wirklichkeit, der Ontik, hinwegschafft“ 62 würden. Wie schon mittelbar in der Rousseau-Schrift begründet, sagt Hellweg jetzt ganz unmittelbar, 132 dass bei Heidegger eine Anpassung der Begriffe an die Politik stattgefunden habe, wodurch sich dessen Philosophie in ein falsches Verhältnis zur Wirklichkeit setze. Seine Kritik kulminiert darin, dass er Heideggers Philosophie „als Phänomen für die Fluchtbewegung aus der Wirklichkeit“ 63 charakterisiert, da sie sich durch einen „Mangel an Bestimmtheit“ 64 auszeichne und „die Grenzbestimmungen des moralischen Handelns“ 65 außer Acht lasse. Heideggers ethische Unzulänglichkeit beruht nach Hellweg darauf, dass „eine solche Philosophie nicht den Sinn für die Möglichkeit oder Notwendigkeit des Widerstands gegen die Entfesselung der Dämonien wecken“ 66 konnte. Gerade aufgrund ihrer Wegwendung von gesellschaftlichen Daseinsverhältnissen erklärt sich die plötzliche Zuwendung zur politischen Faktizität: „Und der Schritt, durch den sich Heidegger 1933 in einer öffentlichen Tätigkeit dem Nationalsozialismus verschrieb, ist ebenso eine taumelnde Fluchtbewegung in die unmittelbare Wirklichkeit, deren wahrer Sinn von ihm nicht erkannt wurde, wie er sich vorher in die Ontologie geflüchtet hatte.“ 67 Der häufige Gebrauch des „je eigen“, der schon Löwith in aufgefallen war, bedingt die prästabilisierte Harmonie zwischen dem zeitgeschichtlich vermeintlich richtigen Handeln und der äußeren Wirklichkeit, deren Praxis im Jahr 1933 so ausgesehen hatte, dass auf das unabhängige, sich vom Gewissen leitende Subjekt bereits das Konzentrationslager wartete. Die Kritik an Heidegger wird von Hellweg im Rückgriff auf die Jugendschriften von Marx (wie in der Rousseau-Dissertation) gewonnen, um der Ontologie ihre Mystifikationen auszutreiben. In gewisser Weise funkte Heidegger bei dieser Kärrnerarbeit dazwischen. Der Philosoph hatte sich in dem im November 1945 verfassten „Brief über den Humanismus“ geweigert, dass seine Philosophie mit dem Existentialismus und der Phänomenologie eines Sartre und Husserl gleichzusetzen sei. Die vorausgegangene psychologistische Befragung seines französischen Freundes Jean Beaufret wurde von Heidegger mit dem überraschenden Hinweis auf Marx zurückgewiesen: Was Marx in einem wesentlichen und bedeutenden Sinne von Hegel her als die Entfremdung des Menschen erkannt hat, reicht mit seinen Wurzeln in die Heimatlosigkeit des neuzeitlichen Menschen zurück. […] Weil Marx, indem er die Entfremdung erfährt, in eine wesentliche Dimension der Geschichte hereinreicht, deshalb ist die marxistische Anschauung von der Geschichte aller übrigen Historie überlegen.68 Dass Heidegger lediglich eine diplomatische Ergebenheitsgeste an die Adresse des Marxismus richtet, darf nicht verwundern. 69 Die tatsächliche Bewegung der Weltgeschichte wird nicht angesprochen; sie wird mit dem Hinweis auf Hölderlins Gedichte „Heimkunft“ (1802) und „Andenken“ (1803/ 08) dichterisch verhüllt. Folgerichtig benennt Heidegger das Proletariat als gesellschaftliche Klasse, welche dem Prozess der Entfremdung am stärksten ausgesetzt ist, nicht. Dass Hölderlin als deutscher Jakobiner den Ideen der französischen Revolution nahe stand und an den feudalistischen Zuständen in Deutschland zugrunde ging, interessiert nicht; stattdessen macht Heidegger die „Heimatlosigkeit des neuzeitlichen Menschen“ 70 133 geltend, die identisch sei mit dem „Weltschicksal“, 71 welches als dem Humanismus angehöriges Ferment stilisiert wird. So schließt sich Heidegger vor der gesellschaftlichen Wirklichkeit wieder ab und das tatsächliche Subjekt, das für Hellwegs Ansatz zentral ist, wird damit begrifflich und geschichtlich negiert. Bloß abstrakt klingt auch der Satz: „Die Seinsvergessenheit bekundet sich vielmehr darin, dass der Mensch immer nur das Seiende betrachtet und bearbeitet.“ 72 Mit viel Phantasie könnte man die Wechselwirkung von vita contemplativa und vita activa assoziieren oder den von Marx analysierten Stoffwechselprozess zwischen Mensch und Natur herauslesen, aber die Aussage steht gegenüber der zitierten Marx-Stelle ohne eine soziologisch oder geschichtlich hergeleitete Prämisse dar. Schon in dem zitierten Brief an Krauss vom 2. Dezember 1945 sagte Hellweg gegenüber der Spitzfindigkeit existentialistischer Argumentationen: Da besteht doch als eine Möglichkeit der Interpretation der Rekurs auf die persönlichexistentielle Entscheidung - oder darauf, dass diese Position als eine Position der Kritik, zu Angriff und Verteidigung gewertet werden kann, sozusagen als Mittel, um der verändernden Kritik und Interpretation den Hintergrund zu geben, aber es scheint dann nicht möglich zu sein, den positiven Sinn restlos rational aufzuklären.73 Hellweg deutet an, dass man sich durchaus existentialistischer Kategorien bedienen könne, aber nicht im Sinne eines reflektionslosen Geschichtsbewusstseins. Er warnt davor, dass Heideggers Ontologie zu abstrakt bleibt. Der transzendente Seinsgrund 74 (Heidegger argumentiert unter anderem mit Schellings Freiheitsschrift) als Möglichkeit zur Freiheit wird nicht historisch begründet und entbehrt einer gesellschaftlichen Bestimmung, aus der das kritische Bewusstsein einer Freiheitsvorstellung erst entsteht. Heidegger nimmt nicht zur Kenntnis, dass dieser Aspekt in Hegels „Phänomenologie“ vorgedacht war, als dieser das entfremdete Wesen der Arbeit im Herr- und Knechtkapitel bestimmte und das Ausbrechen aus diesem Verhältnis als Bildung des Selbstbewussteins gedeutet hatte, welches danach trachtet, „das absolute Flüssigwerden alles Bestehens“ 75 auf den Weg zur gesellschaftlichen Befreiung zu befördern. Deshalb benutzt Hellweg den Begriff der Entfremdung als Kategorie, die mit Hegels Geschichtsphilosophie korrespondiert und das „Verfallstadium“ 76 der bürgerlichen Welt anzeigt. Hellweg steht auf den Boden der Hegelschen Philosophie und gelangt durch den von Marx übernommenen Begriff der „Selbstentfremdung des Menschen“ 77 zu der anthropologischen Bestimmung, dass der Mensch „ein bloßes, unmittelbares Mittel zum Zweck“ 78 sei und sich „als Ware, als Arbeitskraft“ 79 zu verdingen habe. Dieser Prozess vollzieht sich im „konstitutive[n] Element der bürgerlichen Gesellschaft“, 80 das heißt, im Rahmen der vorherrschenden Antinomien, die den einzelnen Menschen in den Privatmann und Staatsbürger aufspalten. Hellweg führt weiter aus, dass sich das Proletariat im Zuge der Industrialisierung und Entfaltung der bürgerlichen Gesellschaft formiert habe: „Herkunftsort des Proletariats ist der Mittelstand, seine Formung ist vollzogen durch den künstlichen Prozess seiner Entstehung: dass hier ein Eingriff der Depossedierung, der Enteig- 134 nung geschehen ist, der die angehörigen des Mittelstandes dazu nötigte, ihre Arbeitskraft nun in einer besonderen Art zu verkaufen.“ 81 Diese Freisetzung des Proletariats aus dem Schoß des Bürgertums stellt die Voraussetzung für die wahre politische Emanzipation dar, die in der französischen Revolution angelegt gewesen sei, allerdings nur für das Bürgertum und nicht für den vierten Stand gegolten habe. Mit Verweis auf die „Philosophisch-ökonomischen Manuskripte“ erklärt Hellweg, dass das Proletariat durch die Industriearbeit und das Ansteigen des Privateigentums eine Entmenschlichung erfahren habe. Aus diesem Grunde sei es der Träger der Zukunft, welches die Negation dieser Verhältnisse anzustreben habe: Hier wird besonders deutlich, in welcher Weise Marx die Dialektik einsetzt, das Prinzip der Negativität also, wie hier aus der Interpretation des Mangels, der Negation der bestehenden Gesellschaftsordnung, der Umschlag in eine praktische Aufgabe einsetzt, dadurch, daß die Negation der Negation durch das Proletariat vollzogen werden soll, so dass hier eine dialektische Einheit von Theorie und Praxis hergestellt werden kann: die Praxis wird die unbezwungene Verlängerung der Theorie, die Theorie entfaltet sich in und an der Praxis.82 Die Marxsche Dialektik, die Hellweg geltend macht, bezieht sich auf das Umschlagen einer positiven Bestimmtheit in ihre Negation. Dieses Umschlagen schließt die Möglichkeit ein, einen historischen Gegenstand nicht nur von einer Seite aus zu betrachten, sondern mehrere Perspektiven zu berücksichtigen, um begreiflich zu machen, wie sich der Gegenstand verändert, was sich dabei neu erfassen lässt und wo aus der Abstraktion in die Konkretion übergegangen werden kann. Dazu zählt, dass sich die Inhalte des Denkens selbst verändern, denn die Philosophie wird zu einem Mittel der radikalen Kritik und Waffe verwandelt. Der jeweilige Gegenstand wird nicht aus einer überweltlichen Perspektive betrachtet, sondern im Reich der irdischen Dinge gesehen. Diese Methodik, sagt Hellweg, „ist das revolutionäre Moment der Marxschen Gedankenarbeit.“ 83 Das neue Erkenntnisinstrument konstituierte sich aus der Einheit von Theorie und Praxis. Erst dadurch wäre die jeweils geschichtliche Situation erkannt, in der sich das einzelne Subjekt vorfinde; erkannt werde die Verschiedenheit der Stufen des menschlichen Daseins, die sich als materielle und geistige Formen der Produktion und Reproduktion gestalten. Hinsichtlich der Nachkriegssituation, die mit dem Abbruch marxistischen Denkens verbunden war, heißt es: „Eine geistige und politische Position aber, die versucht, die heutige Wirklichkeit anzusprechen, kann an dem Proletariat und der Bedeutung, die Marx diesem elementaren Faktor der Gesellschaft gegeben hat, nicht mehr vorübergehen. Das Proletariat ist heute noch die einzige geschlossene soziale Formation, von der aus der moralische und menschliche Wiederaufbau ausgehen kann.“ 84 Bezogen auf den Faschismus fügt er noch an: „Jegliche andere soziale Position ist ihrer Gesamtheit unterhöhlt, durch die letzten 12 Jahre in ihrem Kern kompromittiert und besitzt nun nur noch die Möglichkeit, in einer Art von Grabenkrieg die Front in der Stagnation zu erhalten.“ 85 Hellwegs Ableitungen beinhalten theoretische und historische Voraussetzungen, wie sie sich aus seiner Lektüre von Georg Lukács’ „Geschichte und Klassenbe- 135 wusstsein“ (1923) ergaben, 86 wo dieser die Organisationsfrage der Arbeiterklasse als zentral zu lösende Aufgabe postuliert hatte. 87 Die Grabenkämpfe, die Lukács nach der Niederwerfung der ungarischen Räterepublik von 1919 mitreflektiert, bezieht Hellweg auf die Kontroversen, die nach Lenins frühem Tod innerhalb der Linken entstanden und sich durch Stalins Machtergreifung und der Bürokratisierung des Parteiapparats mit dem beispiellosen Effekt der Liquidation seiner besten Köpfe zeitigte. Parallel hatte sich nach der Novemberrevolution von 1918 und den Morden an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht die deutsche Arbeiterbewegung mehrfach gespalten und wurde später vom Faschismus entweder auf gewaltsame Weise vernichtet oder ins Exil vertrieben. Hellweg betrachtet den „Wiederaufbau“ als Versuch einer Neubestimmung des Proletariats. Die wichtige Frage, ob „das Proletariat als geschlossene Formation“ 88 noch bestünde, lässt Hellweg weitgehend offen, aber er beobachtet aufgrund der Zerstörung der deutschen Städte und aus dem Osten ankommenden Flüchtlingsströme eine soziale Veränderung im Proletariat. Einerseits wird durch diesen Umschichtungsprozess das Ansteigen der proletarischen Bewusstseinshaltung erwartet; andererseits steht dieser Erwartungshaltung die zurückliegende Erfahrung der Integration des Proletariats in den Nationalsozialismus gegenüber: Endlich hat es innerhalb des Proletariats viele Gruppen von Menschen gegeben, die in den letzten 12 Jahren den Verlockungen des sich sozialistisch gerierenden Monopolkapitalismus erlegen sind. Sie sind in vielen Fällen gerne und allzu willig dem Anreiz gefolgt, als Aufseher oder Ausbeuter gegenüber den versklavten Arbeitern aus Ost und West zu fungieren. Sie merkten nicht, dass sie auch als Ausbeuter ausgebeutet wurden, und dass ihnen damit moralisch und menschlich das Rückgrat gebrochen wurde, dass sie es an dem Bewusstsein der proletarischen Solidarität fehlen ließen. Sie nahmen in vielen Fällen die antisemitischen Parolen kritiklos für die Erfüllung des Sozialismus […] Ist es da verwunderlich, dass durch die Verseuchung weiter Kreise des Proletariats das Proletariat selbst in seiner Gesamtheit nicht ganz unberührt geblieben ist? 89 Man muss sich bei Hellwegs soziologischer Analyse unbedingt den Zeitpunkt des Gesagten vergegenwärtigen. Wenn man die im amerikanischen Exil entstandenen Studien der Kritischen Theorie nicht berücksichtigt, kam direkt nach Kriegsende nur Hannah Arendt in ihrem zur Schuldfrage veröffentlichten Aufsatz Hellwegs anklagenden Worten nahe. Hellwegs Kritik korreliert mit Arendts Analyse, die in Bezug auf Brechts „Dreigroschenoper“ (1928) das ökonomische Prinzip der Ausbeutung und Tötung in den Konzentrationslagern schildert und dabei auf die zumeist aus dem Kleinbürgertum und Proletariat stammenden „jobholders“ 90 als Täter hinweist. Vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Erfahrung und der Neukonsolidierung des Kapitalismus, spricht Hellweg von einer „falschen Bewusstseinsbildung“ 91 im Proletariat, einem Vorgang der Nivellierung, der durch den Prozess des „Absinkens weiter proletarischer Kreise zum Lumpenproletariat“ 92 flankiert werde. Die Begründung ist eine ethische, denn sie bezieht sich auf das „Versagen der menschlichen Solidarität zwischen den Unterdrückten.“ 93 Diese Unterlassung lässt sich seines Erachtens dadurch erklären, „dass die Menschlichkeit, deren Wieder- 136 herstellung in einem ‘realen Humanismus’ das Ziel des Proletariats ist, allzu allgemein und abstrakt gefasst war.“ 94 Der Begriff des Humanismus, der in Anführungszeichen eingekleidet wird, will sich von den kriegerischen Parolen und Taten des Pseudo-Humanismus unterscheiden, dem weite Teil des Proletariats und der Bauernschaft unter der Diktatur Hitlers gefolgt waren. So betrachtet, wird durch den hervorgehobenen Begriff des „realen Humanismus“ eine weitere Kritik an Heidegger geübt. Im Humanismus-Brief hatte Heidegger, wiederum am Beispiel von Hölderlins Dichtung, einen speziellen Humanismus vorgegeben, der sich auf die Taten deutscher Soldaten im Zweiten Weltkrieg gemünzt, folgendermaßen anhört: „Darum haben die jungen Deutschen, die von Hölderlin wussten, angesichts des Todes Anderes gedacht und gelebt als das, was die Öffentlichkeit als deutsche Meinung ausgab.“ 95 Die Verharmlosung, die Heidegger vornimmt, klammert offenbar die Raub- und Mordtaten, Plünderungen, Brandschatzungen, Exekutionen und Vergewaltigungen von Frauen und Kindern als von Angehörigen der Wehrmacht begangene Verbrechen aus. 96 Das Proletariat war an diesen Verbrechen, wie Hellweg ausdrücklich sagt, als „Aufseher oder Ausbeuter“ beteiligt, aber aus Hölderlins Dichtung lassen sich dazu keine Handlungsanleitungen entnehmen. Durch die Verklärung des Dichters zu einem Hüter der nationalen Kultur sollen diese Verbrechen verhüllt werden. 1 Michael Nerlich (ed.): Werner Krauss. Das Sayrspiel vor der Kalkgrube. Briefe an Bertie und Martin Hellweg 1939-1945, in: Lendemains (Zum deutsch-französischen Verhältnis: Werner Krauss), 18. Jg. 1993, H. 69/ 70, 91-136. 2 Michael Nerlich: Romanistik und Anti-Kommunismus, in: Das Argument, 72, 4. Jg., H. 3/ 4, 276-313. 3 Frank-Rutger Hausmann: Vordenker der Vernichtung, Kriegstreiber, Ignoranten oder unpolitische Idealisten - die ‘Deutsche Romanistik’, das ‘Dritte Reich’ und wir, in: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte, 26. Jg., 2002, Heft 1/ 2, 145-157, hier: 146. 4 Vgl. Hans Helmut Christmann/ Frank-Rutger Hausmann/ Manfred Briegel (eds.): Deutsche und österreichische Romanisten als Verfolgte des Nationalsozialismus, Tübingen: Stauffenburg, 1989. Später wurden unter anderem von Karlheinz Barck, Ottmar Ette, Hans-Ulrich Gumbrecht, Bernhard Hurch, Peter Jehle, Manfred Naumann, Hans-Jörg Neuschäfer, Earl Jeffrey Richards oder Ulrich Schulz-Buschhaus bedeutende Einzelstudien zu verschiedenen Fachvertretern vorgelegt. 5 Vgl. zum gegenwärtigen Stand der Auerbach-Forschung: Karlheinz Barck/ Martin Treml (eds.): Erich Auerbach. Geschichte und Aktualität eines europäischen Philologen, Berlin: Kulturverlag Kadmos, 2007. 6 Die Tagung fand vom 28. bis 30. September 2006 im Deutschen Literaturarchiv Marbach statt und die Veröffentlichung der Beiträge ist geplant. 7 Vgl. Martin Vialon: Traugott Fuchs zwischen Exil und Wahlheimat am Bosporus. Meditationen zu ausgewählten Bild- und Textmotiven, in: Georg Stauth/ Faruk Birtek (eds.): Istanbul. Geistige Wanderungen aus einer Welt in Scherben, Bielefeld: Transcript, 2007, 53-129. 137 8 Martin Vialon: Erich Auerbach: Zu Leben und Werk des Marburger Romanisten in der Zeit des Faschismus, in: Lendemains, 19. Jg. 1994, Heft 75/ 76, 135-155. 9 Martin Vialon (ed.): Erich Auerbachs Briefe an Martin Hellweg (1939-1950). Edition und historisch-philologischer Kommentar, Tübingen, Basel: A. Francke, 1997, 57 (Brief vom 22. Mai 1939). 10 Ebd. 11 Martin Hellweg: Der Begriff des Gewissens bei Jean Jacques Rousseau. Beitrag zu einer Kritik der politischen Demokratie, Marburg: Verlag von Adolf Ebel, 1936 (=Marburger Beiträge zur Romanischen Philologie. Herausgegeben von Werner Krauss, Heft XX). 12 Vgl. Karl Löwith: Karl Marx und Max Weber, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Jg. 67, 1932, 53-99 und 175-214 (wieder abgedruckt in: Karl Löwith: Sämtliche Schriften. Hegel und die Aufhebung der Philosophie im 19. Jahrhundert. Herausgegeben von Bernd Lutz, Stuttgart: Metzler, 1988, Bd. 5, 32-407). 13 Vgl. Karl Marx/ Friedrich Engels: Die heilige Familie und die Schriften von Marx von Anfang 1844 bis Anfang 1845 (Marx-Engels Gesamtausgabe; I. Abteilung, 3. Band), Berlin: Marx-Engels-Verlags GmbH, 1932 und Karl Marx: Der historische Materialismus. Die Frühschriften, 2 Bände. Herausgegeben von S. Landshut und J. P. Meyer, Leipzig: Kröner Verlag,1932. 14 Vgl. Karl Marx/ Friedrich Engels: Die Deutsche Ideologie. Kritik der neuesten deutschen Philosophie in ihren Repräsentanten Feuerbach, B. Bauer und Stirner, und des deutschen Sozialismus in seinen verschiedenen Propheten, in: Karl Marx/ Friedrich Engels: Werke, Berlin: Dietz, 1969, Bd. 3, 9-530, hier 74: „Die Verwandlung der persönlichen Mächte (Verhältnisse) in sachliche durch Teilung der Arbeit kann nicht dadurch wieder aufgehoben werden, dass man sich die allgemeine Vorstellung davon aus dem Kopfe schlägt, sondern nur dadurch, dass die Individuen diese sachlichen Mächte wieder unter sich subsumieren und die Teilung der Arbeit aufheben.“ 15 Eva Modenhauer/ Karl Markus Michael (eds.): Georg Friedrich Wilhelm Hegel: Phänomenologie des Geistes [1807], Frankfurt/ M.: Suhrkamp, 1986, 163 und 170. 16 Jean-Jacques Rousseau: Politische Ökonomie. Discours sur l’Economie politique [1755]. Herausgegeben und übersetzt von Hans-Peter Schneider und Brigitte Schneider Pachaly, Frankfurt/ M.: Vittorio Klostermann, 1977, 21-113, hier: 98 (kursiv im Original). 17 Martin Heidegger: Sein und Zeit [1927], Tübingen: Max Niemeyer, 15 1979, 273 (§ 56). 18 Ebd. (kursiv im Original). 19 Ebd., 278 (§ 57, kursiv im Original). 20 Ebd. 21 Freilich wusste Hellweg von Heideggers Rektoratsrede „Die Selbstbehauptung der deutschen Universität“ (1933). Hellwegs Gewissenskritik richtet sich gegen die Umbiegung philosophischer Begriffe in politische Agitation (ich gehe darauf später ein). In Hellwegs Literaturverzeichnis der Dissertation wird ausdrücklich auf die Paragraphen 54 bis 60 aus „Sein und Zeit“ hingewiesen, in denen bei Heidegger die Erörterung des Gewissensbegriffs erfolgte. 22 Heidegger: Sein und Zeit (Anm. 17), 126-130 (§ 27). 23 Ebd., 127. 24 Ebd. 25 Ebd. 26 Ebd. 27 Ebd., 126 28 Ebd., 129 (kursiv im Original). 138 29 Bezogen auf die ideenhistorische Einordnung und den Begriff der Entfremdung sagt Georg Lukács im 1967 geschriebenen „Vorwort“ zur Neuauflage von „Geschichte und Klassenbewußtsein. Studien über marxistische Dialektik [1923]“ (Darmstadt: Luchterhand, 10 1988), 5-45, hier: 23: „Natürlich lag das Problem in der Luft. Einige Jahre später rückte es durch Heideggers ‘Sein und Zeit’ (1927) in den Mittelpunkt der philosophischen Diskussion und hat diese Position, wesentlich in Folge der Wirkung Sartres wie seiner Schüler und Opponenten, auch heute nicht verloren. Die philosophische Frage, die vor allem L. Goldmann aufwarf, indem er in Heideggers Werk stellenweise eine polemische Replik auf mein - freilich ungenannt gebliebenes Buch - erblickte, kann hier übergangen werden. Die Feststellung, dass das Problem in der Luft lag, genügt heute vollständig […].“ Lukács distanziert sich durch diese Aussage von früheren Bemerkungen, die bedingt negativer Natur waren. 30 Heidegger: Sein und Zeit (Anm. 17), 281 ff (§ 58). 31 Ebd., 295 f (§ 60). 32 Ebd., 286 (§ 58). 33 Ebd., 281 f. 34 Ebd., 271 (§ 55). 35 Immanuel Kant: Die Metaphysik der Sitten in zwey Theilen [1797/ 98]. In: Ders.: Werke in sechs Bänden. Herausgegeben von Wilhelm Weischedel, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1998, Bd. IV., 305-634, hier: 532. 36 Ebd., 532 ff. 37 Das Prinzip der Nächstenliebe geht zurück auf das Alte Testament (3. Mose 23, 4-5): „Du sollst nicht rachgierig sein noch Zorn halten gegen die Kinder deines Volkes. Du sollst deinen Nächten lieben wie dich selbst; denn ich bin der Herr.“ 38 Heidegger: Sein und Zeit (Anm. 17), 298 f (§ 60). 39 Hellweg: Gewissen (Anm. 11), 30. 40 Ebd., 91. Dass Hellweg hier nicht ganz zutreffend Heideggers Sorge-Konzept erörtert hat, dürfte klar werden, wenn man berücksichtigt, dass die Sorge um die Sorge auch auf das Mitsein und die Geworfenheit des Subjekts in die Mitwelt zu beziehen ist. 41 Ebd., 92. 42 Ebd., 155 f. 43 Ebd. 44 Ebd., 5. 45 Erich Auerbach: Über den historischen Ort Rousseaus [1932], in: Ders.: Gesammelte Aufsätze zur romanischen Philologie, Bern, München: A. Francke, 1967, 291-295, hier: 291. 46 Ebd., 295. 47 Werner Krauss: Bericht über meine Beteiligung an der Aktion Schulze-Boysen [1945], in: Ders.: Ein Romanist im Widerstand. Briefe an die Familie und andere Dokumente. Herausgegeben von Peter Jehle und Peter Volker Springborn, Berlin: Weidler, 2004, 71- 127, hier: 80 f. 48 Ebd., 87. 49 Hellweg verkehrte zu dieser Zeit im Marburger Gesprächskreis von Rudolf Bultmann und Kurt Steinmeyer, vgl. die beiden Studien von Matthias Bormuth: 1949 - Kurt Steinmeyer als Apologet Goethes; Kurt Steinmeyers Briefe an Gerhard Krüger (1939-1962), in: Erdmute Johanna Pickerodt-Uthleb (ed.): Zukunft braucht Erfahrung. Eine Festschrift. 475 Jahre Gymnasium Philippinum, Marburg: Gymnasium Philippinum, 2002, 69-81 und 83- 97. 139 50 Unveröffentlichte Briefe: Martin Hellweg an Werner Krauss (1945-1947). Hellweg hatte mir Durchschläge seiner Briefe zu Lebzeiten ausgehändigt und weitere Kopien aus dem Werner Krauss-Nachlass der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften durch Peter Jehle zukommen lassen. 51 Vgl. Peter Jehle: Franz Walter Müller im Dialog mit Werner Krauss, in: Werner Krauss: Literatur, Geschichte, Schreiben. Herausgegeben von Hermann Hofer, Thilo Karger und Christa Riehn, Tübingen, Basel: A. Francke, 2003, 179-191. 52 Werner Krauss: Briefe 1922 bis 1976. Herausgegeben von Peter Jehle unter Mitarbeit von Elisabeth Fillmann und Peter-Volker Springborn, Frankfurt/ M.: Vittorio Klostermann, 2002, 253. Krauss hatte Hellwegs und Müllers Dissertationen an Herbert Marcuse gesandt, der von den Arbeiten begeistert war und sich für die Zustellung bedankte (367): „Lieber Professor Krauss: Ich war aufs freudigste überrascht, als ich Ihr Bücherpaket mit den Nummern der ‘Einheit’ und den Schriften von Hellweg und Walter Müller empfing. Meine Freude war nur getrübt durch das Bewusstsein, dass Sie mir noch Ihre eigenen Exemplare gesandt haben. Ich kann nun nichts dagegen tun, und sage Ihnen meinen allerherzlichsten Dank.“ (Marcuse an Krauss: Brief vom 15. Juli 1947). 53 Unveröffentlichte Briefe: Martin Hellweg an Werner Krauss (Brief vom 3. März 1946). 54 Ebd. 55 Unveröffentlichte Briefe: Martin Hellweg an Werner Krauss (1945-1947). 56 Martin Hellweg: Die Stellung des Proletariats bei Karl Marx, Frankfurt/ M.: G. Schulte- Blumke, 1947. Dieser Band erschien in einer von der amerikanischen Besatzungsbehörde genehmigten Auflage in Höhe von 10.000 Exemplaren. Der Publikation ging Hellwegs Vortrag voraus, den er im „Forum Academicum“ in Frankfurt im Mai 1946 hielt. 57 Der Artikel erschien in der Tageszeitung Les Temps Modernes im November 1946. Heideggers Ontologie wurde während der dreißiger Jahre - angeregt durch Jean-Paul Sartres Tätigkeit im französischen Kulturinstitut Berlin - entdeckt und durch die in L’Etre et le Néant (1943) entwickelte Freiheitsidee, die selbst durch die widrigsten Umstände nicht angetastet werden könne, in Frankreich verbreitet. Pierre Aubenque hatte darauf verwiesen, dass Paul Nizan, Henry Corbin und Alexandre Koyré schon 1931 erste Teilübersetzungen von Heideggers Schriften anfertigten und als Vermittler seines Denkens tätig waren. Erst später trat Jean Beaufret hinzu, der sich im Krieg ein Exemplar von „Sein und Zeit“ besorgte und nach der Lektüre eine Diskussion mit Heidegger anzettelte. Die Debatte in Frankreich verlief parallel zu Hellwegs Heidegger-Kritik, die wohl deshalb kaum wahrgenommen wurde, weil sie an verborgener Stelle platziert wurde. Vgl. Pierre Aubenque: Heideggers Wirkungsgeschichte in Frankreich, in: Peter Kemper (ed.): Martin Heidegger - Faszination und Erschrecken. Die politische Dimension einer Philosophie, Frankfurt/ M., New York: Campus, 1990, 114-127 und Jean-Michel Palmier: Wege und Wirken Heideggers in Frankreich, in: Jürg Altwegg (ed.): Die Heidegger-Kontroverse, Frankfurt/ M.: Athenäum, 1988, 48-59. 58 Karl Löwith: Der okkasionelle Dezisionismus von Carl Schmitt [1935], in: Sämtliche Schriften (Anm. 12), Bd. 8, 32-71, hier: 67 (kursiv im Original). Zur weiteren Sprachkritik an Heidegger, vgl. Georges Arthur Goldschmidt: Heidegger et la langue allemande IV. Un égarement philosophique, in: Lendemains, 31. Jg., Heft 124, 2006, 95-108. 59 Hellweg: Proletariat (Anm. 56), 6. 60 Ebd., 7. 61 Ebd. 62 Ebd. 63 Ebd. 140 64 Ebd. 65 Ebd. 66 Ebd. 67 Ebd. 68 Martin Heidegger: Über den Humanismus [1946], Frankfurt/ M.: Vittorio Klostermann, 1947, 27. 69 Vgl. Georg Lukács: Heidegger redivivus [1949], in: Ders.: Existenzialismus oder Marxismus? , Berlin: Aufbau, 1951, 161-183, hier: 167. 70 Heidegger: Über den Humanismus (Anm. 68), 25. 71 Ebd., 27. 72 Ebd., 26. Die „Seinsvergessenheit“ geht definitorisch aus der „Seinsverlassenheit“ hervor, die wiederum aus der „Heimatlosigkeit“ des Menschen resultiere. 73 Unveröffentlichte Briefe: Martin Hellweg an Werner Krauss (1945-1947). 74 Vgl. Martin Heidegger: Vom Wesen des Grundes [1929], Frankfurt/ M.: Vittorio Klostermann, 6 1973, 9 und 51. 75 Hegel: Phänomenologie des Geistes (Anm. 14), 153. 76 Hellweg: Proletariat (Anm. 56), 9. 77 Ebd., 17. 78 Ebd., 18. 79 Ebd. 80 Ebd., 17. 81 Ebd., 20. 82 Ebd., 22. 83 Ebd., 21. 84 Ebd., 25 (kursiv im Original). 85 Ebd., 26. 86 Hellweg berichtete mir während unserer Gespräche immer wieder, dass er Lukács’ und Max Webers Schriften verschlungen habe. 87 Vgl. Georg Lukács: Geschichte und Klassenbewusstsein (Anm. 29), 452-513. 88 Hellweg: Proletariat (Anm. 56), 26. 89 Ebd., 28. 90 Hannah Arendt: Organisierte Schuld [1944/ 45], in: Dies.: Die verborgene Tradition. Essays, Frankfurt/ M.: Jüdischer Verlag (Suhrkamp), 1 2000, 35-49, hier: 44. Warum Arendt an der Person Heideggers festhielt, verdeutlicht Antonia Grunenbergs einfühlsames Buch Hannah Arendt und Martin Heidegger. Geschichte einer Liebe (München, Zürich: Piper, 2006). Auf zwei Dinge möchte ich hinweisen: Arendt hatte den Irrtum von 1933 vergeben, wenn man unter Vergebung den Umschlag in das Verständnis von Irrtum und Schuld bezeichnen darf. Ihre Fehleinschätzung besteht darin, nicht bemerkt zu haben, dass Heidegger nach 1945 an Positionen wiederanknüpft, die eigentlich diskreditiert sein müssten. Ihre Essays „Die Eroberung des Weltraums“ (1968) und „Der archimedische Punkt“ (1969) belegen, dass sie sich, ähnlich wie Heidegger, mit den ethischen Folgen der Quantenphysik beschäftigte. 91 Hellweg: Proletariat (Anm. 56), 28. 92 Ebd. 93 Ebd. 94 Ebd. 95 Heidegger: Über den Humanismus (Anm. 68), 26 f. 96 Vgl. Hannes Herr/ Klaus Naumann (eds.): Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941-1944, Frankfurt/ M.: Zweitausendeins, 1995.