eJournals lendemains 35/138-139

lendemains
0170-3803
2941-0843
Narr Verlag Tübingen
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2010
35138-139

P. Oster/H.-J. Lüsebrink (eds.): Am Wendepunkt. Deutschland und Frankreich um 1945 – zur Dynamik eines ‚transnationalen’ kulturellen Feldes

2010
Hanna Milling
ldm35138-1390263
263 Comptes rendus Elke Richter schlägt für die Interpretation des Quartetts ein textanalytisches Verfahren vor, welches narrative Entwürfe eines ‘Ichs’ in hybriden kulturellen Räumen freilegt. Eine solch postkoloniale Narratologie verlasse als Methode den strukturalistischen Kontext und das Feld der reinen Textimmanenz (vgl. 74). Bei Ich-Entwürfe[n] im hybriden Raum kehrt auffälligerweise das von der poststrukturalistischen Autobiographietheorie verabschiedete Moment der Referenz, das bis dahin vernachlässigte hors-texte wie die Geschichte, die Kultur oder das Subjekt wieder in die Diskussion zurück. Die Wechselwirkungen von Text und Kontext rücken erneut - unter anderem Vorzeichen - wieder in den Blick, was Richter im ausführlichen zweiten Schritt ihrer Studie prägnant zeigt. Dieser Teil umfasst eine feinstufige Analyse der drei autobiographischen Texte von Djebar im methodischen Feld der Genette’schen textimmanenten Narratologie und der darüber hinausgehenden postkolonialen Erzähltheorie. Zunächst ordnet Richter die genannten Texte durch den Nachweis der impliziten Analogie der makrotextuellen Struktur, der Komposition der Titel sowie des internen Textsystems überzeugend dem postulierten Quartett zu (87-99). Ferner weist Richter nach, dass der autobiographische Pakt bei Djebar nicht als individueller, sondern als genealogischer Pakt funktioniert, und dass es sich zudem um einen epitextuellen Pakt handelt, der den Paratext zu seinem Funktionieren braucht (107f). Damit zeigt sie konkret, wie der im europäischen Umfeld entwickelte Pakt für den postkolonialen maghrebinischen Raum fortgeschrieben werden muss, denn autobiographisch zu schreiben, grenze im arabischen Raum an das „Tabu der Selbstenthüllung“ (80). Insbesondere bei einer Frau käme dies einer „Autopsie bei lebendigem Leib“ (81) gleich. Auch vor diesem Hintergrund sei die Option der Autorin für eine écriture voilée zu interpretieren. Djebars Positionierung im Familienkollektiv und in der algerischen Geschichte sowie die diversen Verhüllungen ihres ‘Ichs’ durch fiktionalisierende Maßnahmen markieren eine neue postkoloniale und gendersensible Konzeption von Autobiographik. In seiner Gesamtheit ist Ich-Entwürfe im hybriden Raum ein überzeugendes Beispiel für eine gegenstandsorientierte Literaturanalyse, die zu neuen theoretischen Erkenntnissen führt. Natascha Ueckmann, Bremen PATRICA OSTER/ HANS-JÜRGEN LÜSEBRINK (EDS.): AM WENDEPUNKT. DEUTSCHLAND UND FRANKREICH UM 1945 - ZUR DYNAMIK EINES ‚TRANS- NATIONALEN’ KULTURELLEN FELDES/ DYNAMIQUES D’UN CHAMP CULTU- REL ‚TRANSNATIONAL’ - L’ALLEMAGNE ET LA FRANCE VERS 1945. BIELE- FELD: TRANSCRIPT, 2008. 1945 - Ein Neubeginn in der europäischen Geschichte und ein entscheidender Wendepunkt in den Beziehungen zwischen den Nachbarländern Frankreich und 264 Comptes rendus Deutschland, die nachhaltig von Ressentiments und Misstrauen, aber auch von zahlreichen Bemühungen um Annäherung geprägt werden sollten. Die Mittlerfiguren und Institutionen, die rund um diesen „Wendepunkt“ den Austausch zwischen Frankreich und den beiden deutschen Staaten bestimmt haben, werden in diesem Jahrbuch des Saarbrücker Frankreichzentrums aus der Sicht beider Länder und verschiedener Fachdisziplinen beleuchtet. Dabei möchten die Herausgeber und Beitragenden des Bandes eine neue Perspektive auf die Kriegs- und Nachkriegsjahre richten. Sie gehen davon aus, dass sich in jenen konfliktreichen Jahren ein deutsch-französisches transkulturelles Feld entwickelt hat, in dem eine Intensivierung und langfristige Beförderung der Beziehungen entstehen konnte. Mit der Analyse von wechselseitigen Interaktionen, Vermittlungs- und Transferprozessen sowie der kulturellen Räume der jeweiligen Besatzungszonen wird der Bourdieu’schen Begriff des kulturellen Feldes, das als eine von unterschiedlichen Machtverhältnissen bestimmte kulturelle Produktions- und Rezeptionssphäre zu verstehen ist, um die Dynamik der Transkulturalität erweitert. Die Einzelbeiträge des von Patricia Oster und Hans-Jürgen Lüsebrink herausgegebenen Sammelwerkes lassen sich in drei Themenkreise einteilen. Ein erster fokussiert die Rolle von Vermittlerpersönlichkeiten im deutsch-französischen Austausch der Kriegs- und Nachkriegsjahre. Martin Strickmann stellt anhand von Doppelbiographien französischer Mittlerfiguren, die nach Herkunft und persönlichen Beweggründen für den Einsatz zur Annäherung an Deutschland ausgewählt wurden, ein Periodisierungstableau zur Entstehung eines transnationalen kulturellen Feldes in den Jahren 1944-50 auf. Die Biographien versteht er „als Schlüssel zum Verständnis der Werdegänge, Kreuzungspunkte und Deutschlandpositionen vergleichbarer idealtypischer Intellektueller“ (24) und betont dabei die private Initiative und persönliche Geschichte einzelner Figuren als Ursprung deutsch-französischer Verständigung. Um die interkulturelle Vermittlungstätigkeit germanistischer Hochschullehrer geht es in zwei weiteren Beiträgen dieses Themenkreises. Michel Espagne beschreibt die Entwicklung der Germanistik an der ENS in den 1930er und 40er Jahren und Michel Grunewald illustriert mit der Biographie und dem publizistischen Werk Robert d’Hancourts widersprüchliche Entwicklungstendenzen der Deutschlandwahrnehmung französischer Deutschlandexperten, die lange einer völkerpsychologischen Perspektive verhaftet blieben. Grunewald zeichnet nach, wie sich d’Hancourt zunächst mit der Frage nach einer deutschen Kollektivschuld beschäftigt, die er im „deutschen Wesen“ begründet sieht. Erst mit dem Kalten Krieg lasse sich eine Tendenzwende erkennen, begründet durch die Annahme, dass deutschfranzösische Kooperation und ein geeintes Europa der einzig mögliche Weg zur Friedenssicherung sei - Annäherung durch Notwendigkeit also, die weiterhin von Misstrauen und dem Stereotyp der ewigen „incertitudes allemandes“ geprägt ist. Mit Formen und Medien der Aufarbeitung verdrängter deutsch-französischer Vergangenheit beschäftigt sich der zweite Themenkreis. Béatrice Fleury und Jacques Walter rücken die sich verändernden Formen der öffentlichen Erinnerung 265 Comptes rendus an das Gestapo-Lager Neue Bremm in den Blick. Anhand einer detaillierten Untersuchung der öffentlichen Erinnerungsarbeit illustrieren sie den Einfluss politischer Absicht auf das öffentlich rezipierte Bild des Geschehenen. So lässt sich direkt nach dem Krieg eine französisch-nationale Erinnerungsarbeit verzeichnen, die von einer Überbetonung der Résistance und einer vollständigen Ausblendung der Existenz deutscher Inhaftierter geprägt ist. Nach einer langen Phase weitgehender Vergessenheit konnte sich erst in den jüngsten Jahren eine neue Form der Erinnerung entwickeln - eine gemeinsame Erinnerung, in der allen - auch den deutschen - Opfern des Lagers gedacht wird. Die Autoren verdeutlichen so überzeugend die zählebigen Mechanismen der Verdrängung, welche die Herausbildung eines gemeinsamen transnationalen Gedächtnisses erschweren. Karl-Heinz Stierle wagt in seinem Grundsatzbeitrag die Frage, ob der seit dem frühen 19. Jahrhundert vorangetriebene deutsch-französische Dialog statt zu wirklicher Verständigung vielmehr zu einer Vertiefung der Spannungen und essentialistischen Abgrenzungsdiskurse geführt haben könnte, die zur Zeit der Weltkriege ihren traurigen Höhepunkt gefunden haben. Anhand anschaulicher Beispiele zeigt er auf, wie der noch so gut gemeinte deutsch-französische Dialog stets die Vorstellung einer tiefen Wesensdifferenz zwischen Deutschen und Franzosen nährte und zementierte. Heute, mit der Aufgabe dieser essentialistischen Volkscharakterannahme, sei auch der deutsch-französische Dialog gestorben - so seine These. Darum aber habe man aus den dargelegten Gründen nicht zu trauern. Allerdings bestehe nun die Gefahr, dass überhaupt keine von wirklichem gegenseitigem Interesse geprägte, sondern einzig auf kaltem Wirtschaftskalkül basierte Kommunikation stattfinde. Frank-Rutger Hausmann stellt in seinem Text umgekehrt die These auf, dass der Kulturaustausch zwischen Deutschland und Frankreich vielleicht nie intensiver war als während des zweiten Weltkrieges. Dies veranschaulicht er anhand der Analyse des einseitigen Kulturtransfers in deutschen Wirtschafts- und Kulturinstitutionen im besetzten Frankreich, anhand der Romanistik, die sich in jenen Jahren zum geistigen „Kriegseinsatz“ (136) instrumentalisieren ließ, und anhand des 1941 von Goebbels gegründeten Schriftstellerverbandes. Der Autor macht hier auf einen aus Kollaboration und Opportunismus der französischen Schriftsteller und Künstler geborenen Kulturaustausch aufmerksam. So legt er den Finger in die empfindliche französische Wunde der Kollaboration auf kultureller Ebene und zeigt beeindruckend die Faszination und freiwillige Mitarbeit vieler Franzosen an dem nationalsozialistischen Ziel der Schaffung eines „neuen germanischen Europas“ auf. Auf die Kollaboration verweist auch Hans T. Siepe, der sich in seinem Aufsatz mit deren literarischen Verarbeitung in zwei weitgehend unbekannten Texten von Albert Camus auseinandersetzt. Die Beiträge des dritten Themenkreises beschäftigen sich explizit mit der Problematik und der heuristischen Anwendbarkeit des Konzeptes des transkulturellen Feldes auf die deutsch-französische Frage. Rainer Hudemann präsentiert einen Vorschlag zur Systematisierung der Sozialstrukturen, die im französisch besetzten Deutschland entstanden. Er orientiert sich dabei an den Motivationshintergründen 266 Comptes rendus und persönlichen Ausgangssituationen der französischen Besatzer und zeichnet nach, wie sich in Frankreich ein neues Verständnis von Sicherheitspolitik durchsetzte, das die „langfristig tragfähige Herausbildung transnationaler und transkultureller Felder“ (176) beeinflusste. Indem er die fortschrittliche Sozialpolitik in der Besatzungszone thematisiert, verdeutlicht er, dass auch zu Krisenzeiten Beziehungen zwischen Frankreich und Deutschland entstanden, die langfristig eine konstruktive Wirkung hatten. Auch die folgenden beiden Beiträge, von Joseph Jurt und Patricia Oster, weisen - diesmal auf kulturpolitischer Ebene - auf diese neue französische Haltung gegenüber dem besetzten Deutschland hin, die sehr darauf bedacht war, ein zweites Versailles zu verhindern. Deutschland sollte nun durch die Übernahme französischer Kultur wieder humanisiert werden, in einer Zeit der Orientierungslosigkeit neue Sinnbezüge nach französischem Ideal aufbauen. Joseph Jurt unterstreicht, dass diesem kulturmissionarischen Willen Frankreichs eine gesteigerte Aufnahmebereitschaft im lange abgeschotteten Deutschland entsprach. Dadurch konnte ein binationales literarisches Feld entstehen, das von einem intensiven Literaturtransfer von Frankreich nach Deutschland geprägt war. Jurt legt damit überzeugend dar, dass das Konzept der „Nationalliteratur“ ein „Kind des 19. Jahrhunderts“ (191) ist, ein „Konstrukt, das in einem bestimmten historischen Kontext als Legitimationsstrategie auftaucht“ (195) und somit nicht als heuristisches Konzept dienen kann, da nationale Grenzen nicht jenen literarischer Felder entsprechen. Patricia Oster analysiert diesen kulturmissionarischen Willen Frankreichs anhand der 1946 erstmals im besetzten Deutschland veröffentlichten französischen Zeitschrift Lancelot - der Bote aus Frankreich. Sie veranschaulicht daran die Konstituierung eines transnationalen kulturellen Feldes aus französischer Perspektive, die sich auf Kontinuitätsthesen hinsichtlich des französischen patrimoine stützte. Dem stellt die Autorin die gleichzeitig erschienene deutsche Zeitschrift Die Wandlung gegenüber, die im Kontrast zum französischen Ansatz von einem totalen Bruch mit der Vergangenheit ausgeht. Mittels dieses Vergleiches möchte die Autorin zeigen, dass der „Schlüssel“ französischer Kulturpolitik im besetzen Deutschland letztlich nicht auf die deutsche „Türe“ (244) passte. Eben dieses Nicht-Passen habe die beiden Länder jedoch zu neuen Wegen gezwungen, welche die Grundlage für die europäische Idee legten. Um frühe Europavisionen französischer Autoren ging es Fritz Nies in einer Analyse von 20 zwischen 1942 und 1954 erschienenen französischen Romanen mit Deutschlandbezug, die sich allerdings, mit einer Ausnahme - dem Roman Siegfried (1946) von Jean-Louis Curtis -, als ergebnislos erwies, da die erhofften Europabezüge fehlten. Dorothee Röseberg stellt anhand einer vergleichenden Analyse ost- und westdeutscher Französischlehrbücher der 50er Jahre zwei sehr unterschiedliche Visionen eines transkulturellen deutsch-französischen Feldes vor, die jeweils eng an die gesellschaftspolitischen Konzepte der Systeme gebunden waren. So steht der Vision eines transkulturellen Feldes auf Basis linksrepublikanisch-laizistischer Werte ideologisch Gleichgesinnter auf ostdeutscher Seite die Vision eines binationalen 267 Comptes rendus Feldes auf der Grundlage gemeinsamer, für universell erklärter Werte auf westdeutscher Seite gegenüber. Damit kann man - so das Ergebnis dieser erkenntnisreichen Untersuchung - in den frühen Nachkriegsjahren von einem geteilten deutsch-französischen Feld sprechen. Dietmar Hüser erweitert das Konzept des transnationalen Feldes ebenfalls über den bilateralen Rahmen hinaus, indem er einen Kulturtransfer-Vergleich anstellt, festgemacht an der Untersuchung unterschiedlicher Verbreitung, Aneignung und Folgewirkung der ersten amerikanisch importierten Rock’n’Roll-Welle in Frankreich und der BRD. In seiner Analyse der verschiedenen Rezeptionsprozesse unterschiedet er zwischen dem Phänomen der vorbehaltlosen Übernahme, Nachahmung und imitativen Akkulturation an die amerikanische Rock’n’Roll-Kultur auf westdeutscher Seite und Formen kreativer Aneignung, Transformation und nationaler Adaption des Rock’n’Rolls auf französischer Seite. Er wendet damit den Blick auf politische Implikationen kultureller Phänomene und verknüpft erhellend politikgeschichtliche und moderne kulturgeschichtliche Ansätze. Mit dem vorliegenden Band ist es den Herausgebern und Autoren gelungen, ein faszinierendes Panorama der deutsch-französischen Beziehungen in den Kriegs- und Nachkriegsjahren vorzuführen. Die vielfältigen Beiträge zeigen, wie erkenntnisbringend die Anwendung des Bourdieu’schen Feldbegriffes auf einen transkulturellen Rahmen und auf Basis eines dynamischen Kulturbegriffs sein kann. Hier wird ein Raum eröffnet, in dem die Selbstverständlichkeit des Nationalen kritisch hinterfragt werden kann und ein Dialog jenseits nationaler Differenzdiskurse möglich wird. Der Band arbeitet Bereiche des Kulturaustausches und Kulturtransfers außerhalb der viel untersuchten kulturpolitischen Institutionen auf und schenkt auch weniger bekannten Mittlerfiguren Aufmerksamkeit - wobei, das sei hier kritisch angemerkt, einzig männliche Mittlerfiguren zu Wort kommen. Vielfach werden neue Perspektiven eröffnet, indem etwa die ehemalige DDR ins Blickfeld gerückt wird und das Konzept des transkulturellen Feldes im Rahmen eines Kultur-Transfer-Vergleiches über den bilateralen Rahmen hinaus erweitert wird. Auch ist die ganz neue Perspektive auf die Kriegs- und Besatzungszeit, umrissen mit dem Stichwort „konfliktuelle Interkulturalität“ (8), innovativ und interessant. Diesbezüglich belegen die Beiträge überzeugend die einleitend aufgestellte Hypothese, dass in der Kriegs- und Okkupationszeit ein deutsch-französisches kulturelles Feld mit intensivem Austausch entstehen konnte. Allein der in der Einleitung angekündigte besondere Blick auf die „emotionale Dimension“ (8) der deutschfranzösischen Beziehungen zeigt sich nur selten in den Beiträgen. Vielmehr schimmert aus den Zeilen vieler Texte die Vermutung hervor, dass die französischen Annäherungs- und Verständigungsversuche nach Kriegsende häufig aus realpolitischer Notwendigkeit geschahen. So stellt sich die Frage, ob die in der Einleitung aufgeworfene, in den Beiträgen jedoch nicht weiter aufgegriffene Hypothese, die heutige Entemotionalisierung könne Erklärung für die abnehmende Intensität der Beziehungen sein, nicht schon in dem damaligen rein realpolitischen Ansatz vieler Vermittlungsbestrebungen einen Ursprung findet. Waren es tatsächlich emotionale 268 Comptes rendus Gründe, welche die Verständigung vorantrieben? Wie beeinflusst es die Beziehungen, wenn die vorwiegenden Emotionen Angst und Sorge um Sicherheit waren? Und müsste man dann statt von einer Entemotionalisierung nicht von einer Re- Emotionalisierung während der deutschen Wiedervereinigung sprechen? Der interessierte und neugierige Leser würde sich nun eine Fortführung wünschen, welche die in diesem Band so erkenntnisbringend analysierte Umbruchszeit rund um die „Stunde Null“ mit dem aktuellen Klima der deutsch-französischen Beziehungen in Verbindung bringt und der Frage nach heutigen deutsch-französischen Feldern bzw. deren Entwicklung nachgeht. Hanna Milling (Berlin) INGRID GALSTER: BEAUVOIR DANS TOUS SES ETATS. PARIS: TALLANDIER, 2007 (347 S., BR., 25 €) Im Unterschied zu jenen vermeintlich objektiven Wissenschaftlern, die „soit par identification, soit par démarcation“ (12) sich dem Gegenstand ihrer Bemühung nähern und dabei doch immer nur auf sich selbst treffen, zeigt der vorliegende Band, dass es möglich ist, seinem Gegenstand gerecht zu werden, ohne dass der Autor sich ständig ins Bild drängt. Die verschiedenen Textsorten - Interviews, Vorträge, Essays, Rezensionen, Dokumente - ergeben im Resultat ein Lesebuch im besten Sinn, das die unterschiedlichsten Durchblicke auf die mittegebende Gestalt erlaubt. Sie machen deutlich, dass es einer „nouvelle biographie sur Beauvoir“ (14) bedarf und dass niemand besser als Ingrid Galster selbst dieses Desiderat beheben könnte. Mit einer Beauvoir „dans tous ses états“ ist ein Horizont aufgespannt, in dem viele, zumindest mehrere Beauvoirs Platz haben. Hier werden Widersprüche wahrgenommen, ohne dass deshalb die Attitüde des enttäuschten Gläubigen eingenommen und nach der Inquisition verlangt würde. Weder wird die weltverändernde Wirkung des in 33 Sprachen übersetzten Deuxième Sexe bestritten (159), noch wird die ambivalente Rolle der Mitarbeiterin von Radio Vichy beschwiegen. „Ils auraient pu les mettre ex aequo“ (23), meint Maurice de Gandillac, der im selben Jahr 1929 wie Beauvoir und Sartre die Agregation in Philosophie absolviert hat, der Mann an erster, die Frau, 21 Jahre alt, an zweiter Stelle. Er vermutet, dass Sartre, der im Jahr zuvor noch gescheitert war, über „un peu plus d’expérience“ verfügte (24). Die Verblüffung, die in dem von André Lalande verfassten Abschlussbericht der Prüfungskommission zum Ausdruck kommt, dass nämlich die Frauen „peuvent manifester dans des épreuves de ce genre autant de vigueur et de distinction intellectuelles que les hommes“ (40), lässt zweifeln: Die „größere Erfahrung“ dürfte angesichts des gängigen Vorurteils von der intellektuellen Unterlegenheit der Frauen - erst seit 1920 sind sie zu dem Wettbewerb zugelassen - weniger entscheidend gewesen sein. Noch Jacqueline Gheerbrant, eine von Beau-