eJournals lendemains 35/138-139

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Narr Verlag Tübingen
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2010
35138-139

E. Richter: Ich-Entwürfe im hybriden Raum. Das Algerische Quartett von A. Djebar

2010
Natascha Ueckmann
ldm35138-1390260
260 Comptes rendus profunden Kenntnissen des Autors. Für die von ihm hervorgehobenen Regisseure ist, so macht es der Text deutlich, ein engagiertes linkes, mit den Marginalisierten solidarisches Kino zentral. Dabei wird durch die vielen Verweise auf andere Filme und auch durch die Filmografie sichtbar, dass es darüber hinaus ein weniger engagiertes und mehr in der Traditionslinie etwa Pagnols stehendes Kino über Marseille gibt. Auf diese andere Seite des regionalen Kinos eröffnet Winkler damit fruchtbare Perspektiven für weitere Forschung. Cornelia Ruhe (Mannheim) ELKE RICHTER: ICH-ENTWÜRFE IM HYBRIDEN RAUM - DAS ALGERISCHE QUARTETT VON ASSIA DJEBAR, FRANKFURT/ M./ BERLIN/ BERN U.A.: PETER LANG VERLAG 2008, 303 S. (MITTELMEER: LITERATUREN - KULTUREN, BAND 1), ISBN 978-3-631-57195-8 Elke Richters jüngst erschienene Dissertation Ich-Entwürfe im hybriden Raum - Das Algerische Quartett von Assia Djebar (2008) legt eine überzeugende und anregende Konzeption für autobiographische Texte aus postkolonialen Räumen vor. Anhand des quatuor algérien, dem autobiographischen Werk von Assia Djebar (erschienen sind bislang L’amour, la fantasia, 1985; Ombre sultane, 1987, Vaste est la prison, 1995), wird die Frage erörtert, inwiefern europäische bzw. eurozentristische theoretische Ansätze der Autobiographie überhaupt auf ein Schreiben des Selbst in transkulturellen Räumen wie jenem zwischen Europa und dem Maghreb übertragbar sind. Bei Djebars narrativen Inszenierungen des Ich erweist sich der Begriff der Hybridität als zweifach zentral, markiert er doch sowohl textuelle als auch identitäre Durchdringungsprozesse. Zunächst ist Hybridität im Sinne einer literarischen Vernetzung verschiedener Diskursarten und Textsorten für gattungstheoretische Fragen relevant. Richter zeigt, dass die in europäischen Zusammenhängen entwickelten Definitionen der Autobiographie an ihre Grenzen stoßen, wo sich kulturell verschiedene Texttraditionen überlagern; eindeutige generische Zuordnungen der Texte sind unmöglich. Sie weist nach, dass Djebars Algerisches Quartett zahlreiche intertextuelle Anknüpfungspunkte zur arabischen Literatur- und Autobiographietradition erkennen lässt (wie u.a. der Verweis auf Ibn Khaldouns bekannte Autobiographie Ta’rif aus dem Jahre 1395 und damit das Verorten in einer arabischen Text-Kette, vgl. 111 und 268). Darüber hinaus beleuchtet Richter in ihren klaren narratologisch basierten Mikro-Analysen des Quartetts die identitären Bewegungen des Ich in hybriden kulturellen Räumen. Sie versucht jenseits europäischer Narrationsverfahren auch eine „Tiefenstruktur der Texte […] freizulegen, die Ausdruck präkolonialer (das heißt arabischer, aber auch zum Beispiel berberischer) Narrationsformen des Selbst sind“ (75). Richter deutet hier gar eine dritte Dimen- 261 Comptes rendus sion von Hybridität an, nämlich im Hinblick auf disziplinäre Grenzüberschreitungen, die ihre Arbeit automatisch in den Zwischenräumen von Arabistik und Romanistik verortet; verständlicherweise stößt die Verfasserin hier an ihre eigenen disziplinären und sprachlichen Grenzen. Der erste Schritt der Arbeit, der einleitende gattungstheoretische Überblick zur Autobiographie, zielt konkret auf die Frage, ob sich Identitätsentwürfe innerhalb postkolonialer, transkultureller Räume von postmodernen, poststrukturalistischen Schreibverfahren europäischer Provenienz unterscheiden. Einerseits stehen zentrale Fragen wie Handlungsfähigkeit, Identität und Subjektposition gerade in postkolonialen Räumen, die von Besitz- und Herrschaftsverhältnissen zwischen ‘Subjekten’ und ‘Un-Subjekten’ geprägt waren, in besonderer Weise zur Diskussion. Nicht nur der problematische postkoloniale Subjektstatus ist angesichts von Entrechtung und Entmenschlichung ein anderer als im europäischen Kanon, auch die kulturelle ‘Verfügung’ über ein bloß individuelles ‘Ich’ ist eine andere, denn das ‘Ich’ wird häufig kollektiv verortet. Die Autobiographie gilt bekanntlich als eine auf den europäischen Kulturraum begrenzte Gattung, welche die Entwicklung der Geschichte eines Individuums bzw. seines Bewusstseins in den Mittelpunkt gestellt hat (vgl. 20). Die Geschichte der Autobiographie zeigt diese literarische Gattung im Dienste der Entwicklung von Individualisierungs- und Autonomisierungsprozessen, traditionell ausgerichtet am weißen, männlichen, heterosexuellen, bürgerlichen Subjekt, entsprechend dem normativen Ich à la Montaigne, Goethe oder Rousseau. Im Laufe des 20. Jahrhunderts hat das Genre der Autobiographie jedoch einen tiefgreifenden Wandel durchlaufen, so dass herkömmliche Kategorien wie Autor, Identität, Subjekt, Individualität, Autonomie, Wahrheit, Wirklichkeit und Geschichte grundlegend revidiert werden mussten. Als Gemeinsamkeit in der postkolonialen wie in der neueren europäischen Autobiographik fällt daher eine Brüchigkeit der Erinnerung in Form von Fragilität, Fragmentarität und Resistenz sowie eine Unabgeschlossenheit des Schreibprozesses und vielfältige erzählerische Masken der jeweiligen Protagonisten auf. Strategien der Dekonstruktion, Relektüre oder Transformation autobiographischer Konventionen lassen sich sowohl bei postkolonialen als auch postmodernen (europäischen) Ich-Entwürfen feststellen. 1 Wenn es richtig ist, dass das Subjekt sich nur als Anderes wahrnehmen kann, wie die neuere Autobiographiefor- 1 Vgl. Hornung, Alfred/ Ruhe, Ernstpeter (eds.): Postcolonialism & Autobiography, Amsterdam: Rodopi 1998; Gronemann, Claudia: Postmoderne/ Postkoloniale Konzepte der Autobiographie in der französischen und maghrebinischen Literatur. Autofiction - Nouvelle Autobiographie - Double Autobiographie - Aventure du texte, Hildesheim: Olms 2002; de Toro, Alfonso/ Claudia Gronemann (eds.): Autobiographie revisited. Theorie und Praxis neuer autobiographischer Diskurse in der französischen, spanischen und lateinamerikanischen Literatur, Hildesheim: Olms 2004; Gehrmann, Susanne/ Gronemann, Claudia (eds.): Les enJEux de l’autobiographique dans les littératures de langue française: Maghreb - Machreq - Afrique - Antillles - Canada. Du genre à l’espace - l’autobiographie postcoloniale - l’hybridité, L’Harmattan: Paris 2006. 262 Comptes rendus schung überzeugend nachgewiesen hat, handelt es sich folglich bei jedem autobiographischen Text um eine Fiktion: „Wenn der Versuch, das Ich zu erkennen, nur fiktive Bilder des Selbst liefert, die Sprache darüber hinaus kein Medium ist, das auf eine äußere Wirklichkeit verweisen kann, dann ist die Fiktion der einzige Modus, in dem die Darstellung des Ich möglich ist. Aus der Autobiographie als authentischer Rekonstruktion der Vergangenheit wird in der Postmoderne die fiktive Konstruktion eines Lebens“ (52). Richter weist aber nach, dass europäische Analysekriterien als Beschreibungskategorien für außerhalb dieses Kontextes entstandene Texte nicht hinreichend sind, und dass sich dort vielfältige Traditionen autobiographischen Schreibens unabhängig von europäischen Einflüssen entwickelt haben (vgl. 270f): „Die Argumentationen von Gusdorf, Pascal oder May laufen [...] auf die These eines spezifisch geographischen, kulturellen bzw. religiösen Ursprungs der Autobiographie hinaus: Ihre Herkunft ist Europa, ist die okzidentale, christliche Kultur. Tauchen Autobiographien jenseits dieses Raums auf, so werden sie als ‘Exportprodukte’ einer europäischen Eroberungspolitik gewertet, als Imitate europäischer Vorbilder, [...]“ (27). Richter fordert eine nicht-westliche Lesart autobiographischer Texte wie jene von Assia Djebar mit Blick auf Vorstellungen von Individualität, Privatsphäre und Selbst-Konzept. Sie verzeichnet dafür narrative Spezifika, die wiederholt in den Analysen zur arabischen Autobiographie Erwähnung finden. Neben der Zögerlichkeit, das eigene Leben publik zu machen, handelt es sich nicht unbedingt um abgeschlossene Texte. Sie sind eher episodisch gereiht, wobei neben der individuellen Geschichte gerade die familiäre Genealogie des Autors/ der Autorin und darüber hinaus der historische, kollektive Diskurs bedeutsam ist. Ferner wird häufig in der dritten Person von sich erzählt, biographische und autobiographische Passagen alternieren und schließlich sind vielfach Visionen und traumartige Sequenzen gewichtig (vgl. 68f). So wundert es nicht, dass zur Beschreibung von autobiographischen Texten, in denen es zumeist weder eine zentrale Ich-Figur, eine chronologisch-kohärente Handlung noch einen allwissender Erzähler gibt, neue Subgattungsbezeichnungen ins Spiel kommen wie „autobiographie double“, „écriture d’autobiographie“, „autophylography“, „collective autobiography“, „autobiographie au pluriel“ oder „auto-historio-graphy“ (11 und 72). Diese Bezeichnungen verweisen ausdrücklich auf die Tatsache, dass Autobiographie eben nicht Ausdruck des isolierten Individuums ist, wie konventionelle Genre-Theoretiker behaupten, sondern Erfahrungen von kollektiver Verbundenheit vermitteln. Problematisch, und darauf insistiert Richter, ist dabei bloß, dass damit die Abweichung von einer (europäischen) Norm suggeriert und auf eine „vermeintlich essenzielle Seinsweise“ (72) rekurriert wird, die in postkolonialen Literaturen zum Ausdruck käme. Mit Blick auf hybride Identitäten in einer von Migrationsbewegungen gekennzeichneten Welt ist eine solche Herangehensweise fragwürdig. Richter plädiert stattdessen für eine Zusammenfassung zu einer Textsorte, der Autobiographik, denn jeglicher autobiographische Text konstruiert „fortschreibbares Sein in der und über die Narration“ (74). 263 Comptes rendus Elke Richter schlägt für die Interpretation des Quartetts ein textanalytisches Verfahren vor, welches narrative Entwürfe eines ‘Ichs’ in hybriden kulturellen Räumen freilegt. Eine solch postkoloniale Narratologie verlasse als Methode den strukturalistischen Kontext und das Feld der reinen Textimmanenz (vgl. 74). Bei Ich-Entwürfe[n] im hybriden Raum kehrt auffälligerweise das von der poststrukturalistischen Autobiographietheorie verabschiedete Moment der Referenz, das bis dahin vernachlässigte hors-texte wie die Geschichte, die Kultur oder das Subjekt wieder in die Diskussion zurück. Die Wechselwirkungen von Text und Kontext rücken erneut - unter anderem Vorzeichen - wieder in den Blick, was Richter im ausführlichen zweiten Schritt ihrer Studie prägnant zeigt. Dieser Teil umfasst eine feinstufige Analyse der drei autobiographischen Texte von Djebar im methodischen Feld der Genette’schen textimmanenten Narratologie und der darüber hinausgehenden postkolonialen Erzähltheorie. Zunächst ordnet Richter die genannten Texte durch den Nachweis der impliziten Analogie der makrotextuellen Struktur, der Komposition der Titel sowie des internen Textsystems überzeugend dem postulierten Quartett zu (87-99). Ferner weist Richter nach, dass der autobiographische Pakt bei Djebar nicht als individueller, sondern als genealogischer Pakt funktioniert, und dass es sich zudem um einen epitextuellen Pakt handelt, der den Paratext zu seinem Funktionieren braucht (107f). Damit zeigt sie konkret, wie der im europäischen Umfeld entwickelte Pakt für den postkolonialen maghrebinischen Raum fortgeschrieben werden muss, denn autobiographisch zu schreiben, grenze im arabischen Raum an das „Tabu der Selbstenthüllung“ (80). Insbesondere bei einer Frau käme dies einer „Autopsie bei lebendigem Leib“ (81) gleich. Auch vor diesem Hintergrund sei die Option der Autorin für eine écriture voilée zu interpretieren. Djebars Positionierung im Familienkollektiv und in der algerischen Geschichte sowie die diversen Verhüllungen ihres ‘Ichs’ durch fiktionalisierende Maßnahmen markieren eine neue postkoloniale und gendersensible Konzeption von Autobiographik. In seiner Gesamtheit ist Ich-Entwürfe im hybriden Raum ein überzeugendes Beispiel für eine gegenstandsorientierte Literaturanalyse, die zu neuen theoretischen Erkenntnissen führt. Natascha Ueckmann, Bremen PATRICA OSTER/ HANS-JÜRGEN LÜSEBRINK (EDS.): AM WENDEPUNKT. DEUTSCHLAND UND FRANKREICH UM 1945 - ZUR DYNAMIK EINES ‚TRANS- NATIONALEN’ KULTURELLEN FELDES/ DYNAMIQUES D’UN CHAMP CULTU- REL ‚TRANSNATIONAL’ - L’ALLEMAGNE ET LA FRANCE VERS 1945. BIELE- FELD: TRANSCRIPT, 2008. 1945 - Ein Neubeginn in der europäischen Geschichte und ein entscheidender Wendepunkt in den Beziehungen zwischen den Nachbarländern Frankreich und