eJournals lendemains 35/138-139

lendemains
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2941-0843
Narr Verlag Tübingen
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2010
35138-139

D. Winkler: Transit Marseille. Filmgeschichte einer Mittelmeermetropole

2010
Cornelia Ruhe
ldm35138-1390256
256 Comptes rendus pure“ - und daß diese Besonderheiten (das Gesetz, das man sich selbst gibt und dem man folgt) das Feld wesentlich bestimmen, in dem Literatur, wie andere Bewußtseinsformen mit anderen Gesetzen in dem ihren, agiert. Wer dieser Dimension der Autonomie so wenig Rechnung trägt wie das Rieder-Projekt, büßt an spezifischer Geltung in seinem Feld ein und damit - auch das ist bei Bourdieu nachzulesen - in den Fragmentierungen der Kultur, die die Moderne kennzeichnen, zugleich an kultureller Autorität. Zur Abgrenzung des literarischen Feldes nach außen verweist Gnocchi einmal auch auf das „capital collectif“ und „la raison spécifique du champ“, ja darauf, daß „le pouvoir symbolique [...] s’acquiert dans l’obéissance aux régles de fonctionnement du champ“ (361f.). Daß dies aber auch ein inneres Gesetz des Feldes benennt und daß der periphere Status ihres Gegenstandes zu einem wesentlichen Teil aus der Weigerung zu erklären wäre, diesem Gesetz zu folgen, kommt nicht zur Sprache. Vielleicht ist es ja kein Zufall, daß in ihrem so reichhaltig entdeckenden Buch ein Kapitel fehlt: einer zusammenhängenden hermeneutischen Analyse wird kein einziger Text der behandelten prosateurs unterzogen. Und vermutlich wußte Jean-Richard Bloch, warum er seine eigenen literarischen Texte nicht in der von ihm geleiteten Reihe veröffentlichte, sondern lieber bei Gallimard. Ein wegwerfendes Urteil wäre aus dieser Erinnerung an Kanonisierungsgründe nur abzuleiten, wenn man die Logik der Autonomie absolut setzen wollte. Gnocchis, es sei wiederholt, immer wieder durch Entdeckungen und kluges Abwägen überraschendes Buch kann dazu beitragen, sich vor solcherlei zu hüten. Wolfgang Klein (Osnabrück) DANIEL WINKLER: TRANSIT MARSEILLE. FILMGESCHICHTE EINER MITTEL- MEERMETROPOLE. BIELEFELD: 2007, 328 S.. Marseille, Frankreichs zweitgrößte Stadt und der größte Hafen des Landes, ist in den vergangenen Jahren nicht nur Schauplatz der auch in Deutschland beim Publikum beliebten Krimis von Jean-Claude Izzo geworden. Die Verfilmungen seiner Romane mit Alain Delon in der Hauptrolle, aber auch die Filme des Marseiller’ Regisseurs Robert Guédiguian haben das Bild Marseilles zum Positiven gewandelt. Die Stadt wird inzwischen in manchen Medien als touristischer Geheimtipp gehandelt, auch wenn viele Artikel ihr immer noch einen schlechten Leumund ausstellen und sie als „ Mafia-Hochburg, Drogen-Umschlagplatz und sozialen Unruheherd“ (Spiegel-Online, 14.09.2004) bezeichnen. Der Wiener Romanist und Medienwissenschaftler Daniel Winkler beschäftigt sich unter filmhistorischer Perspektive mit dem Bild Marseilles, eines Ortes, der im zentralistischen Frankreich in mehrfacher Hinsicht an der Peripherie verortet wird: Aufgrund seiner tatsächlichen geographischen Lage, im Zusammenhang mit sei- 257 Comptes rendus ner stark von unterschiedlichen Wellen der Immigration getragenen Geschichte und mit Blick auf das sich aus den Komplexen Immigration und Hafenlage ergebende kriminelle Milieu der Stadt - ein Bild, von dem, so Winkler, bis zu einem gewissen Grad unklar bleibt, inwieweit es sich statistischen Erhebungen oder vielmehr den medialen Repräsentationen der Stadt verdankt. Marseille hat als Filmstadt für Frankreich große Bedeutung. Zwei Genres prägen sein filmisches Image seit der Frühzeit des Mediums, so Winkler: Die Filme Marcel Pagnols ebenso wie die Operettenfilme der 1930er Jahre von Henri Alibert und Vincent Scotto stellen die Stadt als heitere, sonnige Mittelmeeridylle dar. Im Gegensatz hierzu sorgten die später entstandenen, hier angesiedelten Kriminalfilme dafür, dass „Marseille […], ähnlich wie Neapel oder Chicago, als ville noire, als düstere Stadt des Kriminalfilms“ (10) ins kulturelle Imaginäre einging. Beide Genres prägten ein widersprüchliches, aber doch sehr klar konturiertes Bild der Stadt, das nachfolgende Generationen von Filmemachern geschickt zu nutzen wussten. Das medial dominante Bild ist allerdings, so Winkler, nicht von regionalen, mit den tatsächlichen Besonderheiten der Stadt vertrauten Produktionen geprägt, sondern vielmehr von international erfolgreichen Filmen wie etwa French Connection (USA 1971, R: William Friedkin) und Borsalino (F/ I 1970, R: Jacques Deray). Die Regisseure dieser Filme werfen einen Blick auf die Stadt, der bereits auf dem Bild aufbaut, das ihre Vorgänger entwickelt haben. Winkler löst sich von diesen nur allzu häufig klischeebehafteten Darstellungen Marseilles und stellt das regionale Filmschaffen in den Vordergrund. In seiner „Filmgeschichte einer Mittelmeermetropole“ - so der Untertitel der Untersuchung - geht er dabei exemplarisch vor und analysiert die Repräsentationen der Stadt durch die Jahrzehnte anhand der Filme der wichtigsten Repräsentanten des Marseiller Regionalkinos, der Regisseure Marcel Pagnol, Paul Carpita, René Allio und Robert Guédiguian. Eine solche, kulturwissenschaftlich orientierte Betrachtung der filmischen Repräsentationen der Stadt ist bisher zumal im deutschsprachigen Raum Desiderat geblieben. Diese Lücke füllt Winklers Studie auf kenntnisreiche, ja geradezu spannende Weise. Das Wirken der vier Filmemacher fasst Winkler unter dem von Hamid Naficy eingeführten Begriff des „accented cinema“ zusammen. Naficy geht von dem Befund aus, dass das westliche Kino stark durch Filmemacher geprägt sei, die „both ethnic and diasporic“ 1 seien. Die Filme solcher „transnational exiles“ (Naficy, 13) teilten eine Reihe von Charakteristika - so etwa die Thematisierung des (verlorenen) Heimatlandes, eine periphere Perspektive auf die westliche Gesellschaft -, die es möglich mache, sie unter dem Schlagwort des „accented cinema“ zu fassen. Winkler adaptiert diesen nicht unproblematischen Begriff erheblich, um damit ein regionales und engagiertes Kino zu bezeichnen, dass sich in differenzierter Weise 1 Hamid Naficy: An Accented Cinema. Exilic and Diasporic Filmmaking. Princeton 2001, 15. Als Beispiele führt Naficy u. a. Woody Allen, Francis Ford Coppola und Martin Scorsese an. 258 Comptes rendus mit der Stadt Marseille und ihrem Bild auseinandersetzt und dabei die weniger gefälligen Seiten der Stadt nicht außer acht lässt. Insbesondere die drei jüngeren Filmemacher verweisen dabei immer wieder aufeinander und geben den Reflexionen über die Stadt so eine selbstbezügliche Komponente. Pagnol selbst konnte bereits auf lange sanktionierte, stereotypisierte Darstellungen der Mittelmeermetropole zurückgreifen, wie sie seit dem 19. Jahrhundert in der Literatur kursierten. Marseille wurde demnach als sonnige Hafenstadt gezeichnet, deren Bewohner einen für die Karikatur nur allzu geeigneten Akzent sprechen und ihre Worte durch heftiges Gestikulieren begleiten. Pagnol setzte sich von diesem Bild in den Filmen, die er in den 1930er Jahren produzierte und drehte, 2 so Winkler, nicht explizit ab, sondern nutzte es vielfach, da die Stadt für ihn in der Tat vom „Marseiller Provenzalischen, einem spezifisch regionalen Humor und einer lateinisch-mediterranen Kultur“ (70) gekennzeichnet ist. Er pflegte ein antimodernes, restauratives und harmonisierendes Bild der Stadt, das zeitgenössische politische und soziale Entwicklungen weitgehend ausblendete. Eine Reihe seiner Protagonisten stellte er in derselben „karikaturistischen Außenperspektive“ (81) dar, die sonst eher den Pariser Blick auf die Stadt kennzeichnen. Pagnols vor allem auch durch die Rezeption folklorisierendes und folklorisiertes Bild der Stadt sorgte in den Folgejahren für einen wahren Boom an dort angesiedelten Filmproduktionen, die sich nicht selten der nunmehr auch filmisch eingeführten Klischees über Marseille bedienen, so Winkler. Mit Paul Carpita, der in den 50er Jahren ins Filmgeschäft einsteigt, lässt Winkler in seiner Untersuchung einen Regisseur auf Pagnol folgen, der mit ihm zunächst wenig gemein hat. Carpita macht als Mitglied der kommunistischen Partei (PCF) ein politisch und sozial engagiertes Kino, das sich deutlich von Pagnol absetzt. Sein erster abendfüllender Spielfilm, Le rendez-vous des quais (1953/ 55), stellt den Generalstreik der Marseiller Hafenarbeiter gegen den Krieg in Indochina ins Zentrum der Handlung. Dieser Konflikt ist zwar bereits beigelegt, als der Film in die Kinos kommen soll; aber der gerade ausgebrochene Algerienkrieg sorgt dafür, dass die Zensurbehörde den Film als Gefährdung der öffentlichen Ordnung einstuft und zensiert. Erst in den späten 1980er Jahren wird der Film wieder entdeckt und im Zuge einer neuaufkommenden Begeisterung für die Filmstadt Marseille in die Kinos gebracht. Er steht damit, wie auch die Kurzfilme Carpitas, die Winkler schlüssig als cinéma militant im Sinne eines zunächst kommunistischen, dann allgemeiner linken Engagements verortet, im Zusammenhang mit der beginnenden französischen Aufarbeitung der eigenen kolonialen Vergangenheit, die auch heute noch keineswegs abgeschlossen ist. Carpita stellt jene Aspekte Marseilles in den Vordergrund, die bei Pagnol kaum oder gar nicht thematisiert wurden. Sein Kurzfilm Marseille sans soleil (1960) macht gleich mit seinem Titel deutlich, dass es hier nicht um das klassische Bild 2 Winkler betrachtet die Trilogie Marius (R: Alexandre Kordas, F 1931), Fanny (R: Marc Allégret, F 1932) und César (R: Marcel Pagnol, F 1936). 259 Comptes rendus Marseilles als sonnige Metropole geht, sondern vielmehr um die Kehrseite der Medaille. So interpretiert Winkler die frühen, engagierten Filme Carpitas konsequenterweise als „Schlüsselfilme eines anderen kinematografischen Marseille“ (125). Trotz aller Unterschiede zwischen den beiden Filmemachern macht er deutlich, dass die Ästhetik Carpitas ohne den Vorläufer und ideologischen Gegenspieler Pagnol, auf den er sich immer wieder kritisch bezieht, nicht denkbar und verstehbar wäre. René Allio ist der dritte von Winkler behandelte Marseiller Regisseur, und ebenso wie Carpita ist auch er einem deutschen Publikum bislang weitgehend unbekannt geblieben. Sein Film Retour à Marseille (1979), dem eine Kriminalfilm- Handlung zugrunde liegt, setzt ein peripheres Marseille in Szene, in dem die Ränder der Stadt selbst, aber auch ihre Bewohner - die Immigranten -, eine wichtige Rolle spielen. Der Film läuft der bisherigen medialen Repräsentation der Stadt zuwider und trifft damit auf Widerstand: Der Bürgermeister Gaston Defferre verurteilte den Film, weil er ihm in seiner „subtile[n] Ästhetik der Vermischung von Vergangenheit und Gegenwart, von Dokumentation und Fiktion“ (184) ein verzerrtes Bild der Stadt wiederzugeben schien - ein nur allzu realistisches Abbild, das der Politiker kommerziellen Zielen für abträglich hielt. Was aus medienwissenschaftlichem Blickwinkel als differenziert zu gelten hat, erscheint im Hinblick auf handfeste touristische Aspekte als zu differenziert und damit problematisch. Nach einem weiteren, kurzen Kapitel, in dem Winkler auf neuere und zum Teil sehr populäre Filme eingeht, die Marseille ins Zentrum der Handlung stellen (so z. B. die von Luc Besson produzierte Taxi-Trilogie (1998-2003) mit Sami Nacéry in der Hauptrolle, Bye-Bye von Karim Dridi (1995), Bertrand Bliers Un, deux, trois, soleil (1993) oder Erick Zoncas Le petit voleur (1998)), widmet er sich dem letzten Regisseur des Regionalkinos, der in den 1990er Jahren auch in Deutschland populär wurde - Robert Guédiguain. Guédiguain siedelt seine Filme wiederum, wie bereits Allio, nicht im Zentrum der Stadt an, das durch die seit Pagnol hinlänglich bekannten Kulturdenkmäler und den Hafen geprägt ist, sondern verlagert seine Handlung nach L’Estaque bzw. in andere, periphere Viertel der Stadt. Seine Filme stellen die einfache Bevölkerung am Rande der Städte in den Vordergrund und bieten so ein Bild von einem volkstümlichen Marseille, das allerdings in seiner harmonischen Variante in Marius et Jeannette den Pagnol’schen Klischees nahekommt. Carpita, Allio und Guédiguain pflegen nach Winkler alle ein mit der sozialen Peripherie Marseilles solidarisches und engagiertes Kino, das dem Betrachter ein wesentlich differenzierteres Bild zu vermitteln vermag als das Pagnols. Ihr Augenmerk richten sie, so Winkler, auf „regionale und soziale Visionen, die Marseille als lebbaren Ort mit Zukunft“ (298) entwerfen. Winkler löst seinen Anspruch, eine Filmgeschichte Marseilles vorzulegen, ein, und bietet dem Leser nicht nur eine Fülle von Fakten über die Stadt selbst, sondern auch einen Überblick über die Vielfalt der sie thematisierenden Filme. Auch die im Anhang abgedruckte Filmografie Marseilles ist hilfreich und zeugt von den 260 Comptes rendus profunden Kenntnissen des Autors. Für die von ihm hervorgehobenen Regisseure ist, so macht es der Text deutlich, ein engagiertes linkes, mit den Marginalisierten solidarisches Kino zentral. Dabei wird durch die vielen Verweise auf andere Filme und auch durch die Filmografie sichtbar, dass es darüber hinaus ein weniger engagiertes und mehr in der Traditionslinie etwa Pagnols stehendes Kino über Marseille gibt. Auf diese andere Seite des regionalen Kinos eröffnet Winkler damit fruchtbare Perspektiven für weitere Forschung. Cornelia Ruhe (Mannheim) ELKE RICHTER: ICH-ENTWÜRFE IM HYBRIDEN RAUM - DAS ALGERISCHE QUARTETT VON ASSIA DJEBAR, FRANKFURT/ M./ BERLIN/ BERN U.A.: PETER LANG VERLAG 2008, 303 S. (MITTELMEER: LITERATUREN - KULTUREN, BAND 1), ISBN 978-3-631-57195-8 Elke Richters jüngst erschienene Dissertation Ich-Entwürfe im hybriden Raum - Das Algerische Quartett von Assia Djebar (2008) legt eine überzeugende und anregende Konzeption für autobiographische Texte aus postkolonialen Räumen vor. Anhand des quatuor algérien, dem autobiographischen Werk von Assia Djebar (erschienen sind bislang L’amour, la fantasia, 1985; Ombre sultane, 1987, Vaste est la prison, 1995), wird die Frage erörtert, inwiefern europäische bzw. eurozentristische theoretische Ansätze der Autobiographie überhaupt auf ein Schreiben des Selbst in transkulturellen Räumen wie jenem zwischen Europa und dem Maghreb übertragbar sind. Bei Djebars narrativen Inszenierungen des Ich erweist sich der Begriff der Hybridität als zweifach zentral, markiert er doch sowohl textuelle als auch identitäre Durchdringungsprozesse. Zunächst ist Hybridität im Sinne einer literarischen Vernetzung verschiedener Diskursarten und Textsorten für gattungstheoretische Fragen relevant. Richter zeigt, dass die in europäischen Zusammenhängen entwickelten Definitionen der Autobiographie an ihre Grenzen stoßen, wo sich kulturell verschiedene Texttraditionen überlagern; eindeutige generische Zuordnungen der Texte sind unmöglich. Sie weist nach, dass Djebars Algerisches Quartett zahlreiche intertextuelle Anknüpfungspunkte zur arabischen Literatur- und Autobiographietradition erkennen lässt (wie u.a. der Verweis auf Ibn Khaldouns bekannte Autobiographie Ta’rif aus dem Jahre 1395 und damit das Verorten in einer arabischen Text-Kette, vgl. 111 und 268). Darüber hinaus beleuchtet Richter in ihren klaren narratologisch basierten Mikro-Analysen des Quartetts die identitären Bewegungen des Ich in hybriden kulturellen Räumen. Sie versucht jenseits europäischer Narrationsverfahren auch eine „Tiefenstruktur der Texte […] freizulegen, die Ausdruck präkolonialer (das heißt arabischer, aber auch zum Beispiel berberischer) Narrationsformen des Selbst sind“ (75). Richter deutet hier gar eine dritte Dimen-