eJournals lendemains 35/138-139

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Narr Verlag Tübingen
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2010
35138-139

M. C. Gnocchi: Le parti pris des périphéries. Les „prosateurs français contemporains“ des Editions Rieder (1921-1939)

2010
Wolfgang Klein
ldm35138-1390252
252 MARIA CHIARA GNOCCHI: LE PARTI PRIS DES PERIPHERIES. LES « PROSA- TEURS FRANÇAIS CONTEMPORAINS » DES EDITIONS RIEDER (1921-1939). BRUXELLES, LE CRI / CIEL, 2007, 264 S. Maria Chiara Gnocchi hat ein hochinformatives und bedenkenswertes Buch über einen wichtigen, aber fast vergessenen Gegenstand vorgelegt. Über die Analyse einer literarischen Reihe in einem Verlag der Zwischenkriegszeit hinaus, die der Untertitel verspricht, rekonstruiert sie Charakter und Produktion dieses Verlages insgesamt, ruft einige bekannte Akteure neu und zahlreiche Autoren erneut ins Gedächtnis und regt an zu Fragen nach den Mechanismen und Gründen, die einige Teile des literarischen Feldes kanonisieren und andere als peripher bestimmen. Zuerst zu Quellen, Methoden und Ergebnissen der entdeckerischen Arbeit. Das Archiv der 1913 gegründeten Editions Rieder ging verloren, bald nachdem sie im Dezember 1939 zahlungsunfähig in den Presses Universitaires de France aufgegangen waren. Quellen ernstnehmend und aufmerksam auswertend, denen die Forschung sonst - wie sich hier zeigt, sehr zu unrecht - wenig Aufmerksamkeit schenkt, gelingt es Gnocchi dennoch, ihr Anliegen zu verwirklichen: Rieder „en tant que structure de sociabilité“ und „en tant qu’aventure intellectuelle“ so zu repräsentieren, daß sie zur „restitution d’un cadre intellectuel et littéraire, celui de l’entre-deux-guerres“, Wichtiges beizutragen und zu belegen vermag, daß die Produktion von Rieder in diesem Zeitraum „un réaménagement partiel du champ littéraire“ bewirkt hat (16f., 20). Diese Quellen sind neben den - zumeist unveröffentlichten - Korrespondenzen wichtiger Beteiligter Klappen- und andere Werbetexte des Verlages, Widmungen, Vorworte und Rezensionen der Verlagsveröffentlichungen (nicht allerdings aus der bei Rieder selbst erscheinenden Zeitschrift Europe; daß dieses Korpus zu „hétérogène et délicat“ sei [158], begründet die Lücke nicht überzeugend). Besonders zu würdigen ist die Rekonstruktion der nirgends gesammelt vorliegenden Verzeichnisse der - auch außerliterarischen - Reihen und Bücher, die Rieder herausgebracht hat, aus den genannten Materialien sowie aus Bibliothekskatalogen, Antiquariatsinformationen und den vielen Einzelinformationen, auf die aufmerksame Forscher treffen. Schon der Spürsinn, der in der Quellenforschung aufgebracht wurde, ist bewundernswert. Die zitierten Begriffe deuten an, daß die Darstellung jener von Pierre Bourdieus Arbeiten angeregten Richtung der Intellektuellenforschung verpflichtet ist, die ihre Erkenntnisse aus der Rekonstruktion der sozialen Netzwerke gewinnt, die Gruppen von Akteuren im Verfolgen bestimmter geistiger und sozialer Ziele bilden. Soweit diese Soziabilitätsforschung in Französisch vorliegt, wird sie maßvoll zitiert. Wichtiger ist Gnocchi der Gegenstandsbezug. Aus den genannten Quellen extrahiert sie sehr bewußt, genau und vielfach mit klug erhellenden Kommentaren, wie das Rieder-Netzwerk sich bildete, zusammenhing und funktionierte. Hervorhebenswert scheint mir dabei, daß die Persönlichkeiten, die so zusammenarbeiteten, in ihren Prägungen, Handlungen und Wirkungen immer nicht als Funktionalorgane des Netzwerkes, sondern als Individuen mit jeweils besonderen Interessen, Leis- Comptes rendus 253 tungen und Verhaltensweisen (die sie dann an bestimmte Punkte des Feldes und mit Gleichgesinnten zusammen führen) vor Augen gestellt werden. Wichtig für „Rieder“ war kaum der Verleger, der Namen und Anfangskapital gab, sich selbst als Administrator aber bald zurückzog und 1933 starb. Vielmehr wurde der Verlag, wie aus der Darstellung deutlich wird, zur Fortsetzung des libertär-sozialistischen und entschieden internationalistischen Projekts einer Gruppe von Intellektuellen, die vor dem Ersten Weltkrieg in Jean-Richard Blochs Zeitschrift L’Effort / L’Effort libre ein erstes Zentrum und in Romain Rolland eine orientierende Figur gefunden hatten und sich durch die Kriegserfahrung in ihren Überzeugungen nur bestätigt sehen konnten. Jean-Richard Bloch als literarischer Direktor des Verlags und Herausgeber seiner wichtigsten Reihe, der „Prosateurs français contemporains“, Léon Bazalgette als Herausgeber der Parallelreihe „Prosateurs étrangers modernes“, Alfred Crémieux als Verleger, dann René Arcos und Paul Colin als die ersten Chefredakteure der 1923 als wichtiger Teil des Netzes und Fortsetzung der Vorkriegszeitschrift gegründeten Revue Europe, bald Jacques Robertfrance und Jean Guéhenno, auch Marcel Martinet, Dominique Braga, Pierre Marcel, Charles Vildrac, der vor-akademische Georges Duhamel und Félicien Challaye - dessen aus einem „integralen“ Pazifismus genährte spätere Kollaboration erstaunlicherweise nicht erwähnt wird - waren das wichtigste „Personal“ (so der Titel des entsprechenden Kapitels) des Unternehmens. Unter den durch diese Gruppe versammelten „prosateurs“ waren Marguerite Audoux, André Baillon, François Bonjean, Constant Burniaux, Gabriel Chevalier, Maurice Constantin-Weyer, Ahmed Deif, Neel Doff, Jeanne Galzy, Emile Guillaumin, Panaït Istrati, Joseph Jolinon, Marie Le Franc, Jean Pallu, Maurice Parijanine, Claire Sainte-Soline, Victor Serge und Jean Tousseul. Über deren fiktionale Texte hinaus agierte Rieder aber auch mit einer beeindruckenden Zahl von historischen, sozialwissenschaftlichen und pädagogischen Veröffentlichungsreihen und Büchern. Das intellektuelle Projekt, das von diesen Menschen verfolgt wurde, war gebildet aus dem Miteinander bestimmter und besonderer, positiver Auffassungen des Internationalen, des Humanen und des Barbarischen. Polemisch gefaßt: Kultur und Literatur, die sich in Selbstbezogenheit und Artifizialität zum Klassischen erheben, aus solcher Absonderung aber zugleich den Anspruch auf Zentralstellung, ja Universalität ableiten, galten nicht nur als paradox, sondern vor allem als der Vielfalt und den wesentlichen, darunter den bedrückenden, Gegebenheiten menschlichen Lebens nicht gemäß. Positiv ausgedrückt: An den geographischen und den sozialen Peripherien der vorherrschenden Weltsicht fanden sich nach Überzeugung der Beteiligten die wesentlichen menschlichen Existenzprobleme, und diese sollten in Kultur und Literatur klar und deutlich zur Sprache gebracht werden, um das Leben erfüllter und lebenswerter zu machen. Daraus folgten inhaltlich - um eine der seltenen synthetisierenden Formulierungen aus Darlegungen zu zitieren, die sich detailliert mit Autoren- und Stoffwahl sowie Sprachgestaltung befassen - „la valorisation des périphéries géographiques [und zwar sowohl der regionalen wie der außerfranzösischen], l’attention portée aux classes sociales défavorisées, Comptes rendus 254 Comptes rendus voire aux ‚perdants’ et aux ‚simples’ de toutes sortes, enfin les affinités avec les milieux et les intérêts des enseignants“ (111) sowie in formaler Hinsicht „le renoncement aux structures complexes“ in Sätzen wie in größeren Texteinheiten, „le refus des mots rares et difficiles“ und andererseits die Offenheit für „certains régionalismes, voire quelques mots en langues étrangères, et [...] la langue parlée“ im Text (140f.). Tragende Begriffe des Art poétique der Rieder-Gruppe waren daher Vécu, Vérité, Authenticité, Sincérité, Ingénuité, Simplicité und eine Clarté, die von der klassisch-französischen deutlich Distanz hielt (vgl., nicht nur, S.131f.). Das soziale Konzept opponierte gegen hierarchisierte Strukturen wie die binäre Logik von Zentrum und Peripherie und proklamierte ein Europa, das nicht sich universal setzen, sondern alle Menschlichkeit aufheben sollte (vgl., u. a., 103 zum Programm von Europe). Gnocchi zeigt, wieviel „métissages“ (172) - Mischungen von zuvor Eigenem und einander Fremdem in weitestem Sinn - dieses Netzwerk bildeten, und sieht darin abschließend auch die Aktualität ihres Untersuchungsgegenstandes: „Les éditions Rieder semblent esquisser une première vision d’une littératuremonde.“ (217) Das ist vielleicht etwas zu emphatisch. Dennoch ist ihre Darstellung dieses Projektes selbst, was sie dem Programm von Rieder bescheinigt: „original, convaincant, cohérent“ (215). Was daran ist zu bedenken, wenn nicht bedenklich? Zunächst ist festzustellen, daß die oben versammelten Namen selbst spezialisierten Interessenten, die z.B. Rezensionen wie die vorliegende lesen, in den meisten Fällen nichts oder sehr wenig sagen dürften. Das Feld, auf dem die Genannten agierten, wurde damals offensichtlich von anderen beherrscht, und das kollektive Gedächtnis hat daran bis heute nichts Wesentliches geändert. Sofort einsichtig ist und vorgeführt wird, daß zwischen dem Rieder-Programm und dem der intellektuell beherrschenden Gruppe der Zwischenkriegszeit Welten lagen: wie nachdrücklich und vielgestaltig die Nouvelle Revue Française auf den universalen Wert der französischen Kultur setzte, war für Rieder-Leute inakzeptabel (andere Akteursgruppen der damaligen Zeit, sowohl die anarchisch-proletarischen oder kommunistischen als auch die avantgardistischen Linken, geraten nur kursorisch in den Blick, die konservativen gar nicht). Das Mißachten der Rieder-Gruppe als marginal und die Qualifizierung des NRF-Netzes als epochemachend durch Zeitgenossen wie Nachfahren sind damit aber natürlich noch nicht erklärt. An diesem Punkt scheinen mir die Begründungsangebote, die Gnocchis Buch liefert, nicht ausreichend. Folgen kann ich dem konsequenten Verzicht auf jedes Argumentieren mit der „Größe“ von Autoren - nicht zuletzt, weil gezeigt wird, wie ideologisch verseucht Gides abschätziges Urteil über die literarischen Qualitäten Rollands war (vgl. 177- 179). Ebenso scheint mir einsichtig, daß nicht der sich in solchen Verdammungen aussprechende und bei vielen weiteren Gelegenheiten zum Universalismus verklärende, im Selbstverständnis progressive französische Nationalismus als Erklärung diskutiert wird: das führte auf letztlich feldfremde Überlegungen über die Verbreitung und Wirkung politischer Stimmungen und Überzeugungen. Statt dessen wird aber allzu gegenstandsbezogen nur darauf verwiesen, daß seit dem Ende der 255 Comptes rendus 1920er Jahre „Rieder n’aura plus jamais une équipe de direction dotée de force et de cohérence comme à ses débuts“ (41) - da Bloch sich zurückzog und mit Crémieux zerstritt, Bazalgette starb, Rolland Gides Rolle dauerhaft verweigerte und nach dem frühen Tod von Robertfrance keine neue Generation nachwuchs, die aus der „impasse générationnelle“ (70) hätte herausführen können. Über die Zufälle dieser Individualgeschichten hinaus werden zwei Zusammenhänge nicht ausgeführt, die mir wichtig scheinen, um Scheitern und Vergessen des Rieder-Projekts zu begreifen. Der eine betrifft die „politisation du débat“ (201) seit dem Ende der 1920er Jahre. Gnocchi spricht sie an, als sie die „concurrence communiste’“ erwähnt, beschränkt sie aber literarisierend auf das Verhältnis von art social und réalisme socialiste und konstatiert in dieser Hinsicht, daß Rieder, „au lieu de devenir l’espace fédérateur de toutes ces tentatives“, nur eines vermochte: „se tenir à l’écart“ (202). Der Befund scheint mir wichtiger, als sie ihn nimmt. Übernationale Menschlichkeit und eine neue Kultur des Lebens waren (wurden? ) um 1930 in sozialer und politischer Hinsicht zu allgemeine Forderungen, um Wirkung über die Peripherien hinaus entfalten, gar neue Zentren bilden zu können. Rollands „Adieu au passé“, in dem Buch nicht erwähnt, und Blochs Überlegungen zu politischen Kräften, die dem „destin du siècle“ eine andere Richtung geben könnten, waren Reflexe und Aktionsversuche in der ökonomischen, sozialen und kulturellen Krise der noch europazentrierten Welt dieser Jahre - ebenso wie an anderen Stellen Gides plötzlich aufbrechender Sowjetenthusiasmus, Bretons Bemühen um die Surrealisierung von Stalinisten und Trotzki, Aragons Beschwören der wirklichen Welt, Malraux’ Vergegenwärtigungen virilen Widerstands in China, Nazideutschland und Spanien oder Drieus Wendung zum Faschismus. Leben wurde jetzt mit neuer Intensität politisiert erfahren, gedacht und dargestellt. Wer sich hier nicht einmischte, stellte sich an die Ränder. Den Spannungen zwischen dem aufbegehrenden umfassenden Menschlichkeitsstreben in Riederscher Art und dem politischen Engagement der Intellektuellen geht Gnocchi leider weder historisch noch systematisch nach. Ebensowenig in Frage gestellt wird das Literaturverständnis des Rieder-Projekts. Überzeugend rekonstruiert Gnocchi dessen Verweigern eines „statut d’exception“ 1 für eine Literatur, die sich primär auf sich bezieht. Und ihre Analysen der Autoren und ihrer Programme sind auch ein überzeugendes Beispiel dafür, daß die „expression littéraire [...] repose sur des codes conventionnels, des présupposés socialement fondés, des schèmes classificatoires historiquement constitués“. Aber sie hätte bei Bourdieu auch die Hinweise darauf finden können, daß Literatur als eines der Vermögen des Menschen ebenso wie die anderen in einer langen Geschichte ihre Besonderheiten ausgebildet hat - die „forme suggestive, allusive, elliptique“, das ästhetische „plaisir de jouer le jeu, de participer à la fiction, d’être en accord total avec les présupposés du jeu“, „le travail pur sur la forme 1 Pierre Bourdieu, Les règles de l’art. Genèse et structure du champ littéraire, nouv. éd. revue et corrigée, Paris 1998, 11; die folgenden Zitate ebd., 540, 541, 538, 182. 256 Comptes rendus pure“ - und daß diese Besonderheiten (das Gesetz, das man sich selbst gibt und dem man folgt) das Feld wesentlich bestimmen, in dem Literatur, wie andere Bewußtseinsformen mit anderen Gesetzen in dem ihren, agiert. Wer dieser Dimension der Autonomie so wenig Rechnung trägt wie das Rieder-Projekt, büßt an spezifischer Geltung in seinem Feld ein und damit - auch das ist bei Bourdieu nachzulesen - in den Fragmentierungen der Kultur, die die Moderne kennzeichnen, zugleich an kultureller Autorität. Zur Abgrenzung des literarischen Feldes nach außen verweist Gnocchi einmal auch auf das „capital collectif“ und „la raison spécifique du champ“, ja darauf, daß „le pouvoir symbolique [...] s’acquiert dans l’obéissance aux régles de fonctionnement du champ“ (361f.). Daß dies aber auch ein inneres Gesetz des Feldes benennt und daß der periphere Status ihres Gegenstandes zu einem wesentlichen Teil aus der Weigerung zu erklären wäre, diesem Gesetz zu folgen, kommt nicht zur Sprache. Vielleicht ist es ja kein Zufall, daß in ihrem so reichhaltig entdeckenden Buch ein Kapitel fehlt: einer zusammenhängenden hermeneutischen Analyse wird kein einziger Text der behandelten prosateurs unterzogen. Und vermutlich wußte Jean-Richard Bloch, warum er seine eigenen literarischen Texte nicht in der von ihm geleiteten Reihe veröffentlichte, sondern lieber bei Gallimard. Ein wegwerfendes Urteil wäre aus dieser Erinnerung an Kanonisierungsgründe nur abzuleiten, wenn man die Logik der Autonomie absolut setzen wollte. Gnocchis, es sei wiederholt, immer wieder durch Entdeckungen und kluges Abwägen überraschendes Buch kann dazu beitragen, sich vor solcherlei zu hüten. Wolfgang Klein (Osnabrück) DANIEL WINKLER: TRANSIT MARSEILLE. FILMGESCHICHTE EINER MITTEL- MEERMETROPOLE. BIELEFELD: 2007, 328 S.. Marseille, Frankreichs zweitgrößte Stadt und der größte Hafen des Landes, ist in den vergangenen Jahren nicht nur Schauplatz der auch in Deutschland beim Publikum beliebten Krimis von Jean-Claude Izzo geworden. Die Verfilmungen seiner Romane mit Alain Delon in der Hauptrolle, aber auch die Filme des Marseiller’ Regisseurs Robert Guédiguian haben das Bild Marseilles zum Positiven gewandelt. Die Stadt wird inzwischen in manchen Medien als touristischer Geheimtipp gehandelt, auch wenn viele Artikel ihr immer noch einen schlechten Leumund ausstellen und sie als „ Mafia-Hochburg, Drogen-Umschlagplatz und sozialen Unruheherd“ (Spiegel-Online, 14.09.2004) bezeichnen. Der Wiener Romanist und Medienwissenschaftler Daniel Winkler beschäftigt sich unter filmhistorischer Perspektive mit dem Bild Marseilles, eines Ortes, der im zentralistischen Frankreich in mehrfacher Hinsicht an der Peripherie verortet wird: Aufgrund seiner tatsächlichen geographischen Lage, im Zusammenhang mit sei-