eJournals lendemains 35/138-139

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Narr Verlag Tübingen
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2010
35138-139

S. Hartwig/H. Stenzel: Einführung in die französische Literatur- und Kulturwissenschaft

2010
Timo Obergöker
ldm35138-1390249
249 Comptes rendus SUSANNE HARTWIG/ HARTMUT STENZEL: EINFÜHRUNG IN DIE FRANZÖSI- SCHE LITERATUR- UND KULTURWISSENSCHAFT. UNTER MITARBEIT VON ESTHER SUZANNE PABST. STUTTGART/ WEIMAR: J.B. METZLER, 2007, 412S. Für Lehrende wie für Studierende ist die Lehrveranstaltung des Typs Einführung in die französische Literaturwissenschaft gleichermaßen schwierig, gilt es doch in der kurzen Zeit eines Semesters mit den grundlegenden Techniken wissenschaftlichen Arbeitens, Grundbegriffen der Textanalyse aller drei Großgattungen, Figuren und Tropen und bisweilen auch noch mit den Grundzügen der Literaturgeschichte vertraut zu machen. 1 Ferner wurde in den letzten Jahren das Instrumentarium literaturwissenschaftlicher Ansätze beständig um neue Ansätze erweitert, denen ebenfalls Rechnung getragen werden sollte. Erschwert wird das Arbeiten durch vollgepackte Studienpläne in den Bachelor-Studiengängen, welche sofort abrufbares Wissen verlangen und damit den intellektuellen Prozess des Lernens über Jahre einer Unmittelbarkeit opfern, deren Folgen kaum abzusehen sein werden. Ein begleitendes Lehrwerk hat inmitten dieser schwierigen (und oftmals überlaufenen Lehrveranstaltung) den Vorteil, dass es den Studierenden ermöglicht, Besprochenes in kompakter Form nachzulesen und der Veranstaltung eine gewisse inhaltliche Kontinuität verleiht. In den letzten Jahren erschienen zahlreiche Lehrbücher, welche versuchen, den Anforderungen einer Einführungsveranstaltung gerecht zu werden. Das Novum der nun vorliegenden Einführung in die französische Literatur -und Kulturwissenschaft von Susanne Hartwig und Hartmut Stenzel liegt in dem Versuch, die eng gesteckten Grenzen der Literaturwissenschaft zu sprengen, um die Verwobenheit von literatur- und kulturwissenschaftlichen Fragestellungen aufzuzeigen. Der erste Teil des Werkes widmet sich zunächst den grundlegenden Fragestellungen der Landeskunde, der Literaturwissenschaft und der Kulturwissenschaft. Ausgehend von der Marseillaise und dem wohl berühmtesten Kinderbuch der Dritten Republik Le Tour de la France par deux enfants, werden die unterschiedlichen Herangehensweisen der Literaturwissenschaft, der Kulturwissenschaft und der Landeskunde jeweils einer exemplarischen Analyse unterzogen. Darüber hinaus werden die Teildisziplinen in ihrer historischen Gewachsenheit innerhalb der deutschen Romanistik erörtert. Der zweite Teil ist klassischen Fragestellungen der Literaturwissenschaft gewidmet: Literaturbegriff, Einführung in Grundbegriffe der Semiotik, Gattungen und Textsorten und ihre Analyse, Stilistik und Rhetorik werden konzise und anschaulich präsentiert. Ein kurzes Kapitel ist ferner der Bildrhetorik gewidmet. Abgerundet wird das Kapitel durch einige Überlegungen zur Textanalyse. Diese Kernbereiche 1 Diese Rezension entstand in Zusammenarbeit mit Herrn stud. phil. Philipp Schumacher, Student der Französischen Philologie an der Universität Mainz der durch seine kritische Lektüre der Einführung in die Literatur- und Kulturwissenschaft viel zu diesen Ausführungen beigetragen hat. Dafür meinen allerherzlichsten Dank! 250 Comptes rendus einer Einführungsveranstaltung in die französische Literaturwissenschaft hätten nach meinem Dafürhalten ein wenig mehr Ausführlichkeit verdient, zumal sie sehr überzeugend aufbereitet wurden. Ein sehr umfangreicher Mittelteil ist der Geschichte der französischen Literatur (und Kultur) gewidmet und legt, der Logik des übergreifenden Ansatzes folgend, dar, in welchem Maße sich Literatur- und Kulturwissenschaft gegenseitig zuarbeiten. Zunächst wird der Begriff der Literaturgeschichtsschreibung thematisiert, woraufhin ein recht ausführlicher Überblick über die Entwicklung der französischen Literatur von ihren Anfängen bis ins beginnende 21. Jahrhundert gegeben wird. Zahlreiche graphische Darstellungen, Kästchen mit Modellinterpretationen und eine Aufstellung wichtiger Texten einer Epoche sowie Anleitungen zum Weiterdenken und -lesen legen die Bedingtheit von Kultur- und Sozialgeschichte und der literarischen Produktion offen. Jede literarische Epoche wird in ihren kulturhistorischen Hintergrund eingeordnet und vor diesem gedeutet. Eine Liste mit charakteristischen Texten einer Epoche soll zum Weiterlesen animieren. Die Einbettung literarischer Texte in ihren literaturhistorischen Kontext stellt im Vergleich zu anderen Einführungen einen immensen Vorzug dar. Stellenweise stellt man sich indes die Frage, wo der Mehrwert im Vergleich zur Grimmschen Französischen Literaturgeschichte steht, die man den Studierenden ohnehin zu Beginn des Studiums zur Anschaffung anrät und die genauso die enge Verquickung von Sozialgeschichte und Literaturproduktion offenlegt. Gerade die „charakteristischen Texte“ der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zeugen von den Schwierigkeiten der Kanonbildung von Gegenwartstexten. Die Frage, inwiefern Sébastien Japrisot, Anna Gavalda und Eric-Emmanuel Schmitt als charakteristische Texte des 20. Jahrhundert gelten dürfen, sollte zumindest aufgeworfen werden, zumal Autoren wie Jean Rouaud, Eric Chevillard oder Christian Oster völlig unberücksichtigt bleiben. Der folgende Teil versteht sich als kulturwissenschaftliche Einführung im Rahmen des Ansatzes, Literatur- und Kulturwissenschaften innerhalb einer Neukonzeption zusammenzuführen. Grundbegriffe wie Identität, Mentalität und die Erinnerungsbegriffe Halbwachs’, Noras und der Assmanns werden prägnant formuliert und kenntnisreich diskutiert. Hiernach werden ausgehend vom Barthesschen Mythosbegriff Kristallisationspunkte der französischen Kultur (und Literatur) präsentiert, wobei sowohl alltagsals auch hochkulturellen Aspekten Rechnung getragen wird. Der Teil, der dem Kino, dem Chanson und dem Fernsehen gewidmet ist, ist leider nicht immer auf dem neuesten Stand. Verstiegen erscheint die Behauptung, die Musical-Kultur sei in Frankreich wenig ausgeprägt, wo doch seit den 1980er Jahren Musicals wie Starmania, Les Dix Commandements, Notre Dame de Paris, Le Petit Prince das Gegenteil belegen. Auch bei dem Kapitel zu La bouffe und französischer Esskultur stellt sich die Frage, ob hier nicht Stereotype festgeschrieben werden. Erfreulich dagegen ist das darauffolgende Kapitel zur Erinnerungskultur, welches anhand dreier „Rettergestalten“ - Jeanne d’Arc, Charles de Gaulle und Napoléon - und ihrer Rolle im kollektiven Gedächtnis facettenreich dargelegt wird. Überzeugend ist auch das folgende Kapitel zur republikanischen Identität. 251 Comptes rendus Kristallisationspunkte der französischen Kultur sind ferner die Frauenbewegung und die Geschichte und Gegenwart Frankreichs als Einwanderungsland, welches aus der Geschichte Frankreichs als Kolonialmacht hinüberführt in die Realität als multikultureller Staat. Die multikulturelle Identität Frankreichs wird auf ihren am stärksten mediatisierten Aspekt reduziert, die Auseinandersetzungen in der Banlieue, welche wiederum als eine Gegenreaktion auf ein Kontinuum des französischen Kolonialismus gewertet werden. Äußerungen wie die, dass das „Schleierverbot“ die Ausgrenzung von jungen Frauen muslimischen Glaubens zu Tage fördere, erscheinen insofern ärgerlich, als sie nicht in das laizistisch-republikanische Selbstverständnis, welches sämtliche religiösen Zeichen (Kreuze, Kippot) aus den staatlichen Schulen verbannt, eingeordnet werden. Es wäre erfreulich gewesen, hätte man eine der Konstanten der französischen Kultur noch stärker in Betracht gezogen, das Verhältnis von Amerikanisierung und Bestrebungen nach nationaler Unabhängigkeit, welches die französische Kulturpolitik der letzten sechzig Jahre in entscheidendem Maße mitgeprägt hat. Genau hier hätte man beispielsweise in dem „La bouffe“ Kapitel einsetzen können, um den Wandel französischer Esskultur in Zeiten immer kürzer werdender Mittagspausen und einer Homogenisierung der Geschmäcker zu diskutieren. Das fünfte und letzte Kapitel füllt insofern eine Lücke als die allermeisten Einführungen in die Literaturwissenschaft kaum oder keine konkreten Hinweise zum Verfassen wissenschaftlicher Arbeiten geben. Ausführlich, schrittweise und anschaulich werden die einzelnen Arbeitsschritte zum Abfassen einer wissenschaftlichen Arbeit erläutert. Einige Anmerkungen zur Bibliographie der französischen Literaturwissenschaft von Otto Klapp und zur MLA Bibliography hätten das Bild sicherlich abgerundet. Am Ende findet sich eine kommentierte Bibliographie unverzichtbarer literarischer Texte und Hinweise zu Nachschlagewerken, wobei nützliche Anschaffungsempfehlungen gemacht werden. Texte aus dem Bereich der Frankophonie fehlen leider völlig. Die vorliegende Einführung ist ansprechend gestaltet und aufgebaut, inhaltlich und methodisch interessant und eröffnet zahlreiche neue Perspektiven. Problematisch erscheint mir indessen, dass die Verknüpfungen zwischen der Kultur- und der Literaturwissenschaft nicht in dem Maße deutlich werden, wie es der Anspruch verheißt. Die Klammerkonstruktionen „Kultur (und Literatur)“, sowie „Literatur (und Kultur“) zeugen von einer gewissen Verlegenheit. Die Studienreform im Zuge des Bologna-Prozesses, so umstritten sie auch sein mag, hätte die Chance geboten, Lehrveranstaltungen zu schaffen, die stärker als dies bislang der Fall ist, auf die Verwobenheit der Teildisziplinen eingehen. An den meisten Universitäten ist diese Chance nicht genutzt worden, so dass die Einführung, so verführerisch ihr Grundansatz auch sein mag, möglicherweise nicht in dem Maße eingesetzt wird, wie sie es verdient hätte. Timo Obergöker (Mainz)