eJournals lendemains 35/138-139

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Narr Verlag Tübingen
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2010
35138-139

U. Mathis-Moser/B. Mertz-Baumgartner: La littérature ‚française’ contemporaine

2010
Elke Richter
ldm35138-1390240
240 Comptes rendus URSULA MATHIS-MOSER/ BIRGIT MERTZ-BAUMGARTNER: LA LITTERATURE ‚FRANÇAISE’ CONTEMPORAINE. CONTACT DE CULTURES ET CREATIVITE. TÜBINGEN: GUNTER NARR VERLAG, 2007 (= EDITION LENDEMAINS 4), 274 S. Der Band von Ursula Mathis-Moser und Birgit Mertz-Baumgartner La littérature ‚française’ contemporaine. Contact de cultures et créativité situiert sich in einem höchst aktuellen Diskussions- und Forschungsfeld der (deutschsprachigen) Romanistik: Es geht um die Frage, was in postkolonialen Zeiten unter einer littérature française zu verstehen ist, oder, in den Worten der Hrsg. formuliert, um die „distinction pérenne et problématique entre ‚littérature française et littératures francophones’“ (10). Deren Option, das Adjektiv ‚française’ im Titel in Anführungszeichen zu setzen, markiert somit die bis dato nicht geklärte Forschungsfrage, zu dem der vorliegende Band sich als Beitrag versteht. Was ist, so formulieren die Hrsg., heutzutage unter einer littérature ‚française’ zu verstehen? Welche Autoren/ Texte zählen hinzu? Müssen Unterscheidungen getroffen werden zwischen Texten, die aus französischsprachigen (und von unterschiedlichsten Formen der Kolonisation betroffenen) Räumen stammen und solchen, die auf französisch geschrieben werden, weil deren Autoren (über kürzere oder längere Zeiträume und aus den unterschiedlichsten Gründen) in Frankreich leben und sich für das Französische als Sprache ihres Schreibens entscheiden? Muss weiterhin innerhalb von Frankreich differenziert werden zwischen einem „espace parisien“ (12) und einer Literatur des Hexagons? Welche Rolle ist der französischen Sprache in diesen Zusammenhängen zuzuschreiben? Ist sie per se Mittlerin spezifisch kultureller Werte oder aber „instrument de négociation“ (13), d.h. gerade Medium der Infragestellung eben dieser Werte? Mathis-Moser und Mertz-Baumgartner verstehen ihren Band somit auch als remise en question der Termini „Frankophonie“/ „frankophone Literaturen“, und dies explizit vor dem Hintergrund des 2007 in Le Monde erschienenen Manifestes „Pour une littérature monde“, auf den sich die Hrsg. in ihrer Einleitung berufen. Sie erinnern in diesem Zusammenhang daran, dass im Jahr 2006 alle bedeutenden französischen Literaturpreise an AutorInnen vergeben wurden, die nicht in Frankreich geboren wurden, deren Biographien sie jedoch, auf ganz unterschiedliche Art und Weise, mit dem Hexagon und seiner Sprache in Verbindung bringen. Ihren Band verstehen die Hrsg. als Beitrag zu dieser Diskussion: „Le présent livre se veut donc une modeste contribution à l’exploration de cette ‘littérature-monde en français’ tout en limitant le corpus d’analyse aux œuvres produites dans un contexte migratoire et reflétant celui-ci sur le plan thématique et/ ou formel, ainsi qu’aux œuvres qui interagissent, de façon multiple, avec le champ littéraire français (comme lieu de production et réception).“ Deutlich wird somit das Eintreten der Hrsg. für einen inklusiven Begriff einer littérature ‚française’, die zu Frankreich, dem Französischen und seinem literarischen Feld in den unterschiedlichsten Beziehungen steht; einzige Einschränkung für die Auswahl der Autoren und Texte des Bandes, dies deutet das Zitat an, ist der „contexte migratoire“. Entsprechend die- 241 Comptes rendus ses Ansatzes wird eine ganze Breite von Texten und Autoren analysiert, die der Band eindrucksvoll auffächert: Es finden sich - um nur wenige Beispiele zu nennen - Studien zum Werk des chinesischen Autors Dai Sijie ebenso wie zu Milan Kundera oder Andreï Makine, zur kanadischstämmigen Nancy Huston, zur Vietnamesin Linda Lê, der kamerounischen Autorin Fatou Diome, dem Frankoalgerier Pélégri, der ‚Beurette’ Nina Bouraoui ebenso wie zu Autoren des postkolonialen ‚mainstream’, darunter Assia Djebar oder Mohammed Dib. Alle Autoren stehen zu Frankreich in den unterschiedlichsten Migrationsbeziehungen; sie reichen vom politischen Exil bis hin zum Leben in der Wahlheimat Frankreich aus ganz persönlichen Gründen. Dass die Entscheidung, auf Französisch zu schreiben, dabei nicht zwingend mit der Wahl Frankreichs als Wohnsitz einhergeht, darauf verweist eindrucksvoll und nachdenklich machend Doris Eibl in ihrem Beitrag: Während der in Frankreich im Exil lebende chinesische Autor und Regisseur Dai Sijie sich relativ schnell nach seiner Ankunft für die französische Sprache als Medium seiner Literatur entscheidet, publiziert der Nobelpreisträger Gao Xingjian, der, aus ähnlichen Gründen wie Dai Sijie aus China emigriert, seit 1988 in Frankreich lebt und seit 1998 französischer Staatsbürger ist, weiterhin (überwiegend) auf Chinesisch. Was also bewegt Autoren, sich für eine Sprache zu entscheiden? Überzeugend widerspricht Eibl der These von Muriel Détrie, es seien die einer Sprache innewohnenden kulturellen Werte und der Wunsch, diese zu adoptieren bzw. zu transportieren. Gruppiert werden die Beiträge des Bandes in vier Teile, dessen erster, „Les auteurs ‚migrants’ et le champ littéraire ‚français’“, sich als „invitation au débat“ (11) versteht. Hier wird deutlich, dass die Hrsg. mit ihren einleitenden Überlegungen nicht intendieren, die Frage danach, was unter einer „littérature de la migration“, bzw. einer „littérature ‚française’“ zu verstehen ist, abschließend zu klären. Im Unterschied zu deren inklusiven Begriff plädiert z.B. Véronique Porra in ihrem den Band eröffnenden und theoretisch-methodisch ausgerichteten Artikel für eine Differenzierung zwischen Texten von frankophonen Autoren (littératures francophones postcoloniales) und solchen, die das Französische als Literatursprache gewählt haben (littératures de la migration) (vgl. 24). Die historischen Kontexte, der Bezug zu Frankreich, zu seiner Kultur und Sprache sei in beiden Fällen eminent verschieden; im ersten Fall gehe es immer um ein writing back, d.h. eine kritische Auseinandersetzung mit dem ehemaligen Kolonisator und seiner Sprache, um Hybridisierungsprozesse und eine Affirmation der Alterität; im zweiten Fall handele es sich um ein writing in, d.h. ein Einschreiben in die französische Literaturgeschichte und somit eine „intertextualité de l’allégeance“ (24). Teil zwei des Bandes widmet sich literarischen Darstellungen des Exils. Dass der von prominenten Theoretikern wie Said oder Kristeva konzeptualisierte Begriff des Exils nicht ausschließlich politisch motiviert sein muss, sondern vielmehr auch eine persönliche Entscheidung darstellen kann, in Folge derer die französische Sprache nicht aufgezwungen wird, sondern Möglichkeiten der persönlichen Entwicklung bietet (wie z.B. im Falle von Nancy Huston), zeigen die hier versammelten Beiträge eindrucksvoll. Gleich ob in dem einen oder anderen Fall: Betont wird 242 Comptes rendus jeweils das kreative Moment, welches das Leben in einem fremden Land und in der fremden Sprache auslöst. Die Hrsg. verweisen auf eine Tradition von Topoi in der abendländischen Literatur, die Exil mit Leiden und Verlust gleichsetzt; diesen gelte es, ein schöpferisches Moment entgegenzuhalten: „Contrairement à cette perception négative de l’exil, ce volume pose la question de savoir comment perte et désorientation peuvent se transformer en ‚perturbation productive’, voire en ‚école de vertige’ (Cioran)“ (13). In diesem Sinne wird das Exil als eine der Ursachen des Schreibens verstanden: „Writing is impossible without some kind of exile“ (136), so zitiert Verena Berger in ihrer Analyse des kubanischen frankophonen Autors Eduardo Manet Julia Kristeva. Ursula Mathis-Mosers Beitrag arbeitet anhand des essayistischen Werks von Nancy Huston verschiedene Phasen des Exils heraus und zeigt auf, dass die écriture Hustons einem permanenten Aushandlungsprozess und einer fortgesetzten Suche zwischen Kultur/ Sprache des Ursprungslandes und der Wahlheimat, zwischen Eigenem und Fremden entspringt. Während die Analysen des ersten Teils theoretisch, des zweiten Teils thematisch um das Exil angelegt sind, widmet sich Teil drei den narrativen und ästhetischen Verfahren der „texte migratoires“ einer „littérature ‚française’“. Gefragt wird, im Anschluss an Manfred Schmeling, nach „Poetiken der Hybridität“ (15). Die hier versammelten Artikel kommen dabei zu interessanten Ergebnissen mit Blick auf die Schreibverfahren einer „littérature ‚migratoire’“. Dazu gehören, entsprechend einer der Grunderfahrungen des Fremd-Seins, die Distanz (Kristeva), und zwar sowohl gegenüber dem Eigenen als auch dem Fremden; in den Texten manifestiert sich diese Distanz beispielsweise durch humoristische Verfahren und Ironie (vgl. dazu die Studien von Brahimi, u.a. zu A. Waberi, und von Mertz-Baumgartner zu Fatou Diome). Vorherrschend sind des Weiteren literarische Verfahren der Dopplung bzw. ihrer Transzendierung wie Susanne Gehrmann für Texte von Calixthe Beyla aufzeigt. Geiser arbeitet anhand des Werks von N. Bouraoui eine „écriture de la spirale“ heraus und stellt eine Verbindung zu Konzepten der créolisation in der antillanischen Literatur her. Im abschließenden vierten Teil des Bandes schließlich steht mit der Frage nach der Erinnerung und dem Vergessen/ Verdrängen ein zentraler Aspekt einer Literatur der „auteurs migrants“ im Vordergrund. Mit den Analysen zum algerischen und in Frankreich lebenden Autor und Cinéasten Mehdi Charef (Lüsebrink), dem Frankoalgerier Pélégri (Gilzmer) sowie zu Repräsentationen der Kindheit im Werk von Dib, Cixous und Sebbar (Schreiber) legen die Studien den Schwerpunkt auf die (konfliktreichen) Beziehungen zwischen Algerien und Frankreich. Dabei geht es nicht zuletzt um Repräsentationen der Geschichte, die, so der Tenor von Lüsebrinks und Gilzmers Analysen, im Sinne einer „histoire croisée“, einer shared history neu gelesen werden müssen. Die Konfrontation mit der Perspektive des Anderen wird somit zum Auslöser, die „unilateréralité mémorielle“ (16) infrage zu stellen. Zu resümieren bleibt somit, dass die Hrsg. mit ihrem Band einen wichtigen Beitrag zur Frage nach einer Handhabung des Begriffspaars littérature française/ littérature francophone liefern; und dies gerade, indem die theoretischen Reflexionen 243 Comptes rendus des Bandes einschließlich der einleitenden Überlegungen der Hrsg. weniger abgeschlossene Antworten liefern als diese aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchten und somit Ausgangs- und Anknüpfungspunkt weiterer Forschungen in diesem hoch aktuellen Feld sind. Durch die beeindruckende Breite der analysierten Texte und Autoren gelingt es, die Diversität dessen aufzeigen, was heutzutage eine littérature française ausmacht. Französische Literatur, und man ist nach der Lektüre der überzeugenden Analysen geneigt, die das Adjektiv qualifizierenden Anführungszeichen nicht (mehr) zu setzen, ist nur zu verstehen als kulturell heterogene Kulturproduktion; sie ist anzusiedeln in einem espace interstitiel, d.h. zwischen (des in sich schon diversen) ‚Frankreich’ und China, Vietnam, Kameroun, Algerien, Kanada, Russland usw. Dieser ist z.B. auszumachen an den vielfältigen Übersetzungsprozessen, die nicht aufgehen, die Risse und Reibungen hervorrufen und die in den Texten bewahrt werden. Wenn Doris Eibl daher für die Romane Sijies konstatiert, diese seien „truffés de ces nouveaux signes identitaires issus de l’interpénétration des deux langages culturels“ (63), so gilt dies für die anderen Texte des Bandes gleichermaßen. Elke Richter (Bremen) ISABEL ÜBERHOFF: SPURENSUCHE. POETIK DER ROMANE VON JEAN ECHE- NOZ, HILDESHEIM/ ZÜRICH/ NEW YORK: GEORG OLMS VERLAG 2007, 226 S. Spätestens seit dem Erhalt des ‘Prix Goncourt’ für seinen Roman Je m’en vais im Jahre 1999 zählt Jean Echenoz zu den wichtigsten französischen Erzählern der Gegenwart. Die Rezeption seines nach dem Erstling Le Méridien de Greenwich (1979) mittlerweile zehn Romane und weitere Prosatexte umfassenden Werkes lief jedoch nur zögerlich an und bleibt holprig. Zu unvertraut sind den Lesern die recht eigenartigen Versatzstücke der Texte: banalste Handlungen, anmutige bis skurrile Stilpirouetten, die Vorliebe der Erzähler für fachspezifisches Vokabular, eine immer anwesende aber scheinbar ziellos verpuffende Ironie, intermediale Zitierspiele oder auch die von Roman zu Roman wechselnde Simulation und Parodie narrativer Gattungen (Kriminalroman, Spionageroman, Abenteuerroman, Science-Fiction usw.). Echenoz’ Erzähler führen den Leser immer wieder durch ein facettenreiches Labyrinth. Da findet er sich in langen Gängen klassischer Gradlinigkeit, präziser naturwissenschaftlicher wie technischer Details oder Vertrauen erheischender Puzzlesteine imitierter Gattungen wieder. Er begegnet desillusionierten, eine trauernde Auszeit nehmenden Protagonisten, die auch gerne mal in kalter sprich ‘neoliberaler’ Gleichgültigkeit verharren. Und plötzlich führt der Erzähler seine Leser auf der nächsten Seite ganz unverhofft unter kurvenreiche Bögen barocker Verspieltheit und entzündet ein erzählerisches Feuerwerk. Die Texte sind dem gemäß nur schwer übersetzbar und bleiben bis heute hierzulande recht erfolglos oder