eJournals lendemains 35/138-139

lendemains
0170-3803
2941-0843
Narr Verlag Tübingen
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2010
35138-139

(Post-)Moralistisches Erzählen: Michel Houellebecqs Les particules élémentaires

2010
Jörn Steigerwald
ldm35138-1390191
191 Arts & Lettres Jörn Steigerwald (Post-)Moralistisches Erzählen: Michel Houellebecqs Les particules élémentaires 1 Die aktuellen Diskussionen um den Menschen als anthropologisches, soziales und biologisches Wesen, so unterschiedlich, ja tendenziell gegenläufig sie auch sind, verdeutlichen vor allem eins: die grundsätzliche Gebundenheit jedes Wissens vom Menschen an die zugrunde gelegte Darstellung des Menschen, mit der das Menschenwissen erst eigentlich produziert wird. Diese historisch seit der Etablierung der neuzeitlichen Anthropologien durchgehende Bindung des Menschenwissens an dessen Darstellung potenziert sich indes aktuell dadurch, dass der Mensch selbst zum Ort gentechnologischer Eingriffe wird, wodurch das Wissen vom und die Darstellung des Menschen grundlegend neuen Bedingungen unterliegen. 2 Besonders evident wird dies, wenn in der Philosophie vom ‚Menschenpark’ 3 gesprochen wird oder in der Anthropologie der ‚Anthropos today’, 4 d.h. der heutige bzw. neue Mensch mit seinem ‚Biokapital’ 5 verhandelt wird. 6 Vor diesem Hintergrund wird der von Michel Houellebecq mit seinem Roman Les particules élémentaires provozierte und in den Medien ausgetragene Literatur- Skandal leicht verständlich, da er vorderhand ein mehr als düsteres Menschenbild präsentiert, in dem der Untergang unserer depravierten Gesellschaft zur Darstellung kommt, die in der vermeintlichen Utopie einer gentechnisch normierten schönen neuen Welt mündet. 7 Nochmals radikalisiert wird diese Negativsicht auf eine deformierte Gesellschaft im Roman dadurch, dass eine mehrfache Reflexion des Menschen als tendenziell Glück suchendes, aber faktisch rein sexuell reproduktives Wesen integriert wird. 8 Das ernüchternde bzw. skandalöse Ergebnis dieser Reflexionen ist dementsprechend der Befund, dass wir in einer Welt der Indifferenz wenn nicht Grausamkeit leben, in der alle „sentiments d’amour, de tendresse et de fraternité humaine“, d.h. alle Gefühle der Liebe, Zärtlichkeit und menschlichen Brüderlichkeit verschwunden sind. 9 Gleichwohl ist zu beachten, dass in Houellebecqs Roman weniger ein bestimmtes Modell des Menschenwissens zur Darstellung kommt und mehr von der bewusst inszenierten Konkurrenz von spezifischen Modellen des Menschenwissens zu sprechen ist. Die genannte Etikettierung der Particules élémentaires als Skandalroman ist demnach unter literatursoziologischen Gesichtspunkten zunächst plausibel, doch zeigt sich in kulturhistorischer und kulturwissenschaftlicher Perspektive, dass dieser Roman eine deutlich höhere Komplexität aufweist, die es in stärkerem Maße zu beachten gilt, als dies bisher geschehen ist. 10 Daher möchte ich im Weiteren eine Lektüre der Particules élementaires als literarischer Anthropologie vorlegen, um deren kritische Reflexion zeitgenössischer Darstellungen des Menschenbildes im Medium des Romans zu verfolgen. Dafür sei die These zugrunde gelegt, 192 Arts & Lettres dass in Houellebecqs Roman die Verhandlung von konkurrierenden Menschenbildern die Grundlage bildet, um einen mehrfachen moralistischen Blick in Szene zu setzen, dessen Fokus auf der Reflexion des Zusammenspiels von Beobachtung, Darstellung und Wissen vom Menschen liegt. Die zu diskutierende These lautet folglich, dass der moralistische Blick der Erzählerfiguren herausstellt, dass die Formung eines Menschenbildes nicht nur auf der Beobachtung des Menschen aufbaut, sondern auch bzw. vor allem mit dem Eingriff in das Menschenbild einhergeht. 11 Um diese These zu plausibilisieren werde ich in einem ersten Schritt den Inhalt und die Struktur des Romans vergegenwärtigen, um dann in einem zweiten Schritt den moralistischen Blick auf die romanesken Menschenbilder systematisch herauszuarbeiten, bevor ich abschließend in einem dritten Schritt die (Neu-)Begründung der Moralistik im Roman als basalem Reflexionsmodell zeitgenössischer literarischer Anthropologien und damit auch als ein Paradigma des Erzählens im französischen Gegenwartsroman analysiere werde. 12 1. Inhalt und Struktur des Romans Im Zentrum der Handlung stehen zwei Halbbrüder, der Molekularbiologe Michel Djerzinski und der schriftstellernde Lehrer Bruno Clément, die beide von ihrer schönen, hedonistischen Mutter den Großmüttern väterlicherseits übergeben wurden, um von diesen erzogen zu werden. Während der Ältere, Bruno, nach dem Tod der Großmutter die Hölle des Internats durchlebte, bevor er das Studium der Philosophie aufnahm, um als weitgehend frustrierter Lehrer zu enden, hatte der Jüngere, Michel, eine ruhige, geradezu beschützte Kindheit und Jugend, die er vorzugsweise mit naturwissenschaftlichen Experimenten verbrachte. Doch nicht nur ihr Interesse für die Humanresp. Naturwissenschaften unterscheidet beide, auch ihr Umgang mit dem anderen Geschlecht weist deutliche Differenzen auf: Bruno verspürte von Anfang an einen starken sexuellen Drang, den er jedoch in der Pubertät kaum ausleben konnte. Erst im Studium ändert sich diese Situation deutlich, da er ab diesem Zeitpunkt seine Sexualität soweit als möglich ausagiert, ohne jedoch wirkliche Befriedigung zu erlangen. Michel hingegen wird als sexueller Asket dargestellt, insofern seine soziale Inkompetenz im Umgang mit Anderen als logische Konsequenz seiner wissenschaftlichen Reflexionen stilisiert wird. Darüber hinaus wird er im Prologue als vorzüglicher Repräsentant der ‚troisième mutation métaphysique’, der dritten metaphysischen Wandlung, eingeführt, die den wohl radikalsten Wandel in der Geschichte des Menschen bewirkte, auch wenn er weniger aufgrund seiner eigenen Leistungen und mehr aufgrund seiner persönlichen Lebensumstände als Paradigma für die dritte ‚mutation’ gelten kann. 13 Folglich entsteht gerade aus dieser sexuellen Askese heraus Michels Drang, eine neue soziale und vor allem neue biologische Ordnung der Menschen herbeizuführen, in der alle Menschen das verbriefte Versprechen haben, fürderhin nicht mehr unglücklich zu sein. 14 Um dies zu bewerkstelligen, führt er eine Vielzahl an zu- 193 Arts & Lettres nächst praktischen, späterhin theoretischen Experimenten durch, die er in den so genannten Clifden Notes zusammenfasst, dem zukünftigen Manifest einer neohumanen Gesellschaft. Darin findet die schöne neue Gesellschaft die theoretische Grundlegung ihrer eigenen, praktischen Reproduktion, einer Reproduktion indes, die erst nach dem Tod von Michel 2009, genauer: ab dem Jahr 2029 unseres Jahrtausends vonstatten geht, wodurch die desaströse Realität der beiden Protagonisten in den 1990er Jahren mit derjenigen der schönen neuen Welt kontrastiert. Allerdings gilt es zu beachten, dass diese Handlungen von einer Erzählinstanz präsentiert werden, die selbst auf bemerkenswerte Weise in die Geschichte integriert ist: Wie insbesondere der Prologue und der Epilogue verdeutlichen, haben wir eine Erzählinstanz vor uns, die ein Bewohner jener schönen neuen Welt ist, die erst durch die Forschungen Michels möglich geworden ist. 15 Dadurch haben wir narratologisch gesehen drei Ebenen, die durch Ana- und Prolepsen miteinander verbunden sind: Erstens die Ebene der Handlung, die Ende der 1990er Jahre spielt: Diese wird zum einen durch Analepsen um die früheren Erlebnisse der Protagonisten und zum anderen durch Metadiegesen um deren Beobachtungen erweitert. Zweitens die Ebene der Intradiegese, die exakt auf das Jahre 2079 festgelegt ist und damit eine Prolepse bildet: Von hier aus beobachtet und kommentiert die Erzählinstanz der schönen neuen Welt die Lebensläufe der Protagonisten, wodurch diese zugleich als Exempla der tendenziell anachronistisch überformten Narration der Erzählinstanz fungieren. 16 Und drittens die Ebene der Extradiegese, die sich historisch nur annäherungsweise bestimmen lässt, die von hier aus sowohl die Handlung der Protagonisten als auch die Narration der interdiegetischen Erzählinstanz gestaltet. 17 Aus dieser mehrfachen Verschachtelung von Zeit- und Darstellungsebenen ergibt sich folgende Erzählsituation: Auf allen Ebenen werden Menschenbilder zur Darstellung gebracht, die miteinander konkurrieren um die Deutung des beobachteten Menschen. Die Beobachtung des Menschen dient folglich zum einen der Legitimierung der vorgelegten Beschreibung und offenbart zum anderen, dass der Blick auf den Menschen nicht nur an eine spezifische Beobachterposition gebunden ist, sondern vor allem einen Eingriff in das Menschenbild bezeichnet. 2. Die moralistische Dimension des Romans Versteht man allgemein die Moralistik als eine Darstellung des Menschen, die aus der Beobachtung des sozialen Verhaltens des Menschen resultiert, dann erkennt man leicht zwei Konstituenten der Moralistik, die im vorliegenden Text von zentraler Bedeutung sind: Zum einen die Betonung der Beobachtung, der ‚observation’, als einem an wissenschaftlichen Modellen orientierten Beschreibungsverfahren und zum anderen die Einbindung der Beobachtung in ein Feld, das durch die Eckpunkte von Anthropologie, Medizin und Literatur markiert wird. Daraus folgen wiederum zwei wichtige Konsequenzen: Zum einen interessiert der Mensch in der Mo- 194 Arts & Lettres ralistik nur, insofern er Repräsentant eines spezifischen sozialen Raumes oder eines Habitus ist, aber nicht insofern es sich bei ihm um ein Individuum handelt. Dies wird insbesondere bei der Analyse der menschlichen Gefühle deutlich, die nie als persönlicher Ausdruck, sondern stets als Kennzeichen einer spezifischen gesellschaftlichen Realität angesehen werden, wie Chamforts berühmte Maxime „L’amour, tel qu’il existe dans la société, n’est que l’échange de deux fantaisies et le contact de deux épidermes“ verdeutlicht. 18 Bemerkenswert hierbei ist sowohl die Doppelung der Fin-de-siècle-Diagnose, die sich laut Chamfort, aber auch gemäß Bruno besonders eindrücklich in der Depravierung der Gefühlskultur ihrer jeweiligen Gesellschaft zeigt, als auch der Fokus auf die daraus resultierende Codierung von Intimität, die eines indes gerade nicht mehr zur Entfaltung kommen lässt: die Liebe als Grundlage menschlicher Gefühle und als Movens der sozialen Praxis. Zum anderen fokussiert die Moralistik die Reflexion von Darstellungsformen des Menschen und zieht dadurch implizit eine Metaebene in die Repräsentation ein, insofern sie darauf insistiert, dass jeder Darstellung des Menschen grundsätzlich das Problem der Darstellung des Wissens vom Menschen inhärent ist. Denn jede Darstellung des Menschen perspektiviert ein spezifisches Wissen vom Menschen, das jedoch mit anderen Darstellungen vom Menschen konkurriert, die ein ganz anderes Wissen von diesem produzieren können, wie etwa La Rochefoucauld in der Maxime 104 hervorhebt: „Les hommes et les affaires ont leur point de perspective. Il y en a qu’il faut avoir de près pour en bien juger; et d’autres dont on ne juge jamais si bien que quand on en est éloigné“. 19 Dergestalt kann man weder für den Menschen als Anthropologikum noch für seine soziale Praxis einen fixen, da Objektivität garantierenden Standpunkt setzen, vielmehr gilt es sich bewusst zu machen, dass beide auf je eigene Weise eine Pluralität von Gesichtpunkten erfordern, um den Menschen als Ganzes zu erfassen, ohne indes jemals objektiv den ‚ganzen Menschen’ beschreiben zu können. Moralistik meint demnach allgemein Beobachtung des Menschen und Analyse der Darstellungen des Menschen. Moralistik in den Particules élémentaires bedeutet darüber hinaus zweierlei: Zum einen setzt sie auf der Ebene der Erzählung exakt jene die Moralistik strukturell kennzeichnende Pluralität der Perspektiven um, indem sie diese in ein multiperspektivisches Erzählen überführt, wodurch allerdings auch die Frage nach der Glaubwürdigkeit, der ‚reliability’ der Erzählinstanz sowie des Erzählten gestellt wird, was gerade hinsichtlich des Status der intradiegetischen Erzählinstanz von Bedeutung ist. 20 Zum anderen stellt sie als literarische Anthropologie explizit aus, dass die perspektivisch gebundene Formung eines Menschenbildes immer auch den strategischen Eingriff in dieses bedeutet, wodurch die Moralistik im Roman zugleich zum Analogon der aktuellen Gentechnologie wird, die sich in der historisch erstmaligen Situation befindet, den Menschen gentechnisch verändern zu können. Diese Perspektivik der moralistischen Darstellung wird im Roman indes nochmals dadurch radikalisiert, dass drei historische, in Abständen von jeweils ca. 70 Jahren aufeinander folgende Ebenen zueinander in Bezug gesetzt werden, die die 195 Arts & Lettres Konkurrenz der Beobachtungen zwar vorderhand in eine teleologische Narration integrieren, die das Gegeneinander der Menschenbilder vermeintlich aufhebt, die sie hingegen de facto nur umso deutlicher ausstellt. Augenfällig wird dies in der von der intradiegetischen Erzählinstanz präsentierten dreiteiligen historischen Abfolge, die als immanente Teleologie gestaltet ist, insofern zum einen die vorgelegte Chronologie der Ereignisse als logische aufeinander aufbauende Stufenfolge präsentiert wird und zum anderen diese Folge selbst jene dritte metaphysische Wandlung vorstellt, von der im Prologue gesprochen wird: Diese Wandlung mündet indes konsequenter Weise in der schönen neuen Welt und d.h. auch: in der schönen neuen Erzählinstanz und findet folglich dort auch ihr Telos: den neohumanen Menschen. In Szene gesetzt wird diese dreiteilige Abfolge durch die Zusammenstellung von drei paradigmatischen (Brüder-)Paaren, den Brüdern Julian und Aldous Huxley, den Halbbrüdern Bruno und Michel sowie der nicht weiter benannten Erzählinstanz und dem ‚Erfinder’ der schönen neuen Welt, Frédéric Hubczejak, die in eine doppelte Repräsentationslogik eingebunden sind: Erstens sind die Paare nach dem mythologischen Modell von Epimetheus und Prometheus gestaltet, wobei Julian Huxley, Michel Djerzinski und Frédéric Hubczejak als prometheische Figuren agieren, da sie die metaphysische Wandlung tatkräftig umsetzen, während Aldous Huxley, Bruno Clément und die intradiegetische Erzählinstanz als epimetheische Figuren auftreten, insofern sie diese nur beobachten. 21 Damit verbunden ist eine weitere Unterscheidung, die bereits Epimetheus und Prometheus kennzeichnete, die jedoch im Roman nochmals verstärkt wird. Denn gemäß dem antiken Mythos unterscheiden sich die beiden Brüder nicht nur hinsichtlich ihres reflexiven bzw. agierenden Habitus, sondern auch hinsichtlich ihrer zeitlichen Verortung zu den Handlungen: Das Nachdenken des Epimetheus’ erhält dadurch eine doppelte Valenz, die eben auch der Haltung von Aldous Huxley, Bruno und der Erzählinstanz inhärent ist, da ihr Nachdenken sowohl eine Reflexion meint als auch ein Denken, das erst nach den Ereignissen einsetzt, mithin eine temporale Verschiebung bezeichnet. Zweitens liegt der historischen Abfolge in ihrer narrativen Darstellung durch die intradiegetische Erzählinstanz ein teleologisches Denken zugrunde, bei dem wissenschaftliches Handeln und erzählerische Gestaltung zusammenwirken. Aldous Huxley setzte Ende der 1920er Jahre das eugenische Wissen, für das sein Bruder Julian in der Praxis einstand, in seinem Roman Brave New World als Zukunftsutopie um, während Brunos moralistische Gesellschaftsbeschreibung Ende der 1990er Jahre die wissenschaftlichen Untersuchungen Michels begleiten, die den Wendepunkt zur neohumanen Gesellschaft markieren, und dieses Projekt zugleich sozial-anthropologisch legitimieren. 22 Die moralistische Narration der intradiegetischen Erzählinstanz hingegen erfolgt aus der Realität gewordenen Huxleyschen Utopie, ohne indes eine neue Utopie zu modellieren. Vielmehr präsentiert die Erzählinstanz ihre Narration als Dank an jene Menschen, ohne deren Wirken die eigene Realität nicht möglich gewesen wäre; auch wenn bzw. gerade weil diese Pra- 196 Arts & Lettres xis zur Verabschiedung des alten Menschen führte und zugleich die Begründung eines schönen neuen Humanum ermöglichte. 23 Die mehrfache moralistische Prägung des Romans, die aus dem Zusammenspiel von Anthropologie, Literatur und Medizin resultiert und in der Modellierung von Menschenbildern anschaulich wird, zeigt sich aber auch bzw. vor allem in den Beschreibungen der Protagonisten, wie ich im Weiteren anhand zweier paradigmatische Beispiele herausarbeiten möchte: Zum einen dem Zusammenspiel von Experiment und Beobachtung und zum anderen der narrativ inszenierten Opposition von moralistischen Beschreibungsmodellen. Zunächst zum Zusammenspiel von Experiment und Beobachtung. 24 Dieses wird von den beiden Protagonisten Bruno und Michel geradezu personifiziert, stehen diese doch mit ihrer Person für die naturbzw. geisteswissenschaftliche Praxis der Beschreibung des Menschen ein. Dabei wird deutlich, dass Experiment und Beobachtung zwar systematisch zu unterscheiden sind, sie jedoch in der Praxis meist interagieren. Sinnfällig wird dies im dritten Abschnitt der Deuxième Partie vorgestellt: Zu diesem Zeitpunkt durchlebt Michel eine Lebenskrise, in der er frustriert von den für ihn sinnlosen Klonversuchen jedes praktische Experiment aufgegeben hat und sich nur noch auf die Beobachtung seiner sozialen Umwelt konzentriert: Depuis des années, Michel menait une existence purement intellectuelle. Les sentiments qui constituent la vie des hommes n’étaient pas son sujet d’observation; il les connaissait mal. La vie de nos jours pouvait s’organiser avec une précision parfaite; les caissières du supermarché répondaient à son bref salut. Il y avait eu, depuis dix ans qu’il était dans l’immeuble. Parfois un couple se formait. Il observait alors le déménagement; dans l’escalier, des amis transportaient des caisses et des lampes. Ils étaient jeunes, et, parfois, riaient. Souvent (mais pas toujours), lors de la séparation qui s’ensuivait, les deux concubins déménageaient en même temps. Il y avait, alors, un appartement libre.25 Die intradiegetische Erzählinstanz weist hier einleitend darauf hin, dass Michel seit Jahren eine rein intellektuelle Existenz lebt, die dazu führte, dass die Gefühle, die das Leben der Menschen prägen, nicht sein ‚sujet d’observation’, sein Beobachtungsgegenstand seien. Im nächsten Satz wird dem gegenüber darauf abgehoben, dass sich das Leben durchaus mit einer perfekten Präzision organisieren lässt, was anhand der Interaktion von Michel und den Supermarktmitarbeiterinnen vorgestellt wird; auch wenn diese kaum als ein zwischenmenschliches Miteinander angesehen werden kann. 26 Gleichwohl setzt die Erzählinstanz im dritten Satz damit ein, dass sie eine spezifische Form der ‚observation’ für Michel namhaft macht, die sich in der narrativen Darstellung als moralistische Beobachtung herauspräpariert: Denn er beobachte die Mobilität bzw. die Verhaltensweise der Singles und Paare seiner unmittelbaren Umgebung, was in den nächsten beiden Sätzen beschrieben wird. Schließlich beendet die intradiegetische Erzählinstanz den Abschnitt mit den Fragen: „Que conclure? Quelle interprétation donner à tous ces comportements? C’était difficile.“ 27 197 Arts & Lettres Dieser scheinbare Lakonismus der Aussage wird im Weiteren dadurch aufgehoben, dass die Erzählinstanz diese Fragestellung als uninteressant für Michel kennzeichnet, der sich nicht mit Gefühlen, sondern allein mit Fragen strukturierter Verhaltensweisen beschäftigt, um daraus eindeutige Muster bzw. Gesetzmäßigkeiten abzuleiten. 28 Was hier scheinbar beiläufig formuliert wird, enthält dadurch seine besondere Bedeutung, dass die Kommentare der Erzählinstanz explizit den Comteschen Positivismus aufgreifen, der durch Zitate vor den Kapiteln sowie durch den Verweis auf die ‚mutation métaphysique’ im Prologue von Anfang des Romans an aufgerufen wird. Die Erzählinstanz nimmt hier folglich die von Auguste Comte in seinem Cours de philosophie positive vorgelegte Argumentation auf, dass der Gegenstand wissenschaftlicher Erkenntnis nur die beobachtbaren Phänomene sein können, da allein diese die Basis bilden, um die Gesetzmäßigkeiten, denen die Erscheinungen unterliegen, herauszuarbeiten. 29 Der Positivismus begreift demnach die Rekonstruktion von Zusammenhängen, die als Gesetzmäßigkeiten zu formulieren sind, als die Aufgabe der Wissenschaften. 30 Allerdings, und damit unterscheidet sich Michel deutlich von August Comte, ist der Positivismus am Modell der Naturwissenschaft ausgerichtet, während sich Michels Beobachtung am Modell der Moralistik orientiert, insofern er die Beobachtung des menschlichen Verhaltens zum Ausgangspunkt nimmt. 31 Dadurch ergibt sich ein mehrstufiges Modell: Dem praktischen Experiment folgt bei Michel die moralistische Beobachtung, die zunächst wieder zum wissenschaftlichen Experiment zurückführt, das dann erneut in Richtung Gedankenexperiment der Clifden Notes verlassen wird. 32 Hinzu kommt seine grundsätzliche Distanz gegenüber seiner Umwelt, die zwar keine emotionale Nähe zulässt, ihm aber eine herausgehobene Beobachterposition garantiert. Besonders auffällig wird dies im 15. Abschnitt der Première Partie, der den gemeinsamen Sommeraufenthalt in einem Hippiecamp von Bruno, Michel und Annabelle, der besten Freundin von Michel, zum Inhalt hat. Inmitten der erotisch aufgeladenen Szenerie des Sommercamps, die tendenziell eine Verbindung mit Annabelle begünstigen könnte, wird sich Michel seines Sonderstatus als emotional bindungsunfähiger Mensch bewusst, so dass er sich nicht nur immer mehr isoliert, sondern auch bewusst seine Abkapselung von Annabelle in Kauf nimmt. Das Ergebnis des Sommercamps ist sein recht abrupter Abschied aus dem Lager und sein Entschluss, sich in Zukunft ausschließlich der Wissenschaft zu widmen. Wichtiger ist indes die Darstellung der Erzählinstanz, die diese bewusste Verabschiedung Michels aus der Gesellschaft durch eine interne Fokalisierung modelliert: Il [i.e. Michel] eut soudain le pressentiment que sa vie entière ressemblerait à ce moment. Il traverserait les émotions humaines, parfois il en serait très proche; d’autre connaîtraient le bonheur, ou le désespoir; rien de tout cela ne pourrait jamais exactement le concerner ni l’atteindre. A plusieurs reprises dans la soirée, Annabelle avait jeté des regards dans sa direction tout en dansant. Il avait souhaité bouger, mais il n’avait pas pu; il avait eu la sensation très nette de s’enfoncer dans une eau glacée. Tout, 198 Arts & Lettres pourtant, était excessivement calme. Il se sentait séparé du monde par quelques centimètres de vide, formant autour de lui comme une carapace ou une armure.33 Gemäß der Beobachtung der Erzählinstanz interessieren Michel nicht die Gefühle als Intimität produzierende Affekte, wie in der ersten analysierten Szene hervorgehoben wird, da sie ihn als Individuum nicht betreffen, wie in dieser Szene anhand des jugendlichen Protagonisten verdeutlicht wird. Dadurch wird jedoch zweierlei geleistet: Zum einen wird eine psychologische Erklärung für Michels Kontaktunfähigkeit bzw. vorsichtiger formuliert: seiner weitgehende Abgeschlossenheit von seiner Umwelt und seine damit einhergehende Einsamkeit gegeben, zum anderen wird indes gerade dadurch sein moralistischer Blick begründet, der ihm erlaubt, seine Umgebung so distanziert wahrzunehmen, dass er das soziale Verhalten seiner Mitmenschen präzise analysieren kann. 34 Dieser Logik folgend versucht der Wissenschaftler Michel auch nicht die Gefühle des Menschen zu studieren, vielmehr richtet er seinen Fokus, wie seine weitere Geschichte zeigt, auf die menschliche Sexualität, um die Grundlage für das gentechnologische Modell einer wahrhaft befreiten Intersubjektivität zu schaffen. Bemerkenswert ist hierbei indes, dass er allein die reproduktionstechnologischen Möglichkeiten für eine schöne neue Welt analysiert, ohne dass ihn jedoch deren Umsetzung in der Praxis des Labors oder gar der medizinischen Technik interessiert. Experiment und Beobachtung sind für ihn folglich nur auf der systematischen Ebene zu unterscheiden, sie bilden auf der praktischen Ebene jedoch eine notwendige Ergänzung, um die technologische Produktion von (Menschen-)Wissen zu leisten. Für die Erzählinstanz ist hingegen seine moralistische Beobachtung selbst Kennzeichen einer doppelten Bewegung, die zum einen seine Distanz zu seiner Gesellschaft herausstellt und zum anderen seine Hinwendung zur Wissenschaft, und d.h. genauer: zur Modellierung eines neuen, glücklicheren Menschen motiviert. Dementsprechend beschreibt die Erzählinstanz Michel als Exemplum eines gescheiterten Menschenbildes, das indes bei ihm noch dadurch produktiv wirkt, dass er das Scheitern nicht nur erkennt, sondern auch die notwendigen Konsequenzen daraus zieht, so dass er die wissenschaftliche Grundlage für die dritte metaphysische Wandlung, die Geburt des schönen neuen Menschen schafft. Dadurch werden Michels Experimente jedoch erneut in eine moralistische Erzählung überführt, um die Genealogie der schönen neuen Welt zu begründen. 35 Damit komme ich zum zweiten Beispiel, der Opposition von sozialen Beschreibungsmodellen. Ein prägnantes Beispiel hierfür bildet die Abfolge der Kapitel 15 und 16 der Deuxième Partie, die mit L’Hypothèse MacMillan und Pour une esthétique de la bonne volonté überschrieben sind und konträre Deutungen des Menschen auf der Ebene der Handlung präsentieren. Die Hypothese von MacMillan baut auf der Beobachtung satanistisch-sadistischer Praktiken auf, die von einer Romanfigur, David Di Meola, zuerst in Frankreich und dann in Kalifornien ausgeübt werden, und lautet, dass wir uns aktuell in einer dekadenten, ihrem Untergang geweihten Gesellschaft befinden, in der sich die Menschen nur noch am Leiden an- 199 Arts & Lettres derer befriedigen, da sie selbst nicht mehr fähig sind, positive bzw. glückliche Erlebnisse zu erfahren oder gar zu genießen. Di Meola fungiert innerhalb dieser Hypothesenbildung als Personificatio dieser Fin-de-siècle-Gesellschaft, die sich willentlich selbst zersetzt, weil sie keine moralischen Werte mehr anerkennt. 36 Diese MacMillan-Hypothese berichtet Bruno seiner Lebensgefährtin Christiane, kurz bevor sie nach Cap d’Agde in den Urlaub fahren, um dort die Freiheiten des Swinger-Daseins auszuleben. Die eigentliche Opposition der Menschenbeobachtungen resultiert hingegen aus Brunos Essay, der die Erlebnisse vor Ort zum Anlass nimmt, um eine sozial-anthropologische Analyse zu leisten, die den Menschen als positives Lust-Wesen und Cap d’Agde als präferierten Raum eben dieses Subjekts beschreibt. Dergestalt werden zunächst zwei konkurrierender Darstellungen ineinander gespielt, auch wenn sie systematisch auf unterschiedlichen Ebenen liegen und narratologisch eine Stufenfolge bilden. Auf der Ebene der Handlung findet sich die Konkurrenz der Hypothesen von MacMillan und Bruno, die auf höchst konträre Weise die Gesellschaft ihres Fin-de-Siècle deuten: Liest sie Ersterer als Indikator für den Untergang des Abendlandes, sieht Letzterer in Cap d’Agde die Heterotopie einer epikureisch fundierten sozialen Praxis, bei der allen alle Möglichkeiten offen stehen, sie jedoch nicht notwendiger Weise auch genutzt werden müssen, es mithin keine Pflicht zur - auch sexuellen - Aktivität gibt. Interessant ist nun, dass die Urlaubs-Anekdote Brunos auf der Ebene der Erzählung auf zweifache Weise ausgestaltet wird, insofern die Erzählinstanz von diesem Urlaub als Exemplum indifferenter Sexualität berichtet, während Bruno den Urlaub zum Anlass nimmt, eine moralistische Beschreibung von Cap d’Agde als Modell einer Ästhetik des guten Willens vorzulegen, die er zudem bei der Zeitschrift Esprit zur Publikation einreicht. Auf der Ebene der Erzählung führt die Erzählinstanz somit eine dritte Deutung des Menschen ein, insofern sie die - vermeintliche - Realität des Urlaubs von Bruno und Christiane als Kennzeichen des historischen Verlusts der menschlichen Gefühle von Liebe und Zärtlichkeit beschreibt: Elle [i.e. la station Cap d’Agde] constitue en définitive le lieu d’une proposition sociologique particulière, d’autant plus surprenant qu’elle semble trouver ses repères en dehors de toute charte préétablie, sur la simple base d’initiatives individuelles convergentes. C’est du moins en ces termes que Bruno introduisait un article où il faisait la synthèse de ses deux semaines de villégiature, intitulé ‘L ES DUNES DE M ARSEILLAN -P LAGE : POUR UNE ESTHETIQUE DE LA BONNE VOLONTE .’ Cet article devait être refusé de justesse par la revue Esprit.37 Die ironische Distanznahme der intradiegetischen Erzählinstanz ist hier nur allzu deutlich zu sehen, was sich sowohl in der Formel ‚c’est du moins en ces termes’ als auch in dem verwendeten Begriff der ‚villégiature’ zeigt. Dadurch wird bereits vor der Darstellung Brunos eine Perspektive eingenommen, die den Leser zu einer kritischen Distanznahme zu dem Folgenden aufruft, auch wenn bzw. gerade weil die Beschreibung von Cap d’Agde als positivem Sozialmodell einen Kontrapunkt 200 Arts & Lettres zur Beschreibung der 1990er Jahre durch die intradiegetische Erzählinstanz bildet, wodurch indes offensichtlich wird, dass die vorderhand moralistische Perspektive dieser Erzählinstanz tendenziell eher als moralische Perspektive zu verstehen ist. 38 Damit wird die Erzählinstanz aus der schönen neuen Welt mit in die Konkurrenz der Darstellungen des Menschen integriert, die eine Vielzahl an Menschenbildern formen. Allerdings zeigt diese Konkurrenz der Beobachtungen nur allzu deutlich, wie sehr die Beobachtung des Menschen an die Position des Beobachters gebunden ist, was dazu führt, dass willkürlich, aber unbewusst Experimentalsysteme ausgebildet werden, von denen aus Menschenbilder geformt werden, indem in das Menschenbild eingegriffen wird. 3. Die Neubegründung des moralistischen Schreibens bei Houellebecq. Versteht man unter Moralistik die Beobachtung des Menschen durch den Menschen, um ein spezifisches Menschenbild zu formen, dann muss bezüglich der Particules élémenatires von einem ‚post-moralistischen’ Erzählen gesprochen werden, da es sich bei der intradiegetischen Erzählinstanz um einen Menschen handelt, der bereits der genetisch veränderten schönen neuen Welt angehört und sich damit vom Humanum, wie wir es bis heute kennen, grundsätzlich unterscheidet. Dieser Beobachtungsstatus hat konsequenterweise Auswirkungen auf seine Beobachtungen und vor allem auf sein dargestelltes Menschenbild, insofern ihm die Beschreibung der Lebensläufe von Michel und Bruno zur Begründung der Überlegenheit seiner Gesellschaft dient. 39 Deren Scheitern im eigenen Leben bildet demnach die notwendige Voraussetzung, um das neue Leben nur umso schöner strahlen zu lassen - Post-Moralistik bezeichnet dementsprechend eine Moralistik nach dem Ende der bisherigen condition humaine. Damit einher geht die moralistische Deutung des Menschen und seiner sozialen Praxis sowie den damit möglicherweise einhergehenden Deutungsverschiebungen. Sinnfällig wird dies im eingangs des Romans konstatierten Verlust von menschlicher Brüderlichkeit, von ‚fraternité humaine’. Diese Gedankenfigur erhält dadurch ihre Prägnanz, als sie auf mehrfache Weise in die Handlung und Erzählung integriert ist: Auf der Ebene der Handlung erkennen wir eine Stufenfolge von den Brüdern Huxley über die Halbbrüder Bruno und Michel bis hin zur Erzählinstanz und Frédéric Hubczejak, die vorderhand keine Brüder mehr sind. Auf der Ebene der Erzählung bemerken wir hingegen eine chiastische Struktur, insofern den miteinander agierenden Brüdern Huxley die nebeneinander handelnden Halbbrüder Bruno und Michel folgen, die wiederum von den kongenial agierenden Promotern der schönen neuen Welt abgelöst werden. Dabei besteht die anthropologische Kippfigur der Intradiegese vorzugsweise darin, dass im Epilogue von der Erzählinstanz ein neues Konzepts der Brüderlichkeit präsentiert wird, das zugleich Resultat des neuen Menschenentwurfs ist. Denn die neue Produktion des 201 Arts & Lettres Menschen baut auf dem Modell der genetischen Reproduktion eineiiger Zwillinge auf, die nicht nur keine Sexualität zur Reproduktion mehr benötigen, sondern auch eine umfassende, da brüderliche Harmonie in die Welt bringen. 40 Der eingangs behauptete Verlust an menschlicher Brüderlichkeit Ende der 1990er Jahre gewinnt folglich allererst seine wirkliche Bedeutung vor dem Hintergrund des neuen Konzepts der Brüderlichkeit in der schönen neuen Welt und ihrer Deutungen des voraus liegenden sowie des eigenen Menschenbildes. 41 Moralistik fokussiert aber nicht nur die Beobachtung und Deutung des Menschen als soziales Wesen, sondern auch die Beschreibung solcher Beobachtungsweisen, wodurch sie einerseits eine deutliche Nähe zu wissenschaftlichen Methoden wie dem Positivismus aufweist, die aber andererseits durch ihre Gestaltung als Beobachtung in aestheticis der naturwissenschaftliche Anspruch auf eindeutige Erklärung bewusst fehlt. Doch gerade aufgrund dieses Mangels an Erklärungsmodellen kann die Moralistik die Spannung von tendenziell konträren Zuweisungen oder Erklärungen des Menschenbildes aushalten, ohne diese notwendigerweise gemäß einer vorausliegenden Theorie zu vereindeutigen. Einen solchen moralistischen Blick leistet indes weder eine der Figuren der Handlung noch die intradiegetische Erzählinstanz, wohl aber die extradiegetische Erzählinstanz, die dem Leser erst eigentlich vor Augen führt, welche Bedeutung impliziert ist, wenn man von der Formung eines Menschenbildes spricht. Dadurch wird die extradiegetische Erzählinstanz jedoch zu einem Doppelwesen, insofern sie sowohl Epimetheus als auch Prometheus ist: Als Prometheus formt sie nicht nur den Menschen, sondern sogar die Menschen und als Epimetheus reflektiert sie diese Formung des Menschen, wobei die Pointe des Romans darin besteht, dass sie das temporal verzögerte Nach-Denken des Epimetheus in ein zumindest synchrones Mit-Denken, wenn nicht gar zeitliches Vor-Denken überführt. Durch die Integration der intradiegetischen Erzählinstanz der schönen neuen Welt in die Erzählung und die Extrapolation der extradiegetischen Erzählinstanz leistet der Roman folglich zweierlei: Zum einen reflektiert er als literarische Anthropologie die in den aktuellen Anthropologien geführten Debatten um die historisch erstmals vorhandene Möglichkeit des gentechnischen Eingriffs in den Menschen und seinen damit einhergehenden aktuellen Status als Anthropos, der ein neues Menschenbild möglich macht durch die Veränderung des menschlichen Genoms. Zum anderen begründet der Roman die Moralistik neu, indem er sie an die sozialen und wissenschaftlichen Gegebenheiten der Gegenwart anbindet und diese zugleich reflexiv in seine eigene Narration integriert, indem er die Frage nach der Formung des Menschenbildes nicht einfach neu stellt, sondern angesichts der aktuellen gentechnischen Projekte dessen Modellierungsbedingungen grundlegend neu verhandelt; oder, wie der Schlusssatz des Romans provokativ formuliert: „Ce livre est dédié à l’homme“. 42 202 Arts & Lettres 1 Zitiert wird nach der Ausgabe Michel Houellebecq: Les particules élémentaires. Paris 1988. 2 Siehe hierzu beispielhaft die Studie von Lily E. Kay: Das Buch des Lebens. Wer schrieb den genetischen Code? München 2002. 3 Peter Sloterdijk: Regeln für den Menschenpark. Ein Antwortschreiben zu Heideggers Brief über den Humanismus. Frankfurt/ Main 1999. Siehe hierzu auch Rainer Rochlitz: Sloterdijk, Houellebecq et la fin de l’homme. In: ders.: Feu de la critique. Essais sur l’art de la littérature. Brüssel 2002, 89-96. 4 Paul Rabinow: Anthropos Today. Reflections on Modern Equipment. Princeton 2003 und ders.: Anthropologie der Vernunft. Studien zu Wissenschaft und Lebensführung. Frankfurt/ Main 2004. 5 Kaushik Sunder Rajan: Biokapitalismus. Werte im postgenomischen Zeitalter. Frankfurt/ Main 2009. 6 Einen guten Überblick über die aktuellen Diskussionen bietet der Sammelband Bios und Zoë. Die menschliche Natur im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit. Hg. v. Martin G. Weiß. Frankfurt/ Main 2009. 7 Zu Michel Houellebecqs Roman Les particules élémentaire sei nur verwiesen auf die folgenden Studien, die für die vorliegenden Überlegungen von besonderem Interesse waren: Marek Biénczyk: Sur quelques éléments (particuliers) de l’art romanesque. In: L’Atelier du Roman 18 (1999), 33-39; Rita Schober: Weltsicht und Realismus in Michel Houellebecqs utopischem Roman Les particules élémentaires. In: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 25 (2001), 177-211; Walburga Hülk: Mythographien des Lebens 1900-2000. Zolas Docteur Pascal und Houellebecqs Les particules élémentaires. In: Anne Amend-Söchting et al. (eds.): Das Schöne im Wirklichen - Das Wirkliche im Schönen. Festschrift für Dietmar Rieger zum 60. Geburtstag. Heidelberg 2002, 423-431¸ Wolfgang Asholt: Die Rückkehr zum Realismus? Ecritures du quotidien bei François Bon und Michel Houellebecq. In: Andreas Gelz, Ottmar Ette (eds.): Der französischsprachige Roman heute: Theorie des Romans - Roman der Theorie in Frankreich und der Frankophonie. Tübingen 2002, 93-110; Laurence Dahan-Gaida: La fin de l’histoire (naturelle): Les particules élémentaires de Michel Houellebecq. In: Tangence 73 (2003), 93-114; Sabine Van Wesemael, (ed.): Michel Houellebecq. Amsterdam, New York 2004; Uwe Lindemann: Prometheus und das Ende der Menschheit: posthumane Gesellschaftsentwürfe bei Mary Shelley, H. G. Wells, Aldous Huxley, Michael Marshall Smith, Michel Houellebecq, Peter Sloterdijk und in dem Film „Gattaca“. In: Monika Schmitz-Emans (ed.): Komparatistik als Arbeit am Mythos. Heidelberg 2004, 237-254, Ulrich Prill: Die Ausweitung der Literatur-Zone - Michel Houellebecqs Particules élémentaires zwischen Quantenphysik und Romantik. In: Joachim Leeker, Elisabeth Leeker (eds.): Text - Interpretation - Vergleich. Berlin 2005, 58-67; Heinz Thoma: ‚Amertume‘. Postmoderne und Ressentiment im Werk von Michel Houellebecq (mit Seitenblicken auf Vorläufer: Huysmans, Céline, Drieu la Rochelle)“. In: ders.: Kathrin van der Meer (eds.): Epochale Psycheme und Menschenwissen. Von Montagne bis Houellebecq. Würzburg 2005, 255-278; Andreas Woyke: ‚Melancholische Sinnsuche‘ und ‚sozio-technologische Machtbarkeitsphantasien‘ bei Michel Houellebecq - Folie für die Bewertung aktueller Zukunftsperspektiven. In: sic et non. zeitschrift für philosophie und kultur. Im netz. 7 (2006), 1-30; Julia Pröll: Das Menschenbild im Werk Michel Houellebecqs. Die Möglichkeit existenzorientierten Schreibens nach Sartre und Camus. München 2007; Sandra Berger: Comment les choses en étaient arrivées là? − Michel Houellebecq et la morale. In: Lendemains 32 (2007), Dossier: Contacts: le désir du canon. L’esthétique de la citation dans le roman 203 Arts & Lettres français/ francophone post-soixante-huitard, 136-143; Jörn Ahrens: Die Aufgabe des Sexus: Sexualität als Ennui und Reproduktionsmedizin als Erlösung in Michel Houellebecqs Roman Elementarteilchen. In: Nicolas Pethes, Silke Schicktanz (eds.): Sexualität als Experiment. Identität, Lust und Reproduktion zwischen Science und Fiction. Frankfurt/ M., New York 2008, 349-365. 8 Zu diesem Aspekt siehe besonders die Studie von Matthias Waltz: Houellebecqs Les particules élémentaires - wie man sich in einer narzisstischen Welt einrichtet. In: Gisela Febel (ed.): Paradox, oder über die Kunst, anders zu denken. Mélanges für Gerhart Schröder. Kemnat 2001, 525-534. 9 „Les sentiments d’amour, de tendresse et de fraternité humaine avaient dans une large mesure disparu; dans leurs rapports mutuels ses contemporains [i.e. de Michel] faisaient le plus souvent preuve d’indifférence, voire de cruauté.“ Houellebecq: Particules, 7. 10 Der Roman als bewusst inszenierter ‚Skandal’ prägte unmittelbar nach seiner Publikation die Rezeption in besonderem Maße. Siehe Eric Ollivier: Michel Houellebecq: porno-misère. In: Le Figaro Littéraire, 10.09.1998; François Ricard: Scandale du roman. In: L’atelier du roman 18 (1999), 73-80; Eric Fassin: Le roman noir de la sexualité française. In: Critique 56 (2000), 604-616 und zusammenfassend Jochen Mecke: Der Fall Houellebecq: Zu Formen und Funktionen eines Literaturskandals. In: Giulia Eggeling, Silke Segler-Meßner (eds.): Europäische Verlage und romanische Gegenwartsliteraturen. Profile, Tendenzen, Strategien. Tübingen 2003, 194-217. 11 Zur Bedeutung der Beobachtung für den moralistischen Blick sei nur verwiesen auf den Sammelband L’optique des moralistes de Montaigne à Chamfort: Actes du colloque international de Grenoble, organisé par l’Equipe RARE (Rhétorique et Ancien Régime), Université Stendhal, 27-29 mars 2003. Textes recueillis et présentés par Bernard Roukhomovsky. Paris: Champion 2005 und auf die Studien von Louis van Delft: La Bruyère ou du spectateur. Paris: PFSCL 2005, ders.: Les spectateurs de la vie. Généalogie du regard moraliste. Saint-Nicolas 2005 sowie umfassend die Summa desselben Verfassers: Les moralistes - une apologie. Paris: Gallimard 2008. 12 In seiner Studie Moralistik - ein ethischer Stachel im Zeitalter der Globalisierung geht Till R. Kuhnle allein auf Houellebecqs Roman La possibilité d’une île ein, der bereits auf der Handlungsebene deutlich seinen moralistischen Blick in der Figur des Protagonisten ausstellt. Siehe Till R. Kuhnle: Moralistik - ein ethischer Stachel im Zeitalter der Globalisierung? Der französische Gegenwartsroman zwischen Defätismus und Skandal. In: Schön und gut? Studien zu Ethik und Ästhetik in der Literatur. Hg. v. Susanne und Christian Krepold. Würzburg 2008, 97-130. Dem gegenüber besteht das Anliegen der vorliegenden Studie darin, herauszuarbeiten, dass der moralistische Blick zum einen keineswegs auf die jüngste Romanpublikation Houellebecqs begrenzt ist, sondern vielmehr dessen Schreiben von Anfang an durchzieht und Houellebecq zum anderen diesen moralistischen Blick als spezifisch französischen Beitrag zu den aktuellen, auch literarischen Diskussionen um die dystopisch modellierten, eugenische Fiktionen modelliert, indem er einer tradierte Form der literarischen Anthropologie unter den Bedingungen der Gegenwart reaktualisiert. Genannt seien als Beispiele für die eugenischen Fiktionen nur folgende Romane, die sich bewusst in der Nachfolge von Aldous Huxleys Brave New World stellen: George Turners Brain Child (1991), Jean-Christophe Rufins Globalia (2004), Kazuo Ishiguros Never let me go (2005) und Juli Zehs Corpus Delicti (2009). 13 „Michel Djerzinski ne fut ni le premier, ni le principal artisan de cette troisième mutation métaphysique, à bien des égards la plus radicale, qui devait ouvrir une période nouvelle dans l’histoire du monde; mais en raison de certaines circonstances, tout à fait particuliè- 204 Arts & Lettres res, de sa vie, il en fut un des artisans les plus conscients, les plus lucides.“ Houellebecq: Particules, 8 14 Genauer muss man von zwei konvergierenden Beobachtungen Michels sprechen, die den Antrieb zu seinen Forschungen bilden: Zum einen die Selbstbeobachtung, die aus der Erkenntnis des eigenen emotionalen Abresp. Ausgeschlossenseins von seiner Umwelt als Jugendlicher resultiert und zum anderen die Beobachtungen seines Bruders und dessen Leiden an seiner unerfüllten Sexualität. 15 Bemerkenswerter Weise wurde indes diese für den Roman grundlegende Differenzierung in zwei verschiene Ebenen der Erzählung, d.h. Extra- und Intradiegese bis dato in den Studien zu diesem Roman weitgehend ausgeklammert, wenn nicht gar übersehen, obwohl sie von zentraler Bedeutung für das Verständnis dieser Fiktion ist. Eine Ausnahme hierzu stellt die Studie von Schober: Weltsicht und Realismus dar, auch wenn diese die Differenz von Intradiegese und Extradiegese hintanstellt. 16 Siehe hierzu auch die einleitenden Sätze des Epilogue, in denen diese ‚archaische’ Überformung der Narration, die aus der Anbindung an die historischen Schreibweisen der Moralistik (Chamfort) und des pädagogischen Romans (Jean-Jacques Rousseau/ Karl Philipp Moritz) um 1800 resultiert: „Sur la vie, l’apparence physique, le caractère des personnages qui ont traversé ce récit, nous connaissons de nombreux détails; ce livre doit malgré tout être considéré comme une fiction, une reconstitution crédible à partir de souvenir partiels, plutôt que comme le reflet d’une vérité univoque et attestable“. Houellebecq: Particules, 307. Dadurch ergibt sich ein deutlicher Bezug zu dem System des literarischen Menschenversuchs um 1800, den Nicolas Pethes in seiner Studie Zöglinge der Natur. Der literarische Menschenversuch um 1800. Göttingen 2007 umfänglich rekonstruiert hat. Siehe zudem den Band Kulturgeschichte des Menschenversuchs im 20. Jahrhundert. Hg. v. Birgit Griesecke et al. Frankfurt/ Main 2009. 17 Diese Ebene der Extradiegese wird eingangs des Romans, im zweiten Teil des Prologue eigens herausgestellt und dadurch auch von der Perspektive der intradiegetischen Erzählinstanz, die den ersten Teil des Prologue bestimmt, absetzt, was auch durch das Druckbild, recte versus kursiv, nochmals hervorgehoben wird. Bemerkenswert ist zudem der unterschiedliche Gebrauch des Tempus: Beschreibt die intradiegetische Erzählinstanz rückblickend im Imparfait die vergangene Zeit, so apostrophiert die extradiegetische Erzählinstanz die hoffnungsvolle Gegenwart, die erstmals die Aussicht auf eine wirklich bessere, da technisch modifizierte Zukunft kennt. Dementsprechend kann man die extradiegetische Erzählinstanz in etwa auf das Jahr 2029 festlegen, in dem in den gentechnischen Experimenten erstmals die praktische Umsetzung der zuvor etablierten theoretischen Grundlagen eines neohumanen Projektes gelang. Gleichwohl ist zu bedenken, dass der Status dieser Textpassage nicht eindeutig zu klären ist, insofern sie bei der Erstlektüre durchaus als Litanei der posthumanen Gesellschaft gelesen werden kann und somit ein logisches Komplement zum ersten Teil des Prologue bildet. Bei der Relektüre des Romans wird indes ersichtlich, dass ein multiperspektivisches Erzählen vorliegt, das auch bzw. gerade durch die differenten historischen Situierungen der jeweiligen Erzählinstanzen zu einer Konkurrenz, und eben nicht zu einer Komplementarität um die Deutung des Fin-de-siècle bzw. gar des Fin-de-l’homme führt, wodurch auch in stärkerem Maße die Differenz zwischen dem ersten und dem zweiten Teil des Prologue hervortritt. Hervorzuheben ist hierbei noch, dass der Übergang von Teil 1 zu Teil 2 des Prologue mit dem Wendepunkt von der humanen zur neohumanen Gesellschaft koinzidiert. Dies scheint bei der ersten Lektüre in der Teleologie der intradiegetischen Erzählung aufzugehen, doch erweist sich bei der Relektüre exakt hier eine Widerständigkeit des Textes, die 205 Arts & Lettres sich eben nicht logisch auflösen lässt, da sie der Teleologie sowohl historisch als auch konzeptionell entgegen steht, sondern nur narratologisch, im Sinne der Differenz von Intra- und Extradiegese. 18 Nicolas Chamfort: Produits de la civilisation perfectionnée. Maximes et pensées. Caractères et anecdotes. Paris: Gallimard 1970, Maxime 359, 110. 19 François de La Rochefoucauld: Maximes et réflexions diverses. Chronologie, introduction, établissement du texte, notes et variantes, index par Jacques Truchet. Paris: GF 1977, 54. 20 Verwiesen sei aus der Vielzahl der Studien zum multiperspektischem Erzählen sowie zum unzuverlässigen Erzählen nur auf folgende Sammelbände: Ansgar Nünning (ed.): Unreliable Narration: Studien zur Theorie und Praxis unglaubwürdigen Erzählens in der englischsprachigen Erzählliteratur. Trier 1998 und ders., Vera Nünning (eds.): Multiperspektivisches Erzählen. Zur Theorie und Geschichte der Perspektiven-Struktur im englischen Roman des 18. bis 20. Jahrhunderts. Trier 2000. 21 Diese Doppelung von Prometheus und Epimetheus als Modellgeber der Figuren im Roman erhält dadurch ihre besondere Bedeutung, dass sie die Platonische Vorgabe (Protagoras, 320d-322a) aufgreift und ihre jeweiligen Rollen bei der Schöpfung resp. Gestaltung des Menschen in die Erzählung überführt. 22 Julian Huxleys Überlegungen zur Eugenik legte er insbesondere in einer zeitgenössisch berühmten Essaysammlung nieder, siehe Julian Huxley: Essays of a Biologist. London 1928. Siehe zudem Roger Smith: Biology and Values in Interwar Britain: C.S. Sherrington, Julian Huxley and the Vision of Progress, in: Past and Present 178 (2003), 210-242; und Paul T. Phillips: One World, One Faith: The Quest for Unity in Julian Huxley’s Religion of Evolutionary Humanism, in: Journal for the History of Ideas 68, 4 (2007), 613-633. 23 „Au moment où ses derniers représentants [i.e. de l’homme] vont s’éteindre, nous estimons légitime de rendre à l’humanité ce dernier hommage; hommage qui, lui aussi, finira par s’effacer et se perdre dans les sables du temps; il est cependant nécessaire que cet hommage, au moins une fois, ait été accompli.“ Houellebecq: Particules, 317. 24 Die Bedeutung der Beobachtung, der ‚observation’ für die Particules élémentaires hat bereits Wolfgang Asholt (Rückkehr zum Realismus? , besonders 103-104) herausgestellt und im Rahmen seiner Überlegungen zum Realismus-Konzept von Houellebecqs Roman fruchtbar gemacht. Unberücksichtigt blieb dadurch hingegen die hier interessierende moralistische Dimension, die durch die ‚observation’ auf nachdrückliche Weise eingeführt wird. Siehe hierzu neben den oben genannten Forschungen von van Delft auch die aktuelle Studie von Rudolf Behrens: Perspektivik und Darstellung. Zur ‚Beobachtung‘ im moralistischen Diskurs des ‚âge classique‘ (Pascal, Marivaux, Senancour). Erscheint in: ders., Maria Moog-Grünewald (eds.): Moralistik. Anthropologischer und ästhetischer Diskurs des Subjekts in Früher Neuzeit und Moderne, München: Fink 2010 (Romanistisches Kolloquium XVI). 25 Houellebecq: Particules, 119. 26 Gerade hier wird indes die Modellierung Michels als jenes einsamen und damit für seine Epoche exemplarischen Menschen deutlich, die von der intradiegetischen Erzählinstanz im Prologue gesetzt wird: „Généralement seul, il fut cependant, de loin en loin, en relation avec d’autres hommes. Il vécut en des temps malheureux et troublés.“ Houellebecq: Particules, 7. 27 Ebd. 28 Hervorhebenswert hierbei ist die durchgehende Verbindung von Michels Suche nach logischen Handlungsstrukturen der Menschen und seinen Bemühungen, sich diese qua 206 Arts & Lettres ‚observation’ zu erschließen. Augenfällig wird diese Doppelung gleich im anschließenden Absatz: „Lui-même ne demandait qu’à aimer, du moins il ne demandait rien. Rien de précis. La vie, pensait Michel, devrait être quelque chose de simple; quelque chose que l’on pourrait vivre comme un assemblage de petits rites, indéfiniment répétés. Des rites éventuellement un peu niais, mais auxquels, cependant, on pourrait croire. Une vie sans enjeux, et sans drames. Mais la vie des hommes n’était pas organisée ainsi. Parfois il sortait, observant les adolescents et les immeubles.“ Houellebecq: Particules, 119-120. 29 Zu Auguste Comte und Michel Houellebecq siehe besonders den Essay von letzterem: Préliminaires au positivisme. In: ders.: Interventions 2. Paris: Flammarion 2009, 243-255. Dieser Essay erschien zuerst in dem Band Auguste Comte aujourd’hui: Colloque de Cerisy (3-10 juillet 2001). Hg. v. Michel Bourdeau et al. Précédé de Prélimaires au positivisme de Michel Houellebecq. Paris 2003. Siehe hierzu weiterführend den Aufsatz von George Chabert: Michel Houellebecq: lecteur d’Auguste Comte. In: Revue romane 37, 2 (2002), 187-204. 30 Bemerkenswerter Weise folgt der Roman darüber hinaus strukturell August Comtes wissenschaftsphilosophischem Modell der Zeitenfolge, das dieser im Système de philosophie positive (1851-1854) niedergelegt hat. Comtes Modell entsprechend kann man die eigene Gegenwart nur dann verstehen lernen, wenn man die Zeitenfolge nach dem Modell von Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart begreift, da allein die potentielle Zukunft Auskunft über die gegenwärtige Ordnung des Wissens gibt. Gleichwohl fungiert das Comtesche Zeitenmodell in Houellebecqs Roman allein als Strukturmodell, das dadurch bewusst das Comtesche Theoriegebäude hintanstellt, um dessen Aktualität neu zu bestimmen. Hierzu ist eine weitergehende Studie in Vorbereitung von Verf., Agnieszka Komorowska: Schöne neue Menschen. Michel Houellebecqs Les particules élémentaires, die in dem Sammelband Die Optimierung des Humanum. Hg. v. Jürgen Straub und Katja Sabisch publiziert wird. 31 Ein prägnantes Beispiel hierfür bildet das Gespräch zwischen den Brüdern Michel und Bruno am Abend des Todes ihrer Mutter, in dem sie über den Status der Religion in der Gesellschaft reflektieren: „’Ces cons de hippies… fit-il [i.e. Michel] en se rasseyant, restent persuadés que la religion est une démarche individuelle basée sur la méditation, la recherche spirituelle, etc. Ils sont incapables de se rendre compte que c’est au contraire une activité purement sociale, basée sur la fixation, de rites, de règles et des cérémonies. Selon Auguste Comte, la religion a pour seul rôle d’amener l’humanité à une état d’unité parfaite’.“ Houellebecq: Particules, 257. In diesem Sinne bietet die Religion gemäß Michel eine Form der Organisation des Lebens, die er selbst sucht, aber eben nicht mehr, wie noch die als naiv geschmähten Hippies, in dieser finden kann. Vielmehr sucht er die Organisation des Lebens zum einen in der sozialen Praxis der Menschen und zum anderen in deren biologischer Konstitution. 32 Diese Wendung vom Laborexperiment hin zum Gedankenexperiment wird insbesondere in der Troisième Partie beschrieben, die mit dem Tod Annabelles und Michels daran anschließender Rückkehr nach Irland beginnt, d.h. an den Ort seiner ersten Klonexperimente, die in der Reproduktion von Kühen mündeten. Indes verbringt Michel nur wenig Zeit mit den Experimenten im eigentlichen Sinne und widmet sich jenen Gedankenexperimenten, die in den so genannten Clifden Notes zusammengefasst sind. Zum Status des Experiments in den modernen biologischen Wissenschaften siehe besonders Hans-Jörg Rheinberger: Experimentalsysteme und epistemische Dinge. Eine Geschichte der Proteinsysnthese im Reagenzglas. Göttingen 2001 und ders.: Epistemologie des Konkreten. Studien zur Geschichte der modernen Biologie. Frankfurt/ Main 2006. 207 Arts & Lettres 33 Houellebecq: Particules, 86. 34 Zu beachten ist hierbei, dass die spätere Verbindung zwischen Michel und Annabelle tendenziell eine Aufhebung jener emotionalen Abgeschlossenheit bedeutend könnte. Allerdings wird dieser emotionalen Bindung durch den Tod Annabelle ein sowohl abruptes als auch folgenreiches Ende gesetzt, wie in der Troisième Partie ausgeführt wird. Erst dadurch wird indes Michel zu jenem Repräsentanten der ‚troisième mutation’, für die er mit seiner Person paradigmatisch einsteht. Diese Modellierung ist indes eine, die von der intradiegetischen Erzählinstanz geleistet wird und somit dem Problem der Unzuverlässigkeit des Erzählens ausgesetzt ist. Denn die Unmöglichkeit der Verbindung von Michel und Annabelle gründet allein in Annabelles Krankheit und vor allem in deren lethalen Folgen, jedoch gerade nicht im Fehlen von ‚sentiments d’amour’ oder von ‚sentiment de tendresse’, die die intradiegetische Erzählinstanz im ersten Teil des Prologue für das Fin-desiècle um 2000 namhaft macht. 35 Zum Exemplum als literarischer Darstellungsform siehe besonders John D. Lyons: Exemplum. The Rhetoric of Example in Early Modern France and Italy. Princeton 1989. Der Rückgriff auf das ‚Exemplum’ verdeutlich nochmals die tendenziell anachronistisch überformte Narration der intradiegetischen Erzählinstanz, die tradierte Formen des Erzählens nutzt, die sich eigentlich jenseits des eigenen historischen Horizonts befinden, der durch die eigene Position gesetzt ist. 36 Hervorhebenswert ist die Position von David di Meola innerhalb der Erzählung, insofern er auf mehrfache Weise mit der ‚Familie’ der Halbbrüder Michel und Bruno verbunden ist. Ihre gemeinsame Mutter war diejenige, die David di Meola sexuell initiierte, während er selbst derjenige war, der in dem Sommercamp, das Michel, Bruno und Annabelle gemeinsam besuchten, mit dazu beitrug, dass die mögliche Verbindung von Michel und Annabelle scheiterte, indem er letztere verführte. Annabelle wurde zudem von ihm noch während des Sommercamps schwanger, woraufhin sie zum ersten Mal abtreibt und in der Nacht vor der Abtreibung erkennen muss, dass sie für ihn nur ein ‚bétail interchangeable’ war. Houellebecq: Particules, 233. Zu Bruno steht er hingegen in keinem direkten Verhältnis, sondern fungiert allein als ein Referenzpunkt innerhalb eines Tableau sozialanthropologisch signifikanter Positionen. 37 Houellebecq: Particules, 215. 38 Augenfällig wird dies am Ende von Brunos Artikel, das dadurch hervorgerufen wird, dass es einen Übergang von der allgemeinen Reflexion hin zum persönlichen Erleben bei Bruno gibt, wobei dieses sowohl Lust als auch Liebe in sich verbindet. Cap d’Agde ist demnach nicht nur ein spezifischer Sozialraum der ‚bonne volonté’, sondern auch der konkrete Ort der ersten erfüllten Liebe Brunos, einer Liebe indes, die gemäß der intradiegetischen Erzählinstanz in dieser Epoche eigentlich nicht mehr zu finden ist. Siehe Houellebecq: Particules, 223. 39 Auch wenn bzw. gerade weil die intradiegetische Erzählinstanz die Fiktionalität der Erzählung im Epilog nochmals explizit ausstellt, siehe Houellebecq: Particules, 307. Doch wird diese Fiktionalität zugleich wieder von der Erzählinstanz zurückgenommen, da sie allein die beschriebenen Personen betrifft, nicht jedoch die konstatierte historische Realität. 40 „A cela [i.e. la disparition de l’individualité] Hubczejak répondait avec fougue que cette individualité génétique dont nous étions, par un retournement tragique, si ridiculement fiers, était précisément la source de la plus grande partie de nos malheurs. A l’idée que la personnalité humaine était en danger de disparaître il opposait l’exemple concret et observable des vrais jumeaux, lesquels développent en effet, par le biais de leur histoire individuelle, et malgré un patrimoine génétique rigoureusement identique, des personnali- 208 Arts & Lettres tés propres, tout en restant reliés par une mystérieuse fraternité - fraternité qui était justement, selon Hubczejak, l’élément le plus nécessaire à la reconstruction d’une humanité réconciliée.“ Houellebecq: Particules, 312-313. 41 Diese (Neu-)Modellierung des Humanums durch die Attribuierung des Menschlichen, des ‚humain’ kennzeichnet in besonderem Maße den Epilog und fungiert insofern als Differenzmarker zwischen dem vorausgehenden Menschen und dem neuen Humanum. Siehe hierzu weiterführend Verf., Komorowska: Schöne neue Menschen. 42 Houellebecq: Particules, 317. Dadurch erhält indes die unmittelbar vorausgehende Foucault-Allusion, die durch die auf den Schluss der L’Ordre des Choses verweisenden Hommage der intradiegetischen Erzählinstanz, „qui, lui aussi, finira par s’effacer et se perdre dans les sables du temps“ (ebd.) gesetzt wird, eine doppelte Valenz. Zum einen wendet sie sich kritisch gegen Foucaults Argumentation, dass die Episteme der Moderne von den Sprachwissenschaften geprägt würden, und stellt dem die Dominanz der biologischen Wissenschaften gegenüber, zum anderen wendet sie sich, durchaus mit Foucault, dem Menschen als anthropologischem Konstrukt zu, d.h. als Produkt des anthropologischen Diskurses, und setzt dem die - insbesondere für den heutigen Leser provokative - Aufforderung zur kritischen Reflexion, mit Foucault gesprochen, zur Selbstsorge entgegen, indem es einen literarischen Konter-Diskurs ausbildet. Résumé: Jörn Steigerwald, Narrations d’un (Post-)Moraliste: Les particules élémentaires de Michel Houellebecq. Dans son roman Les particules élémentaires, Michel Houellebecq met en scène une société contemporaine, dépravée des émotions, voire de l’amour. De plus, le roman problématise les images scientifiques et culturelles de l’homme qui se voit pour la première fois confronté à la possibilité de sa modélisation génétique. Néanmoins, la question de savoir si le roman donne une intérpretation de la société contemporaine (ou non) reste en suspense. En répondant à cette question, l’article essaie de montrer que le roman repose sur la négociation de conceptions concurrentes de l’homme en introduisant un regard moraliste. Ce regard moraliste fait ressortir l’interdépendance entre l’observation, la présentation et le savoir dans les sciences humaines et met en relief que la conception de l’homme s’appuie non seulement sur l’observation de l’homme mais qu’elle va aussi de pair avec une intervention sur l’homme.