eJournals lendemains 32/128

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Narr Verlag Tübingen
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2007
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St. Bung/M. Zimmermann: Garçonnes à la mode im Berlin und Paris der zwanziger Jahre

2007
Thorsten Schüller
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143 STEPHANIE BUNG UND MARGARETE ZIMMERMANN (EDS.): GARÇONNES A LA MODE IM BERLIN UND PARIS DER ZWANZIGER JAHRE. BERLIN: WALL- STEIN VERLAG, 2006. Die Literaturgeschichte ist voller vergessener Klassiker. Einer dieser Texte, die nach einer Blitzkarriere dem Vergessen anheim fielen, ist Victor Marguerittes Roman La Garçonne. Dabei ist der Roman für die Geistesgeschichte bis heute durchaus von Relevanz. Der Bestseller und Skandalroman von 1922 erscheint im heutigen Licht allerdings weniger als literaturhistorisch kanonisiertes Werk, sondern viel mehr als Namensgeber eines Weiblichkeitsmythos der zwanziger Jahre, in dem sich der Zeitdiskurs in einem Nexus aus Emanzipation, Urbanität, medialem und gesellschaftlichem Wandel kristallisiert. Die Garçonne entwickelt sich von einer Romanprotagonistin zu einem Mythos im Barthes’schen Sinne, sie autonomisiert sich vom Ursprungstext und erhält in vielerlei Inszenierungen einen semantischen Mehrwert. Um diesen semantischen Mehrwert der Figur der Garçonne kreist der von Stephanie Bung und Margarete Zimmermann herausgegebene Band. In Garçonnes à la mode wird sich des Gegenstands aus unterschiedlichen Perspektiven angenähert. Die Herausgeberinnen präsentieren durch die unterschiedlichen Einzelbetrachtungen ein anschauliches Bild des soziokulturellen Lebens der Années folles in den Metropolen Berlin und Paris. Über die Figur der Garçonne zu reden, bedeutet eben auch, über Mode, Plakatkunst, Illustrationen, Fotografie und Literatur zu reden. Das Vorwort der Herausgeberinnen führt gleich in die wichtigsten Punkte ein: Das Buch macht sich zur Aufgabe, eine in den Großstädten der zwanziger Jahre „in Bewegung geratene Gesellschaftsordnung“ aufzuzeigen, die in einem „emanzipatorischen Habitus“ (7) kulminiert und sich in Mode-Phänomenen manifestiert, „wobei die Mode die intermediale Schnittmenge darstellt, in der sich die verschiedenen Ausdrucksformen einer spezifisch weiblichen Moderne spiegeln“ (25). Diese weibliche Moderne als komplexes Zeichensystem wird in den folgenden Artikeln in ihren einzelnen Facetten betrachtet. Durch die Untersuchung von Kleidung, Haarschnitt und Alltagsinszenierungen wird dabei vor allem der visuelle Aspekt des Mythos betrachtet. Stephanie Bung und Margarete Zimmermann haben sich mit ihrer interdisziplinären Herangehensweise zur Aufgabe gemacht, die grundlegenden Untersuchungen von Christine Bard (La Garçonne. Modes et fantasmes des Années folles, Paris 1998) und Julia Drost (La Garçonne. Wandlungen einer literarischen Figur, Göttingen 2003) zu komplettieren, indem neben dem Aspekt der Interdisziplinarität auch der Faktor der Urbanität für die gesellschaftliche Wandelsituation um die Garçonne betont wird. Bis auf einen Artikel von Cécile Berthier, der reisende, die Stadt flüchtende Garçonnes zum Thema hat, ist die im Band beschriebene weibliche Moderne scheinbar nur in Großstädten möglich und folglich ein urbanes Phänomen. Am Beginn der Einzelbetrachtungen steht der Diskurs der Mode: Christine Elise Mani stellt die Modezeichnungen von Jeanne Mammen vor, Burcu Dogramaci kon- 144 zentriert sich auf die Illustrationen Lieselotte Friedländers im wöchentlich erscheinenden „Moden-Spiegel“. In diesen Alltags- oder Gebrauchsillustrationen wird der Mythos der sich emanzipierenden Frau in einer nicht immer nur als „golden“ empfundenen Epoche ebenso durchgespielt wie in der künstlerisch programmatischeren Modephotographie von Sonia Delaunay, die von Cécile Godefroy untersucht wird. Eine weitere zeitgenössische künstlerische Inszenierung von Weiblichkeit stammt von Marcel Duchamp. Giovanna Zapperi untersucht Fotografien von Man Rays, die Marcel Duchamps Eigeninszenierungen als Frau darstellen. Dieser Artikel muss leider ohne Abbildungen auskommen, eine Ausnahme in dem ansonsten reich bebilderten und illustrierten Band. Julia Drost kommt mit einer Untersuchung der Illustrationen des Margueritte-Romans von Kees van Dongen aus dem Jahre 1925 mit einem Artikel zu Wort, in dem ebenfalls der visuelle Aspekt der Weiblichkeitskonstitution fokalisiert wird. Während die männliche Perspektive Kees van Dongens einer künstlerischen Auseinandersetzung mit Marguerittes Text verpflichtet ist, zeigt Adelheid Rasche in ihrem Artikel über das Bild der „neuen Frau“ in Männer-Zeitschriften eindringlich auf, wie sehr der gesellschaftliche Emanzipationsprozess der Frauen von Männern mit Argwohn und Ängsten verfolgt wurde: ein Geschlechterkampf, der sich in Karikaturen und Illustrationen äußert. Neben den visuellen Inszenierungen wird auch die literarische Betrachtung weiblicher Mythen der zwanziger Jahre berücksichtigt: Stephanie Bung untersucht die Rolle der Kleidung als „textile Materie“ im Tagebuch der Catherine Pozzi, Vanessa Loewel zeigt auf, wie sehr sich die Garçonne und ihr Zeichensystem der Mode in literarischen Inszenierungen von Colette und Paul Morand wiederfindet. Der Artikel von Julia Bertschik demonstriert implizit, dass Moden, darunter eben auch literarische Moden, immer Moden bleiben: Sie stellt das in den zwanziger Jahren populäre literarische Genre des „Konfektionsromans“ vor und erinnert an vergessene Romane in der Nachfolge von Émile Zolas Au bonheur des dames. In diesen Konfektionsromanen steht die Welt der Warenhäuser mit ihren zumeist weiblichen Kunden und Angestellten im Zentrum. Abgeschlossen wird der Band mit Untersuchungen zur schwierigen Rezeptionsgeschichte des Romans von Margueritte in Deutschland. Mit Garçonnes à la mode haben Stephanie Bung und Margarete Zimmermann ein überaus lesbares Stück Kulturgeschichte vorgelegt, in dem eine Vielzahl von Aspekten des unruhigen Lebens der Années folles anschaulich wird; die Artikel und vor allem die zahlreichen Bilddokumente illustrieren eine von Urbanität, Medienwandel, Moden und Massenkultur geprägte Zeit. Das einzige Bedauern, das nach der Lektüre von Garçonnes à la mode bleibt, kann den Herausgeberinnen freilich nicht zur Last gelegt werden: Der Band macht deutlich, dass der Roman Victor Marguerittes, mit dem die Konstitution des Garçonne-Mythos seinen Ausgang nahm, längst eine Neu-Edition verdient hätte. Thorsten Schüller (Mainz)