eJournals lendemains 39/156

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Narr Verlag Tübingen
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2014
39156

Barbara Ventarola (ed.): Literarische Stadtutopien zwischen totalitärer Gewalt und Ästhetisierung

2014
Clemens Klünemann
ldm391560143
143 Comptes rendus BARBARA VENTAROLA (ED.): LITERARISCHE STADTUTOPIEN ZWISCHEN TOTALITÄRER GEWALT UND ÄSTHETISIERUNG, MÜNCHEN, MEIDENBAUER VERLAGSBUCHHANDLUNG, 2011, 368 S. Als Joachim Fest drei Jahre nach dem Fall der Mauern in Europa unter dem Titel Der zerstörte Traum das Ende der Utopien ausrief, erntete er teilweise wütenden Widerspruch - zurecht, denn dem gescheiterten kommunistischen Experiment wäre zuviel der Ehre angetan, es mit der Utopie gleichzusetzen, abgesehen davon, dass der real existierende Kommunismus ja schon vom Wortsinn das Gegenteil dessen darstellte, was als Begriff seit Morus’ insula Utopia existiert, als Phänomen hingegen, seitdem es Imagination, Fiktionalität und Phantasie - kurz: seitdem es Literatur gibt. Insofern findet sich der antizipierte Widerspruch zu Fests Abgesang auf die Utopie folgerichtig im Vorwort zu einem Buch über Literarische Utopien, wo der Herausgeber Hans Ulrich Seeber lakonisch schrieb: „Mit der Utopie zu leben ist zweifellos ein Risiko - ohne sie vielleicht ein noch größeres.“ Damit ist freilich der Utopie eine Funktion zugeteilt, nämlich diejenige, Trost, ja Hoffnung zu ermöglichen, und zwar nicht als Robinsonade eines promeneur solitaire, sondern im befriedeten Zusammenleben der Menschen miteinander - also in der Stadt. Zurecht weist die Herausgeberin des vorliegenden Bandes in ihrer Einleitung auf die Korrelation von Utopie und urbanem Raum hin - und ebenso sinnvoll ist die Warnung vor der ‚realen Utopie‘: Stadtarchitekten wie Georges-Eugène Haussmann und Le Corbusier, Albert Speer und Marcello Piacentini haben im 19. und 20. Jahrhundert gezeigt, dass die ‚ideale Stadt‘ wenig mit dem Hoffnungspotenzial der Utopie zu tun hat. Aufgehoben ist dieses Potenzial in der Literatur, und zwar immer dort, wo der städtische Raum semantisiert und die Stadt zum Symbol für Glück wird: Brigitte Burrichter zeigt am Beispiel altfranzösischer Stadtbeschreibungen, wie in der utopischen Stadt, und nur hier, Liebe möglich ist, die in der realen Welt scheitern muss, und Robert Fajens Interpretation des utopischen Stadtbilds macht deutlich, wie in Cyrano de Bergeracs L’Autre Monde Elemente des Gesellschaftsvertrages einfließen, insofern „Gegenseitigkeit und Kommunikation“ als gestaltende Kräfte des Lebens in der idealen Stadt erkannt werden. Platons Politeia als literarische Stadtutopie zu betrachten, wie es die Herausgeberin Barbara Ventarola in ihrem Beitrag unter der Überschrift „Ordnung und Perspektive“ tut, ist indes problematisch, und zwar nicht deshalb, weil wir es hier - jedenfalls aus dem Blickwinkel des Hoffnungspotenzials der Utopie - mit einer Art negativer Utopie zu tun hätten, in der es letztlich um die totale Ordnung geht, die nur mit struktureller Gewalt aufrecht zu erhalten ist. Um zu zeigen, dass es sich bei Platons Politeia nicht um eine Utopie, sondern um eine politische Theorie handelt, bedarf es nicht der Kritik eines Karl Popper in dessen Buch über Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Vielmehr sei daran erinnert, wie sehr Platon daran lag, seinen Entwurf in Syrakus praktisch werden zu lassen und wie kläglich dieses Experiment endete. Im besten Sinne utopisch jedoch sind die im selben Artikel 144 Comptes rendus angeführten Bilder „vollkommener Gemeinschaftlichkeit“ in Leibnitz’ Discours de métaphysique und Voltaires Le monde comme il va: hier gehe es darum, das Verhältnis der notwendigen Ordnung zur möglichen Freiheit auszutarieren und einen städtischen Raum zu schaffen, „der geometrische Ordnung und sinnliche ‚Unordnung‘ versöhnt“ und „das reine Zweck- und Funktionsdenken des Urbanen, wie es Platon promulgiert hatte, verabschiedet.“ Dass die Utopie eine fundamentale Kritik an der Moderne darstellt - zumindest darstellen kann -, zeigt Markus Messling in seinem Beitrag über (anti-)urbane Utopien bei Stendhal, Gobineau und Michelet. Stendhals Protagonist Julien Sorel aus Le Rouge et le Noir sucht in der Großstadt Paris, übrigens wie Lucien in Balzacs Illusions perdues, den sozialen Aufstieg und die ihm, wie er findet, zukommende soziale Anerkennung - und scheitert. Seine darauf folgende Hassrede auf „ce que l’orgueil des gens riches appelle la société“ sei folglich als eine Grabrede auf die urbane Utopie von Freiheit und Gleichheit zu deuten. Es stellt sich indes die Frage, ob hier der Utopie-Begriff nicht überstrapaziert wird, insofern ihm sowohl individuelle Ambitionen als auch politische Leitideen subsumiert werden. Deren Gegenstück, nämlich Joseph-Arthur de Gobineaus Essai sur l’inégalité des races humaines von 1855, scheint ebenso wenig geeignet zu sein, dem Begriff der Utopie - selbst in seiner Verneinung - näherzukommen, denn wogegen sich Gobineaus Zynismus richtet, ist zwar (da ist Markus Messling recht zu geben) die urbane Moderne, genauso wie Jules Michelet in der Tat eine republikanische Urbanität anstrebte, aber Zynismus gegen oder Emphase für ein Ideal machen aus diesem noch keine Utopie. Die Stärke des Buches liegt zweifellos im Panorama über zwei Jahrtausende urbaner Entwürfe, bei dem das Abgleiten der Stadtarchitektur - der literarisch imaginierten wie der geometrisch-praktischen - in den Ordnungs-, ja Überwachungswahn konfrontiert wird mit dem utopischen Bemühen, ein Gegenbild zur geordneten Realität der Polis zu entwerfen. Es bleibt indes die Frage, ob der Titel nicht eine falsche Alternative suggeriert: Ist nicht, um Walter Benjamins berühmten Aufsatz über Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit zu zitieren, die totalitäre Gewalt (als Folge des für ideal gehaltenen Stadtentwurfs) geradezu das Resultat einer Ästhetisierung der Polis, des Politischen? Olaf Müller zieht (in seinem Beitrag unter dem Titel „Le Paris de Paroles: Stadttext als Utopie und Therapie bei Raymond Queneau“) zwar genau diese Verbindungslinie zwischen „brutaler Megalomanie“ und Utopie, entschärft jedoch diese beunruhigende Parallele mit der auf Raymond Queneau bezogenen Versicherung, „dass sie [sc. die Bedrohung der totalitären Gewalt] zumindest in der privaten Ästhetisierung des Stadtraums momentan gebannt werden konnte“. Abgesehen von der Frage, ob es wirklich sinnvoll ist, von „faschistischen Bauten“ und „stalinistischen Bauprojekten“ zu sprechen, statt diese als Spielarten der Moderne aufzufassen (wofür Franz J. Bauer in seinem Buch über Rom im 19. und 20. Jahrhundert. Konstruktion eines Mythos plädiert), wäre es interessant, diese private Ästhetisierung Queneaus und ihr Zurückweichen vor einem der politischen Ideologie verpflichte- 145 Comptes rendus ten Entwurf der idealen Stadt mit den konservativen Utopien Chateaubriands, Barrès’ und Morands zu vergleichen, die im vorhergehenden Beitrag von Henning Hufnagel analysiert werden - wobei unterstellt wird, dass der Rückzug ins Private eine genuin konservative Attitüde sei. Hufnagel stellt die Frage - und das macht seinen Beitrag zu einem der interessantesten Kapitel in dem vorliegenden Band -, ob es jenseits der in die totale Ordnung abrutschenden Stadtentwürfe auch konservative Utopien geben könne. Unter Berufung auf Karl Mannheims Buch Ideologie und Utopie kommt er zu dem Schluss: „konservative Utopien sind stets reaktiv, defensiv, wenn nicht gar regressiv“; damit gerät der Utopie-Begriff jedoch zwischen den Hammer eines ungebrochenen Fortschrittsglaubens und den Amboss der Verpflichtung, Utopien in die Realität zu überführen - was ihrem Wortsinn zuwiderläuft. Ist die Utopie nicht in der Tat auch eine memoria vanitatis, eine Relativierung der Realität durch die Erinnerung an das, was diese Realität einmal war (so wie Chateaubriand in den Mémoires d’Outre-Tombe „les guenilles mises sécher sur d’élégants balcons“ in Venedig der „empreinte de la chétive main de notre siècle“ vorzieht) und durch das Bedenken dessen, was sie eines fernen Tages sein wird (nämlich Ruine), wie es Victor Hugo in A l’Arc de Triomphe über Paris erdenkt - Hugo, der über den Vorwurf des Reaktiven und Regressiven so erhaben ist wie der Autor des berühmten „Le vieux Paris n’est plus - la forme d’une ville / Change plus vite, hélas! que le cœur d’un mortel“? So vielfältig und interessant die Auseinandersetzung mit literarischen Stadtutopien im vorliegenden Band ist, so dominant bleibt hier deren scheinbar unerschütterliche Verbindung mit dem Vertrauen in urbane Modernität. Noch bevor sich diese entfalten konnte, erinnerte jedoch Mercier an „Thebes, Tyr, Persépolis, Carthage, Palmyre“, um am Beispiel der Stadt, die zu seiner Zeit die meisten Utopien hervorbrachte (nämlich im Tableau de Paris) deren Endlichkeit zu zeigen: „Hélas! les grandes villes modernes éprouveront un jour la même révolution.“ Clemens Klünemann (Ludwigsburg)