eJournals lendemains 39/156

lendemains
0170-3803
2941-0843
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/
2014
39156

Laurent Baridon: Un atlas imaginaire. Cartes allégoriques et satiriques

2014
Peter Ronge
ldm391560140
140 Comptes rendus Beitrag von Heidi Denzel de Tirado führt „ein neues Raumkonzept“ ein, die „Hageographie“ (147) - entstanden aus ‚Hagiographie’ und ‚Geographie’. Damit sollen solche Räume gemeint sein, „die in besonderer Weise Bezüge zum Leben und Werk einer Person reflektieren“ (ibid.). Unter Rückbezug auf Foucaults Heterotopie-Konzept und Marc Augés non-lieu wird dies anhand von Texten des 20. Jahrhunderts über Denis Diderot nachvollzogen. Im Vorwort des Bandes wird ‚Palimpsest‘ eher neutral definiert und als „désignant toutes sortes de processus d’écriture et de lecture qui superposent des couches de textes et, partant, de significations en réalisant de multiples configurations“ (7) eher weit gefasst. Wie das Panorama der versammelten Aufsätze zeigt, geht es bei der ‚ville-palimpseste‘ jedoch auch um die brisante Frage, auf welche Weise literarische Texte Diskontinuitäten und Alteritäten, die vom gegenwärtigen historischen Bewusstsein marginalisiert oder nivelliert werden, die gewissermaßen einer kulturellen ‚Überschreibung‘ zum Opfer gefallen sind, wieder sicht- und lesbar gemacht werden können. In dieser Hinsicht bietet der Sammelband interessante und aufschlussreiche Lektüren zu französischsprachiger Literatur vom 16. bis 21. Jahrhundert. Ursula Hennigfeld (Osnabrück) —————————————————— LAURENT BARIDON: UN ATLAS IMAGINAIRE. CARTES ALLÉGORIQUES ET SATIRIQUES, PARIS, CITADELLES ET MAZENOD, 2011, 200 S. Der mit 32,5 x 30 cm sehr großformatige, überwiegend farbig oder den Farbzustand alter Vorlagen offenbar getreu reproduzierend gedruckte Band ist ein prächtiges Bilderbuch geografisch-kontinentaler (bzw. seltener: ) global angelegter Bildinszenierungen aus früheren Epochen realer Welterkundung bis hin zu parteiisch-parteilich-polemischen Territorialdarstellungen des späteren 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Charme und wissenschaftliche Nutzbarkeit des Buches werden freilich leider dadurch stark gemindert, dass 50 komplexe querformatige Bildvorlagen auf je zwei Seiten reproduziert sind, und das mit der Folge, dass wichtige Bildteile unsichtbar im Falz des Buches verschwunden und damit Gesamtbetrachtung wie Auswertung etwa eines Drittels aller Abbildungen aufgrund fragwürdig-mutwilliger Entscheidung der technischen Hersteller im Verlag unterbunden sind, anstatt entweder bei gleichem Buchformat die derzeitigen Bildbreiten (zwischen 42 und 33) auf etwa 30 cm zu begrenzen, um die leicht verkleinerten Breitformate (wie z. B. auf S. 94-95 geschehen und zu besichtigen) auf je einer Seite unterzubringen oder dem Buch bei der derzeitigen Höhe etwa 45 cm Breite zu geben und falzlosen Abdruck in der jetzigen Bildgröße und ebenfalls auf je einer Seite zu ermöglichen. Das Buch ist insgesamt chronologisch (19, linke Sp.) und in seinen 10 Kapiteln thematisch gegliedert: das „Sommaire“ (5) wartet bei Einführungs-, Schluss- und 141 Comptes rendus allen 10 Themen-Kapiteln mit falschen Seitenzahlen auf: jede ungerade Ziffer muss durch die ihr vorangehende gerade Zahl ersetzt werden, weil die Textseiten jedes neuen Kapitels zwar immer rechts beginnen, das links davon präsentierte Bild, wie der Text erweist, indes das je erste Bild des neuen Kapitels ist. Zwei der vier „Annexes“ (196) sind richtig paginiert: die „Orientation bibliographique“ (196) und der zum „Index“ geschrumpfte „Index des noms“ (198); die „Crédits photographiques“ (199) und „Remerciements“ (200) fehlen jedoch im „Sommaire“. Die Einführung „Figures de la carte“ (6-19) erläutert anhand von Bildbelegen Baridons methodologischen Ansatz, nämlich die Interferenzen zwischen einerseits (von der Renaissance an wissenschaftlich-)kartografischer Erfassung und Abbildung der Welt hinsichtlich ihrer geophysikalischen und politischen Strukturen sowie andererseits bildlichen Projektionen auf das kartografische Material, als da sind: menschliche oder tierische Körper(teile), Pflanzen(teile) wie Bäume oder Blüten, aber auch abstraktere Embleme oder Symbole. Zwischen all den sich überlagernden Strukturen waltet das uralte hermeneutische Prinzip der Korrespondenzen, das auch Baudelaire in seinem gleichnamigen Sonett noch zur Weltdeutung heranzieht. Das kurze erste Kapitel (20-25) führt v. a. anhand eines Gebildes des römischen Autors Opicinus de Canistris (um 1335) in die Überlagerungstechnik geomorphologischer mit human-physiologischen Ausgangsdaten und ihre Deutungsmöglichkeiten ein und bereitet so die in den Folgekapiteln präsentierte große Datenmenge vor. Das zweite Kapitel (26-39) bündelt namentlich allegorische Europa-Karten um das - politisch befürwortete oder bekämpfte - Konzept des ‚Heiligen römischen Reichs‘ in der Ausprägung des spanisch-habsburgischen Imperiums und beginnt mit Johannes Putsch’s Europa-Karte von 1537 (Innsbruck, Ferdinandeum), die Baridon wie folgt beschreibt (linke Sp.): „Une reine en forme d’Europe y apparaît, sa tête correspondant à l’Espagne et ses bras aux péninsules italienne et danoise [ ]“. Das dritte Kapitel (40-57) hebt mit der kartografischen Verwendung heraldischer Embleme und Tierfiguren - hier v. a. des leo belgicus - die Anbindung einer Herrscherfamilie an ‚ihr‘ Territorium heraus, wobei auch hier deren Ansprüche anerkannt oder bestritten werden können. Das vierte Kapitel (58-77) möchte zeigen, wie mit Rückgang heraldischer Kompositionen und neu aufgekommener satirischer Wirkungstendenz auch die Zahl der virtuellen Interessenten und der verwendeten Figur(ation)en zunimmt. Diese Tendenzen halten im frühen 19. Jahrhundert an, dessen große Bildbestände das fünfte Kapitel (78-107) sichtet und deutet, während das sechste (108-135) die zunehmende Instrumentalisierung der populären satirischen Europa-Karten für um die Jahrhundertmitte aufgekommene nationalistische Ideologien untersucht. Das siebte Kapitel (136-151) widmet sich den in Europa und Asien entstandenen neuen Karten der Zwischenkriegszeit von ca. 1870 bis zum 2. Weltkriegsjahr 1915 und einer Art kartografischer Materialschlacht in den ersten Kriegsjahren 1914-15. Im achten Kapitel (152-165) werden die Bildtraditionen in den politischen und satirischen Karten seit Mitte des 19. Jahrhunderts auf ihre Fortschreibung bis heute hin untersucht. Im neunten Kapitel 142 Comptes rendus (166-177) trägt Baridon Belege für neuere und neueste anatomische Körperkarten bzw. Collagen und Projektionen mit anatomischen Bildelementen zusammen, angefertigt von zeitgenössischen bildenden Künstlern aus vielen Ländern der Erde. Im zehnten und letzten Kapitel (178-187) sind unter dem Titel „Frontières de soi“ mehrere kartografisch inspirierte oder anmutende (Selbst-)Inszenierungen auf Papier und sogar auf lebenden menschlichen Leibern beiderlei Geschlechts zu besichtigen, womit der Autor fast zyklisch auf sein erstes Exempel Opicinus de Canistris (20) von 1335 zurückkommt. In der „Conclusion“ (188-195) bespricht Baridon sieben sehr unterschiedliche, eher expressive als figurative künstlerische Darstellungen mit kartografischen Anteilen, um an ihnen zu zeigen, dass und wie die Globalisierung aller Lebensgebiete auch die technischen, politischen und sozialen Sphären global umfasst und so Künstler dazu veranlasst, diese Sphären auf die unterschiedlichste Weise abzubilden. Mit Fug und Recht schließt er seine „Conclusion“ mit diesen beiden Sätzen: „Nous nous reconnaissons de moins en moins dans une Marianne, un John Bull ou un Deutsche[r] Michel. Nous devenons des êtres-mondes, des habitants d’une même patrie planétaire à laquelle nous nous identifions car notre destin lui est indéfectiblement lié“ (194, rechte Sp. unten). Das Buch ist trotz der erwähnten technischen Mängel und vieler Druckfehler v. a. bei deutschsprachigen Zitaten ein enorm kenntnisreiches, von sorgfältigen Bildanalysen getragenes Werk, das m. E. in jede einschlägige wissenschaftliche Bibliothek gehört. Auf ein Kuriosum möchte ich abschließend nachträglich hinweisen. Baridon geht trotz seiner acht schönen satirischen Frankreichbilder (68, 90-91, 94, 98, 110-111, 158, 159, 189) mit keinem Wort auf die geschätzt 2000-3000 satirischen und ebenso vielen als Firmen-Logos, Buch- oder Zeitschriften-Covers oder andere grafische Elemente erschienenen sogenannten hexagones ein, denen er als französischer Bürger und mutmaßlicher Zeitungsleser seit Beginn der Fünften Republik (und mit in den letzten, nachgaullistischen Zeiten rückläufiger Tendenz) zeitweilig nahezu täglich begegnet sein müsste. Allein der Le-Monde-Star Plantu dürfte in seinen Karikaturen um 150 hexagones verwendet haben. Es handelt sich dabei um Miniaturen des französischen Mutterlandes - mit oder ohne Korsika - in Gestalt seiner geografischen Außengrenzen oder um die zum gleichseitigen Sechseck stilisierte geometrische Variante desselben. Meine sehr beschränkte Belegsammlung für hexagone-Karikaturen enthält ca. 1200 Exemplare, von denen ein geringer Teil in einer ersten und leider bis heute einzigen, jetzt höchst erneuerungsbedürftigen Analyse des konservativen und später gaullistischen hexagone- Mythos publiziert wurde: Peter Ronge, Zur Semiotik der Vorstellung von Frankreich als ‚Hexagone‘, in: Semiotische Berichte, 2, 11/ 1987, 179-207. Peter Ronge (Telgte) ——————————————————