eJournals lendemains 39/156

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Narr Verlag Tübingen
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2014
39156

Robert Crumb: De l'underground à la Genèse

2014
Peter Ronge
ldm391560134
134 Comptes rendus ROBERT CRUMB: DE L’UNDERGROUND À LA GENÈSE. EXPOSITION, MUSÉE D’ART MODERNE DE LA VILLE DE PARIS, 13 AVRIL - 19 AOÛT 2012, PARIS, PARIS MUSÉES, 2012, 240+XXVIII P. Die amerikanischen Künstler Robert Crumb und seine Frau Aline Kominsky-Crumb zogen mit ihrer - wie die Eltern beruflich zeichnenden - Tochter Sophie nicht lang nach George H. W. Bushs Wahl vor über 20 Jahren in Frankreichs Süden, wie vor ihnen schon - aus gesundheitlichen Gründen - der geniale britische Cartoonist, Buchillustrator und Karikaturist Ronald Searle mit seiner Frau Monika, die Schmuck entwarf. Searle starb kurz nach seiner Frau mit über 90 Jahren in seiner zweiten Heimat, ohne je in Frankreich mit einer größeren Ausstellung oder gar Retrospektive geehrt worden zu sein, wie sie etwa das Wilhelm-Busch-Museum Hannover dem Paar ausrichtete - und das trotz Ronalds intensiv frankozentrischer Buchproduktion und seiner vielen Karikaturen für Le Monde. Umso erfreulicher die riesige Crumb-Retrospektive mit fast 800 Exponaten aus der Zeit der späten Fünfziger bis 2011, die das Pariser MAM, von Sébastien Gokalb mit Bernardette Pordoy und Héloïse Le Mouël kuratiert, als Bilanz 50jährigen pausenlosen Schaffens 2012 zeigte. In ihr wurden in grob chronologischer Folge die (gehängten) Originale und (in Vitrinen) deren mediale Druckfassungen (meist aus Crumbs Sammlung) sowie eine Auswahl digital aufbereiteter Skizzen-Hefte zum ‚Blättern‘ dokumentiert. Die riesige Ausstellung bedurfte mindestens zweier Besichtigungs- (genauer: Arbeits-) Tage für eine halbwegs erschöpfende Wahrnehmung des immensen Reichtums der gezeigten Exponate. Das abnorm schüchterne ehemalige Hippy-Idol Robert Crumb mit omnipräsentem Sex-Tick und bis heute hellwacher Provo-Mentalität, Jahre überdauernden schweren Depressionen, stetiger autobiografisch-satirischer Gesellschafts-, Familien-, Paar- und Selbstbeobachtung und -kritik, aber auch Hunderten von zeichnerischen Zusammenarbeiten an Comic- und Verlagsprojekten, gelegentlich auch musikalischen Jazz-Formationen (USA und Frankreich) mit eigenen Plattenaufnahmen, in den letzten Jahren immer mehr Gemeinschaftsarbeiten mit Aline - dieser Künstler Robert Crumb ist auch in Frankreich von unübertrefflicher Kreativität geblieben und gehört dort inzwischen zum festen Stamm der bei allen französischen BD-Festivals und in guten Fachgalerien präsenten Kreativen. Seine Illustration der biblischen Genesis füllte im MAM einen ganzen Saal und wurde als Buch ab Ende 2009 in 26 Sprachen übersetzt und in über 200 000 Exemplaren verkauft. Im deutschsprachigen Raum präsentierte das österreichische Karikaturmuseum Krems 2002 Die vielen Gesichter des Robert Crumb mit einem schmalen, aber beachtlich guten Katalog und das Kölner Museum Ludwig 2004 eine sehr sehenswerte Ausstellung mit dem Katalog: Robert Crumb: Yeah, but Is It Art? mit nur mäßiger Qualität und auf einer Art Toilettenpapier gedruckt - des Künstlers wie des Museums nicht eben würdig. 135 Comptes rendus Der großformatige Pariser Katalog hingegen ist, in dottergelbes Leinen mit dunkelrotem Aufdruck und ebensolchem Vorsatzpapier gebunden, schon auf den ersten Blick ein sinnlich schönes Buch. Sein Schutzumschlag ist 3fach gefaltet und reproduziert als Riesenposter von ca. 93 x 82 cm die zweite Seite des Buches, dessen erste und 15 folgende Seiten einem Skizzenbuch entnommen sind und der Titelei (19-25) voranstehen. Der zweisprachig englisch-französisch betextete Katalog ist wie die Ausstellung chronologisch angelegt und bietet nach 6 französischen Beiträgen und biografischer Chronologie (26-49) in 5 Zeitabschnitte unterteilt rund 220 hervorragend gedruckte farbige und schwarzweiße Abbildungen, mithin ein knappes Drittel der Exponate auf bestem Papier, die immer wieder von historischen Fotos von Crumb und den Seinen aus der entsprechenden Epoche begleitet bzw. ergänzt werden (50-227). Die Liste der Exponate steht auf den Seiten 228-34, gefolgt von einer eher dürftigen Auswahlbibliografie und dem Impressum (236-40). Auf gelblich getöntem Papier mit römischer Seitenzählung (I-XXVII) folgen abschließend die sechs Texte von der Seiten 26-49 in englischer Sprache. Der Direktor des Musée d’Art moderne, Fabrice Hergott, berichtet in seinem Vorwort (26sq.) über die Entstehung der Ausstellung u. a. als Folge seines bereits in Straßburg in Projekte umgesetzten Wunsches, die musealen Dokumentationsaufgaben im Bereich künstlerischer Kreativität um eine Popularbzw. Medienkunst-Dimension so zu erweitern, dass künftig Leute wie Roland Topor, Tomi Ungerer oder eben auch Robert Crumb ebenso selbstverständlich auszustellen sein sollten wie Picasso und Braque. Dies ist eine offenbar ja auch im Kölner Museum Ludwig erfolgreiche kulturwie museumspolitische Überlegung, weil so bisher eher museumsferne Bevölkerungsteile zum Besuch neuer, sie interessierender Ausstellungstypen verlockt und auf diese Weise die in Frankreichs wie Deutschlands Provinzmuseen schwindenden Besucherzahlen gesteigert werden konnten. Ein weiterer wichtiger, wenn auch ‚konservativer‘ Gedanke betrifft speziell Crumb: „Le statut d’icône hippie de l’artiste et le contenu subversif de ses planches ont longtemps occulté la valeur inégalée de son dessin: sa souplesse rythmée, sa précision, sa capacité à donner corps à la moindre poussière ou goutte de sueur“ (26). Der in Frankreich aufgrund seiner BDs, Videos und Zeichentrickfilme, aber auch eines Films über sein Jugendidol Serge Gainsbourg v.a. bei jungen Menschen dieser Kultursphäre schon seit Jahren populäre Künstler Joann Sfar (geb. 28.08.71 in Nizza) kokettiert in seinem Text, der am Rande umgangssprachlicher Verständlichkeit balanciert (28sq.): „Pardon, je deviens inintelligible“ (29), hat aber zuvor schon ein sehr klares Bekenntnis abgelegt: „Il y a deux immenses dessinateurs auxquels je bois, chez qui j’ai appris: [der kürzlich verstorbene P. R.] Mœbius et Crumb“. Er wiederholt sein Bekenntnis zu diesen Vorbildern noch zwei weitere Male (ibid.) und befiehlt seinen Lesern: „Interdit de lire Crumb en français. Apprenez l’anglais [sic! ]“. Der Beitrag ist eine sympathisch-bewundernde Solidaritätsadresse für seinen großen amerikanischen Kollegen, wenn auch freilich nicht viel mehr. 136 Comptes rendus Ganz anders der des eigentlichen Ausstellungsmachers Sébastien Gokalb (30- 35), der dabei freilich aus drei soliden Quellen schöpfen kann: aus seiner überwältigenden Kenntnis von Crumbs Biografie und Werk, aus einem Netzwerk ihm bekannter und verfügbarer Querverbindungen in Crumbs in 50 Schaffensjahren stetem Wandel unterworfenem Milieu sowie schließlich aus einem soliden allgemein-, rechts-, sozial- und kulturgeschichtlichen Wissen über die USA seit den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts. Sein Text stellt dar, wie Crumb als schüchterndreister junger Mann die Werte der gesättigt-verlogenen US-Nachkriegsgesellschaft durch zunehmende Verarbeitung ihrer Pudenda (v. a. Rassismus, Waffenwahn und grundlose Gewalt, ‚Krieg der Geschlechter‘, Homophobie u. a.) in aberwitzige, anarchische, obszöne, häufig auch pornologisch-pornografische Geschichten einbettet, die oft tatsächlich oder fiktiv biografische Züge behaupten. Er berichtet, wie der Autodidakt alle in der US-Gesellschaft geltenden Stereotypen durchdekliniert und z. T. in von ihm geschaffenen ‚Stars‘ wie Mr. Natural oder Fritz the Cat inkarniert (31, rechte Spalte). Auch zieht Crumbs Bewunderung für die spezifischen Seiten jüdischen Humors, die Marx Brothers wie auch seine Zusammenarbeit mit jüdischen Kollegen und Freunden, besonders mit Harvey Kurtzman (Mad) und mit seiner zweiten Frau Aline Kominsky-Crumb, bald noch thematische Folgen nach sich, darunter sein auch im 2001-Verlag auf deutsch erschienenes Kafka-Buch, oder Selbsteinschätzungen als schmuck (sic! , 31, linke Sp., wohl fehlerhaft für den jiddischen Term schmock, „qui désigne un benêt“). Auch seine unzähligen selbstironischen Darstellungen als schwächelndes männliches Anhängsel einer physisch und psychisch starken Frau entspricht dieser Übernahme aus dem humoristischen Codex seiner jüdischen Frau und Freunde. Gokalbs Text ist m. E. der reichste des Katalogs, aber auch einer der besten der Crumb-Literatur, weil es ihm gelingt, die immense Fülle hier nicht referierbarer Fakten und vermeintlicher und / oder tatsächlicher Widersprüche in dessen Leben und Werk samt ihrem historischen Kontext in bewundernswerter Kürze zu formulieren. Todd Hignite, amerikanischer Herausgeber des international angesehenen US- Magazins Comic Art, liefert den Artikel: „The old switcheroo: R. Crumb et l’esthétique underground“ (36-39), in dem er zunächst Crumbs Anfänge unter Drogeneinfluss mit seinem älteren Bruder Charles (36) beleuchtet, den Autodidakten als „dessinateur des plus impressionants de l’art actuel“ einstuft und gleich auf derselben ersten Seite postuliert: „L’art de Crumb [ ] a initié la transformation du comic en une forme littéraire pour adultes“. Dieses inzwischen auch in Deutschland unter dem ‚denglischen‘ Term Graphic Novel arrivierte heutige Modegenre verfügt inzwischen über ein halbes Dutzend Fachverlage in den drei deutschsprachigen Ländern und wird von einer süddeutschen Tageszeitung in nicht eben bester Qualität massenweise nachgedruckt. Zurecht betont Hignite auch, dass Crumbs „personnage le plus durable, R. Crumb“ heiße (37, mittlere Sp.). Er zeigt, dass und wie es dem Künstler gelang, die Klischees der kommerziellen wie antikommerziellen Subkulturen Amerikas und alle inzwischen in Text und Bild von 137 Comptes rendus ihm erworbenen künstlerischen Mittel dialektisch darauf zu richten, „de déconstruire la machine de la culture dominante“ (39, linke Sp.). Eine seiner Stärken liege in Crumbs beharrlicher Weigerung, seine Arbeit zur „illustration d’aucune théorie en particulier“ verfügbar zu machen (38, rechte Sp.). Die in den 70er Jahren erfolgte und - auch nach der Emigration nach Frankreich - beibehaltene Wahl des Landlebens habe eine „dichotomie symbolique rural / urbain“ (ibid.) zur Folge gehabt und danach auch allmähliche Rückbesinnung auf familiäre und stark autobiografische Zusammenarbeit - jetzt mit Aline, die Hignite (38, rechte Sp.) als „pionnière du genre autobiographique“ charakterisiert. In Frankreich arbeite das Paar daran, „[d’]explor[er] leur nouvelle vie et leur nouvelle culture“ (39, linkemittlere Sp.). Sein Urteil über Crumb fasst Hignite zusammen: „Crumb est à la fois sociable d’un point de vue artistique et reclus d’un point de vue social, un héros underground et une icône de la culture pop, un Américain et un ex-patriote, un visionnaire et un champion du quotidien“ (39, mittlere-rechte Sp.). Jean-Pierre Mercier, einer der leitenden Mitarbeiter des CIBDI in Angoulême, betitelt seinen Text mit dem verkürzten Crumb-Zitat von 1970: „Des traits sur du papier“ (40-43), vollständig wiedergegeben und gedeutet von Gokalb (31, mittlere Sp.): „Que ce ne soient que des ‚des traits sur du papier‘ (‚And remember folks, it’s only lines on paper! ‘) l’affranchit de rendre compte de ses outrances“. Mercier setzt zu Beginn seines Beitrags den humorvoll-unernsten Selbstdarsteller Crumb und dessen viele Rollen ins Licht (40), beleuchtet dann seine widersprüchlichen und deshalb von Feministinnen hart kritisierten Phantasien über und Darstellungen von Frauen mit oder ohne den schwächelnd an ihnen hängenden Selbstdarsteller (41, linke-mittlere Sp.), fasst danach die über Jahrzehnte unbarmherzige Kritik am American Way of Life zusammen, der einhergehe mit einer fast militanten Nostalgie der USA der 20er und 30er Jahre mitsamt deren Jazz (41, mittlere-rechte Sp.). Religiöse Themen, so Mercier, durchzögen infolge einer repressiven katholischen Erziehung in der Kindheit Crumbs „en filigrane“ sein gesamtes Werk, um sich schließlich massiv in der Genèse-Illustration von 2009 zu manifestieren, von der „l’auteur confesse [ ] [de] ne pas croire au texte qu’il a illustré“ (41, rechte Sp. - 42, linke Sp.). Ein weiterer Themenkomplex von Dauer und Wichtigkeit seien auch in der eigenen Familie vorgefundene Formen des Wahnsinns, die sehr oft erotischsexuellen Ursprungs und mehrfach aus realen Biografien abgeleitet seien (42). Parallelen zu Kafkas von Selbsthass und -verlust bedrohten Wesen veranlassten wohl die Entstehung seines Kafka for Beginners (1993) (42-43). In Terry Zwigoffs Dokumentarfilm über die Familie Crumb von 1994 werde sichtbar, wie belastet v. a. die Mutter, aber auch Roberts Brüder Charles und Maxon sowie die Schwestern Carol und Sandra gewesen seien. Diese Familie(ngeschichte) ziehe sich bis heute durch das Werk, der älteste Bruder Charles habe überdies früh die besondere Rolle des Initiators dabei übernommen, seine vier Geschwister anzuhalten „de faire des bandes dessinées artisanales. Charles et Robert ont longtemps réalisé à quatre mains des comics animaliers“ (43, linke Sp.). Abschließend belegt Mercier 138 Comptes rendus mit mehreren Zitaten, dass und warum für Crumb „le dessin était le point d’ancrage de son existence“ (43, mittlere Sp.). Der Verlagsmitarbeiter Jean-Luc Fromental betreut bei Denoël die Domäne der Graphic Novels und hat dort drei Crumb-Titel publiziert, die er in seinem kurzen Beitrag u. d. T. „Paradis retrouvé“ (44-45) vorstellt und kommentiert. Die nicht signierte Chronologie erläutert zunächst (46 oben) ihre Quellen und ihren Aufbau und bietet dann auf den Seiten 46-49 einen biografischen Stichwortbericht mit wichtigen Lebens-, Publikations- und Ausstellungsdaten. Befriedigende, weil verstehende Betrachtung der fünf Bildbzw. Katalogteile „Crumb avant Crumb 1943-1966“ (50-65), „Underground 1967-1979“ (66-127), „Étrange Amérique 1980-2009“ (128-171), „Crumb par Crumb 1968-2012“ (172- 203) und „Crumb en France 1991-2012“ (204-227) wird dadurch verhindert, dass jegliche kontextuelle Erläuterungen zu den knappen Bildunterschriften fehlen. Die Publikationsquellen lassen sich zwar aus der „Liste des œuvres originales présentées dans l’exposition“ (224-234) entnehmen. Doch in der Undeutbarkeit vieler seiner Bilder liegt eine sehr gravierende Schwäche des so schön gestalteten Katalogs. Peter Ronge (Telgte) —————————————————— URSULA BÄHLER / PETER FRÖHLICHER / PATRICK LABARTHE / CHRISTINA VOGEL (ED.): FIGURATIONS DE LA VILLE-PALIMPSESTE, TÜBINGEN, NARR, 2012 (EDITION LENDEMAINS, 26), 149 S. Das Sujet der französischen bzw. französischsprachigen Stadt- oder Metropolenliteratur ist in den letzten Jahren in der romanistischen Forschung verschiedentlich behandelt worden. 1 Der im Anschluss an eine Sektion beim Essener Frankoromanisten-Kongress 2010 entstandene Sammelband macht die Metapher des Palimpsestes für eine Analyse französischsprachiger urbaner Literatur fruchtbar. Ausgangspunkt ist die These, dass die Stadt materielle Spur sozialer Praktiken, identitärer Prozesse und ästhetischer Diskurse zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, Auslöschung und Wiederfinden, Erinnerung und Vergessen ist. Anhand der ‚ville-palimpseste‘ lassen sich - so die Herausgeber - die historischen Transformationen unserer Kulturen, ihre Epochen, Mythen und Ideologien entziffern. Neben Metropolen wie Rom, Paris, Sankt Petersburg, Venedig und Berlin werden auch Städte wie Brügge, Bordeaux, Oran, Ribandon und Le Clézios „drei 1 Z. B. Roswitha Böhm / Stephanie Bung / Andrea Grewe (ed.), Observatoire de l’extrême contemporain. Studien zur französischsprachigen Gegenwartsliteratur, Tübingen, Narr, 2009; Franziska Sick (ed.), Stadtraum, Stadtlandschaft, Karte. Literarische Räume vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Tübingen, Narr, 2012; Ursula Hennigfeld (ed.), Nicht nur Paris. Metropolitane und urbane Räume in der französischsprachigen Literatur der Gegenwart, Bielefeld, transcript, 2012.