eJournals lendemains 39/156

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Narr Verlag Tübingen
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2014
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Veränderungen im Antlitz des Charles Baudelaire

2014
Paul Ridder
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119 AArts & Lettres Paul Ridder Veränderungen im Antlitz des Charles Baudelaire 1. Übereinstimmende Merkmale der Jugendporträts von Charles Baudelaire Man sieht ein bisher unbekanntes Jugendporträt des Dichters Charles Baudelaire (1821-67) im Alter von ca. 19 Jahren (Abb. 1). Der Künstler hat es auf industriell hergestellte Leinwand (20 x 25 cm) im Stil von J. A. D. Ingres um 1840 gemalt. Es stammt aus dem Nachlass eines Liebhabers französischer Malkunst des 18. / 19. Jahrhunderts und wurde vor einiger Zeit im Kunsthandel angeboten. Das Bild wurde nach zahlreichen Vorzeichnungen, wie man unter dem Mikroskop erkennt, auf die feuchte Grundierung, also nass-in-nass und folglich sehr rasch und sicher gearbeitet; alle Partien sind original wie aus einem Guss. Zu dieser Zeit beschäftigte sich Baudelaire intensiv mit der Porträtkunst. 1 Als reicher Erbe war er in der Lage, selber eines in Auftrag zu geben. Porträts galten als klassisches Mittel, sich in der Öffentlichkeit bekannt zu machen. Die Aura der Glanzlichter im Haar unterstreicht den Wunsch nach Idealisierung. Abb. 1: Charles Baudelaire ca. 1840, unbekannter frz. Meister 120 AArts & Lettres Wie weit stimmen die physiognomischen Einzelheiten des neu entdeckten Porträts mit den bereits bekannten Jugendbildnissen des Dichters überein? Überliefert ist ein Bildnis aus der Internatszeit (Abb. 2). Abb. 2: Charles Baudelaire, collégien, 1833/ 34 Ein anderer unbekannter Künstler zeichnete den jungen Mann, der bereits die ersten Sonette verfasst hatte, im Alter von etwa zwanzig Jahren um 1840 (Abb. 3). Bei der Beurteilung der gemeinsamen Merkmale sind nun allerdings Lichteinfall und Perspektive von schräg oben zu beachten, so dass die Ränder der Augenhöhlung (Augenbogen seitlich) sowie die Nase in Draufsicht ein wenig verflacht erscheinen. Man schaut dem Dichter direkt in die Augen und erkennt einen jungen Mann mit dem abschätzigen Blick des hochmütigen décadent. Zu dieser Zeit führte Charles Baudelaire in Paris das Leben eines Dandys, reich, verschwenderisch und ruhmsüchtig. An einer Heroisierung seiner Person war dem ehrgeizigen Jüngling aus großbürgerlichem Hause gewiss gelegen. Der Vergleich mit den Jugendbildnissen 2 zeigt übereinstimmende Merkmale: Die klare Stirn ist dem Porträt von E. Deroy, 1844 (Abb. 8, Nachzeichnungen), sehr ähnlich; sie bleibt knöchern gebildet auch in der Krankheit unverändert. Die Nasenwurzel ist breit auslaufend, sie geht mit edlem Schwung in eine kräftige Nasenform mit leichter Krümmung und verstärkter Endspitze über. Der aufgetupfte kleine Höcker auf der Nasenspitze wird das Charakteristikum in der Karikatur von Manet; 121 AArts & Lettres auch auf dem Bildnis von Courbet (Abb. 5) ist er deutlich zu erkennen. Die Nasenflügel zeigen die gleiche Wölbung wie auf anderen Bildern (Abb. 3). Der Mund schürzt sich sensibel, zunächst herzförmig, erst in späteren Jahren verzerrt. Die Lippen bilden die schwellende Wölbung der Jugend (Abb. 3, 4). Das Kissen einer vollen Unterlippe ruht ein wenig der Kinnpartie auf (am deutlichsten bei Courbet, Abb. 5) und wird überdeckt von dem flachen Schwung einer schmalen Oberlippe (cf. Gautier, Manet, Rodin). Übereinstimmend berichten die Porträts (Abb. 1-5) von einem der Augenwölbung folgenden, zarten Schwung der Augenlider. Unmittelbar über der Augenwölbung baut sich die charakteristische Form der Stirn (Abb. 1, 8, Nachzeichnungen) auf. Die klare Linienführung der Brauen zu weit ausschwingenden Augenbögen an Abb. 3: Charles Baudelaire ca. 20 Jahre alt, unbek. Künstler Abb. 4: Th. Gautier, Un Poète, 1854 1 122 AArts & Lettres den Schläfen überwölben ihre Höhlen mit ausladenden Rändern. Als Folge der Blickrichtung von schräg oben erscheint die Höhlung ein wenig verkürzt, der Maler hat sie daher - dem entstellenden Verlust entgegenwirkend - zusätzlich durch Schattierungen an den Seiten ein wenig hervorgehoben (Abb. 1). Die große, dunkle Pupille wird von einem nur schmalen Iris-Ring umfangen (Abb. 1-3), die vom Blauen zum Grünlichen changiert. Da der kleine Farbtupfer der Augeniris für den entfernten Betrachter kaum sichtbar wird, hat der Maler G. Courbet sie auf dem Gruppenbild zum Salon von 1846 (Abb. 5) zusätzlich in der blaugrünen Farbe des Halstuches angedeutet. Selbst in den nicht farbig, lediglich schwarz-weiß getönten Fotos und Zeichnungen aus der Jugendzeit wird am Auge eine helle (und keine dunkle) Iris erkennbar. Auf allen Porträts werden große, umschattete Augen abgebildet. In dem geheimnisvollen Schimmer des verträumten oder verklärten Blicks (Abb. 1) scheint der Maler eine Offenheit für Transzendenz anzudeuten, vielleicht auch Realitätsferne; sie erblicken die Welt poetisch verklärt. Denn der Blick eines Dichters richtet sich auf die Transzendenz der Welt, er sieht sie in Symbolen und fasst sie in sprachlichen Metaphern. Man müsse die Welt ‚poetisieren‘, forderte Novalis. Die Vielfältigkeit der Sinndeutungen, die den Symbolen zugeschrieben wird, mag uns verwirren, aber in der Ambivalenz zwischen Realität und Transzendenz verzaubert sie uns durch einen geheimnisvollen Schimmer. Diese Ansicht vertritt Jean Paul in „Die geheimnisvolle Loge“. 3 Der schimmernde Blick der dargestellten Person lässt Abb. 5: G. Courbet, Charles Baudelaire in einem Entwurfsausschnitt zum Salon von 1846 123 AArts & Lettres uns die Transzendenz der Welt erahnen; er nimmt die verborgenen Geheimnisse der Welt auf, strahlt einen entlehnten Glanz aus und schildert die Paradiese des Poeten. Schon der Blick des jungen Mannes deutet also auf einen Poeten hin, aber wie erzeugt der Maler technisch jenen Schimmer? Ein Auge erscheint dem Künstler nicht nur als biologisches Sehorgan. Das Auge, umringt von Wimpern und Brauen, ist für ihn ein Fenster zur Seele, die er gern darstellen möchte. Bereits durch die Stellung der Augen, die nicht wie gewöhnlich parallel in die Ferne gerichtet sind, sondern ganz leicht divergieren, weist er auf einen irrealen Bezugspunkt hin. In zahlreichen, unter dem Mikroskop erkennbaren Vorzeichnungen hat sich der Maler zusätzlich die Voraussetzungen geschaffen, um diverse Malschichten gegen die Konturen der Vorzeichnung auszuspielen. Die sichtbaren Konturen werden, wie eine genaue Nachprüfung lehrt, nicht zeichnerisch, sondern rein malerisch durch Farbnuancen erzeugt: Konturen sind für uns nicht scharf erkennbar, sie werden vielmehr sehr weich als feinste Übergänge gemalt. Aber damit nicht genug, vollendet ein zarter bläulicher Rauchschleier das seit der Renaisssance hoch geschätzte, aber nur von wenigen beherrschte sfumato ! Bei der dargestellten Person scheint es sich tatsächlich um einen Poeten zu handeln, der obendrein noch die Züge des jungen Charles trägt. Eine maltechnisch nicht unbedeutende Einzelheit ist die Gesichtsfarbe (Abb. 1, 5): In den Jugendbildern überfliegt großflächig eine pfirsichfarbene Rötung die Wangen. Der Freund E. Delacroix schreibt dazu in einem Tagebucheintrag, Paris, 11. Okt. 1852: „... Falls die Fleischfarben rot oder violett sind und die Glanzlichter ebenfalls, gibt es keine Gegensätze; es herrscht Tonalität. Wenn also auch die Halbtöne violett sind, wie es ein bisschen meine Gewohnheit ist, muss notwendigerweise alles ins Rote spielen. Dann ist es aber unerlässlich, dass man den Halbtönen mehr Grün beimischt. ... Grün ist in jedem Reflex vorhanden. Violett in jedem Schattenrand“ (Paris, 13. Jan. 1857). „Es gibt eigentlich keine Schatten. Es gibt nur Reflexe. Wichtig ist die Abgrenzung der Schatten. .... Je jünger das Modell ist, desto lichter die Schatten“ (Paris, 11. Jan. 1857). Diese Forderungen werden in dem aufgefundenen Bild vollständig erfüllt. Die Gesichtsform ist oval wie in den frühen Bildnissen (Abb. 1-4) mit einer ausgeprägten Schläfe, die von dem fülligen Seitenhaar über den fuchsartig angeschnitten Ohren, der verschatteten Wange sowie den Farblichtern von dunkel (unten) zu hell (oben) noch betont wird. Das Bild Baudelaire collégien (Photo von 1833-34) zeigt ebenfalls ein spitz zulaufendes Kinn in einem ovalen Gesichtsschnitt. Übereinstimmend werden, von gewelltem Haar überfangen, schmal angeschnittene Ohrmuscheln, wie man es von den Fuchsohren antiker Faune kennt, angedeutet. Der Ohrenansatz befindet sich an gleicher Stelle wie bei den anerkannten Porträts mit überfallendem Haarschopf, so dass das Untergesicht optisch ein wenig verlängert wird. Die Haare weisen die gleiche gewellte Frisur auf wie in Abb. 3; in dem Porträt von Th. Gautier, als der Dichter noch namenlos war (Un Poète, Abb. 4), mit dem gleichen ungebärdigen Lockengewirr. Kräusellocken zeigen 124 AArts & Lettres die Zeichnung Gautiers, aber auch der ‚Haarstand‘ wie bei dem zweiten Jugendbildnis im Alter von ca. 20 Jahren. Die Ähnlichkeit von Gesichtsform und Augenpartie ist bei diesem Porträt besonders deutlich. In diesen frühen Bildnissen stimmen offensichtlich die physiognomischen Merkmale perfekt überein. Der Vergleich legt infolgedessen den Schluss nahe, dass es sich bei dem neu entdeckten Porträt (Abb. 1) um ein Bildnis des Charles Baudelaire handelt. In einem Briefe, geschrieben zur Zeit ihres Umzugs nach Paris, führte Baudelaire Klage gegen seine Mutter, weil sie bei der Auflösung des väterlichen Haushalts sein Jugendporträt an einen Trödler verkauft hatte. Ein bisher unbekanntes Porträt hat also tatsächlich existiert. Können die Jugendbildnisse demnach zum Maßstab für ein bisher unbekanntes Porträt des Dichters (um 1840) werden, so scheinen die biographisch älteren Porträts für den jungen Dichter hingegen untypisch und als Vergleichsmaßstab ungeeignet zu sein. 2. Die Wende im Leben des Charles Baudelaire nach dem Abitur um 1840 Gewisse Veränderungen des jugendlichen Antlitzes treten normalerweise in jeder Entwicklung des Heranwachsenden auf; sie erscheinen erst recht, als Baudelaire in Paris das Leben eines Dandy aufnimmt, an Sucht (Haschisch, Opium, Alkohol), sogar Syphilis erkrankt und ärztlich behandelt wird. Die Symptome dieser Krankheiten oder ihrer Behandlung zeigen sich unvermeidlich in Veränderungen seines Äußeren. Welche sind es? Seit der Antike, seit dem Rat des Platon (theia mania), hatten Dichter versucht, sich mit Hilfe von Opium neue Erlebnisdimensionen zu erschließen. 4 Goethe genoss es, schöne Träume mit blumigen Bildern zu erleben und sie in seine Poesie hinüberzuretten; stand dem irrationalen Effekt jedoch stets skeptisch gegenüber. Die Sehnsucht nach Einheit und Ganzheit im Drogenrausch verlockte jedoch die Romantiker unterstützt von der romantischen Medizin (Brownianismus) zum Griff nach dem Laudanum. 5 Im Gefolge der romantischen Bewegung veröffentlichte der englische Literat Thomas de Quincey 1804 die Bekenntnisse eines englischen Opiumessers und verfasste ebenso wie der Romantiker Coleridge 1822 ein Lob des Opiumrausches. E. T. A. Hoffmann, E. A. Poe, H. Heine, Th. Gautier. A. Rimbaud und Charles Baudelaire haben den Verlockungen des Rauschgifts zu künstlichen Paradiesen nur allzu gern Glauben geschenkt - aber auch dafür bezahlt. Die letzten Verse aus Charles Baudelaires Fleurs du mal enthalten als Testament des Dichters eine Apologie des Opiums: „Ô Mort [ ] Verse-nous ton poison pour qu’il nous réconforte! / Nous voulons, tant ce feu nous brûle le cerveau. / Plonger au fond du gouffre, Enfer ou Ciel, qu’importe? / Au fond de l’Inconnu pour trouver du nouveau ! “ 125 AArts & Lettres 3. Krankheitssymptome (Pathogramm) Die Symptome der Sucht, aber auch der Syphilis drücken sich im Antlitz aus, sie müssen in den Porträts des Dichters nachweisbar sein, beispielsweise die Verkrampfungen als Folge des Opiumgenusses. 6 Die genaue Zuordnung wird freilich erschwert, wenn die Symptome interferieren oder sich überlagern. Zusätzlich zu den Veränderungen infolge von Krankheit tritt die Nebenwirkung der Verabreichung von Quecksilberpräparaten in der Syphilistherapie. Die Folgen der diversen, gleichzeitig auftretenden Krankheiten zusammengenommen bedingen, dass das Krankheitsbild von Charles Baudelaire „immer rätselhaft bleiben“ wird. 7 Die Krankheitssymptome auf den Porträts allgemein sind Schwellungen, Aufgedunsenheit, Verkrampfungen, Verlust der Haare, Zähne, Wimpern, Fingernägel. Depressiver, hochmütiger, übersensibler, schüchterner Gesichtsausdruck. 4. Krankheitsgeschichte (Pathographie) Auf allen Bildnissen ist ein leidender, verbitterter Ausdruck zu erkennen, Missstimmung, mit zunehmendem Alter missmutiges Herunterziehen der Mundwinkel; teigige, aufgedunsene Gesichtszüge (Alkohol); Lähmungserscheinungen infolge Opiumsucht und Quecksilberbehandlung; Erstarrung der Mimik, Augenmuskellähmungen, frühzeitiger Gebrauch des Gehstocks plagen den poète maudit. Nach 1839 begann sich ein Gesundheitszustand unter der Einwirkung einer Syphilis, des Alkohols und des Opiums (zudem) progressiv zu verschlechtern. Dabei kommt man zu vier symptomatischen Kategorien innerhalb der Krankheitsgeschichte: 1. Ein Angegriffenwerden von Haut- und Schleimhäuten (1839-1850) 2. Beschwerden in den Eingeweiden (von 1847 an) 3. neuro-psychisch Erscheinungen (von 1854 an) 4. Hemiplegie und Aphasie (1866) Obwohl diese Störungen scheinbar chronologisch auftreten, überschneiden sie sich alsbald und spiegeln ein mehrschichtiges Bild toxischen und infektiösen Ursprungs. 8 Im Frühjahr 1841 beginnt der Weg des Verfalls mit „Syphilis und von 1860-1865 psychoasthenische Symptome[n] - bei erhaltenen intellektuellen Fähigkeiten, obwohl sich Baudelaire subjektiv geistig krank fühlte“. Der Maler Emile Deroy zeichnet bereits 1844 den jungen Mann sichtlich vorgealtert. „Mit dreißig Jahren war der Dichter körperlich erschöpft.“ 9 Der zunehmende Verfall wird im Laufe der Jahre immer stärker von der Syphilis, insbesondere ihrer zerstörerischen Spätform (tertiäre S., tabes dorsalis nach 6 Monaten, meist jedoch 3 bis 4 Jahren, aber auch bis zu 10 Jahren) dominiert. Die Paralyse entführt ihre Opfer zuweilen, lange ehe sie sich demaskiert, in die Euphorie, verrückt Maßstäbe und steigert das Denken ins Phantastische. Die tertiäre Syphilis und ihre Therapie mittels Quecksilber fallen am schwersten ins Gewicht, denn sie schädigen das Nervensystem. 126 AArts & Lettres Blickt man in die Galerie seiner Porträts, drängt sich die Frage auf: Wo ist Charles Baudelaire denn überhaupt noch zu sehen? Wer ist es? Die Porträts im Zustand normaler Physiognomie jedenfalls liegen zeitlich vor (! ) dem Jahre 1841. Dies ist folglich der Zeitraum, der bei der Zuordnung eines Jugendporträts zum Vergleich heranzuziehen ist. Das Porträt von E. Deroy aus dem Jahr 1844 jedenfalls kann als Vergleichsstandard nur begrenzt herangezogen werden. 5. Nebenwirkungen der Syphilis-Therapie mit Quecksilber Der Verlauf einer akuten Quecksilbervergiftung setzt ein mit einer Gastro-Enteritis, gefolgt von einem Nierenversagen (Polyurie, Oligurie, Anurie, Urämie) und in der dritten Phase eine von heftigsten Koliken begleitete Colitis mucomembranacea. Die zeitliche Abfolge der Organschäden und Symptome einer akuten Quecksilbervergiftung in Wochen zeigt folgende Graphik: Bei der chronischen Quecksilbervergiftung hingegen steht eine Stomatitis im Vordergrund. Das Lockern und anschließende Ausfallen der Zähne führen zu typischen Veränderungen in der Form des Gesichts, vornehmlich Verzerrungen der Mundpartie, wie man es von alten Leuten kennt. Der zahnlose Kiefer spielt auch in den Schriften des Dichters eine Rolle. Auf allen Karikaturen, vor allem den zahlreichen Selbstbildnissen, die er in dieser Zeit - wohl zu seiner Selbstvergewisserung - zeichnet, zieht sich der Mund in seine Höhle zurück. Dank des eingefallenen Mundes erscheint die Mundpartie nun optisch „breiter“, wie umgekehrt eine „Verlängerung“ durch die Zähne sie optisch schmaler wirken ließe. Ein weiteres Symptom der chronischen Quecksilbervergiftung ist eine Parotisschwellung (Ohr-Speicheldrüsen): Die seitlichen Gesichtswangen werden infolgedessen dicker, das Gesicht breiter. Auf dem Porträt von E. Deroy, 1844 werden die angeschwollenen Hamsterbacken nur notdürftig kaschiert durch die Camouflage Abb. 6: Zeitliche Aufeinanderfolge der Symptome einer akuten Quecksilbervergiftung 127 AArts & Lettres eines Bartwuchses, den Baudelaire nur zu dieser Zeit trug sowie durch die in die Wange angelegte linke Hand. Die Parotisschwellung, die Folgen des Zahnverlustes und der Kinnbart zusammengenommen verändern die Gesichtsform massiv; Abb. 7: Charles Baudelaire, Selbstbildnis, ca. 1848 Abb. 8: E. Deroy, Charles Baudelaire, 1844 128 AArts & Lettres sie stauchen nämlich das ovale Gesicht zusammen wie sie es rein optisch in die Breite dehnen. Hautveränderungen setzen ein, eine aschfahle, gräulich-kalkige Haut mit Schwellungen fallen dem Betrachter auf. Hinzu kommt das Ausfallen der Haare (Abb. 5), aber auch das Ausfallen der Fingernägel (rechter Zeigefinger, Abb. 8). Um das von Fingernägeln entblößte Nagelbett zu zeigen, lässt der Maler die dargestellte Person den Zeigefinger über der Armlehne vorstrecken. Ähnlich wie er die zahnlosen Kiefer hinter einem zusammengepressten Mund versteckt, so verbirgt er auf den Fotos (Nadar) die Fingerkuppen in der geballten Faust oder den Tremor seiner Hand hinter dem Rockaufschlag. Das Ausdünnen der Augenbrauen, noch mehr aber das Ausfallen der Wimpern hinterlässt nackte Augenlider, die unter der Lähmung der Augenmuskulatur einen bohrenden Basiliskenblick entlassen. Außer der Parotisschwellung treten auch andere Drüsenschwellungen auf, vor allem an Auge (Augenränder, Tränendrüsen), Nase (Nasenrücken) und Mundspeicheldrüsen (untere Mundpartie). Eine Veränderung der Physiologie des Mundes mit vermehrtem Speichelfluss kommt hinzu. Die bereits erwähnte Stomatitis (Erkrankung des Zahnfleisches, Schwellungen) und Gingivitis (Zahnfleischentzündung), ein Schwarzer Saum am Zahnfleisch-Rand treten auf, die Zähne lockern sich und fallen schließlich aus. Beim Posieren für das Malen oder Fotografieren werden die Lippen zusammengepresst. Ein Lachen, das die Misere seines Mundes offenbart hätte, ist auf den zahlreichen Bildnissen Baudelaires nirgends zu erkennen. Hauptmanifestationsort aber ist das Zentralnervensystem (ZNS). Vor allem in den motorischen Zentren des Gehirns bilden sich Entzündungen mit der Folge eines feinschlägigen Intentionstremors. Lähmungen und Verkrampfungen der Muskulatur, die bereits aus der Opiumsucht präsent sind, werden verstärkt. Sie sind für das starre Bild der Augen verantwortlich, für die herabgezogenen Mundwinkel, die Verdrehung der Rumpfmuskulatur, die verkrampften, fast verkrüppelten Hände (Abb. 8). Auch einige psychische Veränderungen sind auf den Porträts zu erahnen: Reizbarkeit, Schlaflosigkeit und Angstgefühle. Selbst Sprachstörungen, Konzentrations- und Erinnerungsschwäche bleiben dem Dichter nicht erspart; er fühlt sich gehetzt, sein Zeiterleben verändert sich, er ist unentschlossen und depressiv (Erethismus mercurialis); er flieht die menschliche Gesellschaft, nicht nur seine Gläubiger. Eine besonders auffallende Veränderung tritt an den Augen auf. Eine Ablagerung von Quecksilber drückt sich in einer hellbis dunkelrotbraunen Verfärbung der vorderen Augenlinsenkapsel (mercuria lentis) aus. Die Farbveränderung der Augen-Iris setzt nach ca. 5-6 Jahren ein, sie ist irreversibel! 10 Der Maler E. Deroy (Abb. 8) hat die iatrogen rotbraune Augenfärbung zur Grundfarbe seines Porträts gewählt, das sich dem Genre des ecce homo zu nähern scheint. 129 AArts & Lettres 6. Schlussfolgerungen Insgesamt fügen sich die vielen Mosaiksteinchen der Evidenz zu einem einheitlichen Eindruck, der eine Zuschreibung des aufgefundenen Porträts zu Charles Baudelaire rechtfertigt und dem Dichter Gerechtigkeit widerfahren lässt. Die Porträts von Charles Baudelaire nach seiner Erkrankung im Alter von ca. 21 Jahren erlauben nur einen eingeschränkten Blick auf den Menschen; sie vermitteln nicht den lebensechten Eindruck, den wir uns von einem Gesunden machen dürfen. Zwischen den pathographischen Porträts und den Jugendbildnissen ist das wahre Bild des Charles Baudelaire zu interpolieren. Das bisher unbekannte Porträt aus der Zeit um 1840 (Abb. 1) kann dabei behilflich sein. 11 Abbildungen: Abb. 1: Anon.: Charles Baudelaire ca. 1840, Privatbesitz, © www.artothek.de. Abb. 2: Anon.: Charles Baudelaire, collégien, 1833/ 34 (aus: Jean-Paul Avice / Claude Pichois, Passion Baudelaire. L’ivresse des images, Paris, Textuel, 2003, 8). Abb. 3: Anon.: Charles Baudelaire ca. 20 Jahre alt (aus: Pascal Pia, Charles Baudelaire in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Hamburg, Rowohlt, 1972, 10). Abb. 4: Théophile Gautier: Un poète (aus: Pascal Pia, op. cit., 97). Abb. 5: Gustave Courbet: Charles Baudelaire, 1848/ 49 (Detail), Wikimedia Commons. Abb. 6: Zeitliche Aufeinanderfolge der Symptome einer akuten Quecksilbervergiftung (aus: Wolfgang Forth / Dietrich Henschler / Walter Rummel, Allgemeine und spezielle Pharmakologie und Toxikologie, 8. Auflage, München, Urban & Fischer, 2001, 1046). Abb. 7: Charles Baudelaire: Selbstbildnis, ca. 1848, Wikimedia Commons. Abb. 8: E. Deroy: Charles Baudelaire, 1844, Wikimedia Commons. 1 Cf. Charles Baudelaire, Der Künstler und das moderne Leben. Essay, „Salons“, intime Tagebücher, ed. Henry Schumann, Leipzig, Reclam, 1990, darin „Vom Porträt“, 90sqq. 2 Baudelaire collégien, Abb. 2; die ausgeprägten Augenbögen zeigt auch das Selbstbildnis aus der Zeit um 1848 (cf. Jean-Paul Avice / Claude Pichois, Passion Baudelaire. L’ivresse des images, Paris, Textuel, 2003, 60). 3 Jean Paul, Werke, Bd.1, München, Hanser, 1960, 235sqq. 4 Über den exzessiven Opium Konsum in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und seine poesie-anregende Bedeutung bei den poètes maudits, auch in den Fleurs du Mal, cf. Paul Ridder, Gesund mit Goethe. Die Geburt der Medizin aus dem Geist der Poesie, Münster, Lit, 1995, 285sqq. 5 Cf. ibid. 6 Eine neuere Pathographie Süchte von Charles Baudelaire („Kadaver in Kleidern“) liefert Frank Hilton, Baudelaire in Chains. A Portrait of the Artist as a Drug Addict, London / Chester Springs, Peter Owen, 2004. Das allgemeine Pathogramm, allerdings ohne speziellen Bezug zu den Porträts, stellt aus psychiatrischer Sicht Wilhelm Lange- Eichbaum dar, in: id., Genie, Irrsinn und Ruhm, 7. Auflage, ed. Wolfgang Ritter, zuerst 1927, zit. nach www.lamergelee.com/ simultane/ simult_0034.php (21.01.15). 7 Lange-Eichbaum, op. cit. 8 Ibid. 130 AArts & Lettres 9 Ibid. 10 Forth et al. (ed.), op. cit., 1024, 1047. 11 Vorgetragen wurden medizinische und biographische Gründe als Erklärung für Veränderungen in der Portrait-Darstellung Baudelaires. Mögliche andere Erklärungen sind klar auszuschließen. Eine Malschule, die einen Gesunden kontrafaktisch als schwerkrank darzustellen pflegte, ist nicht bekannt. Traditionell lautete die Erwartung an den Maler wohl eher nach einer mehr oder weniger schmeichelhaften Darstellung. Aus dem gleichen Grunde erscheint auch eine Stilisierung des jungen Dichters als poète maudit nicht sehr wahrscheinlich. Baudelaire war vermutlich ebenso ehrgeizig wie eitel und hätte eine wenig vertrauenerweckende, um nicht zu sagen angsterregende Präsentation als benachteiligend empfunden. Welchen Vorteil hätte sie ihm einbringen können, nachdem diese Mode ihren Zenit schon überschritten hatte? Nein, mit den Veränderungen in seinem Aussehen, dem Haarausfall, dem Zahnverlust und den Lymphdrüsen- Schwellungen in seinem Gesicht setzte er sich stark beunruhigt in zahlreichen selbstangefertigten Skizzen vor dem Spiegel auseinander. Die Beschäftigung mit seinem Aussehen und dem Wandel seiner persönlichen Identität, die damit verbunden war, in der Zeit der öffentlichen Manifestation seiner Krankheit stammte nicht aus einem gattungsgeschichtlichen Wandel in der Porträtmalerei, sondern aus persönlichem Leiden aufgrund körperlicher Veränderungen im Sinne medizinischer Pathologie, die ihm als solche auch bekannt waren. Man benötigte zahlreiche, starke, zusätzliche Annahmen, um andere als medizinische oder biographische Erklärungen für eine Veränderung in der visuellen Darstellung Baudelaires zuzulassen. Für solche Annahmen gibt es aber keinen Anlass, man darf daher vernünftigerweise von der oben vorgetragenen Erklärung ausgehen.